In einer vielfach «historisch» genannten Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht das deutsche Klimaschutzgesetz kritisiert. Die NGO Greenpeace hat eine der vier Verfassungsbeschwerden gegen die deutsche Bundesregierung unterstützt. Was macht die Entscheidung zu einer historischen? Warum gilt es als eines der weitreichendsten Urteile weltweit? Dazu haben wir mit der Greenpeace-Kampaignerin Lisa Göldner gesprochen.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gilt vielen als historisch. Wie fühlt man sich nach solch einem Sieg?
Für mich ist der Beschluss des Gerichts einfach überwältigend. Ich war überrascht, wie weitreichend er ausgefallen ist. Diese Gerichtsentscheidung ist ein Erfolg der gesamten Klimabewegung. Dass es sich die Richter*innen trauen konnten, solch eine Entscheidung zu fällen, war nur möglich in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Klimaschutz weit oben auf der Agenda ist.
Warum ist das Urteil historisch? Woran macht sich das konkret fest?
Der Gerichtsbeschlussenthält mehrere Punkte. Erstens erkennt das Bundesverfassungsgericht darin an, dass die Klimakrise menschengemacht ist und sie potenziell katastrophale Auswirkungen auf zukünftige Generationen hat. Zweitens stellt es fest, dass Klimaschutz Menschenrecht ist. Das heißt, Artikel 20a des Grundgesetzes, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, wird so ausgelegt, dass er sich auch auf den Klimawandel bezieht. Damit wird Artikel 20a massiv gestärkt. Und drittens – und das ist das wirklich Besondere an dieser Klage – wurde das Grundgesetz generationengerecht ausgelegt. Dem Beschluss zufolge greift der Gesetzgeber in die Freiheitsrechte der kommenden Generationen ein, weil das deutsche Treibhausgas-Budget nach dem jetzigen Klimaschutzgesetz bis 2030 weitgehend aufgebraucht sein wird. Das führt dazu, so die Argumentation des Gerichts, dass danach so drastische Maßnahmen notwendig wären, um die Emissionen zu senken, dass die kommenden Generationen sehr viel weniger Handlungsoptionen hätten. Mit anderen Worten: Die heutige Generation greift in die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen ein, indem sie sich in dieser Dekade zu viele Treibhausgasemissionen zugesteht. Dass das höchste deutsche Gericht das anerkennt, ist wirklich bahnbrechend.
Was war der genaue Gegenstand der Klimaklage?
Mit seiner Entscheidung reagierte des Bundesverfassungsgericht auf vier Verfassungsbeschwerden, die unter anderem von den Nichtregierungsorganisationen Greenpeace, Germanwatch, der Deutschen Umwelthilfe und dem BUND unterstützt wurden. In der Klage, die Greenpeace unterstützt hat, haben sieben Jugendliche ihr Recht auf Zukunft sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie das Recht auf die freie Wahl des Berufs eingeklagt. Sie argumentierten, dass das Klimaschutzgesetz des Bundes und das darin enthaltene Emissionssenkungsziel bis 2030 ihre Rechte nicht ausreichend schütze und deshalb verfassungswidrig sei. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Argumentation gefolgt, so dass die Bundesregierung das Klimaschutzgesetz inzwischen überarbeiten musste. Jedoch garantiert auch die überarbeitete Fassung des Gesetzes keinen auch nur ansatzweise ausreichenden Schutz, weil noch immer ein Großteil des Deutschland zur Verfügung stehenden Treibhausgasbudgets vor 2030 aufgebraucht wäre.
Damit folgt das Gericht im Prinzip der Argumentation von Fridays For Future «Ihr klaut uns die Zukunft!». Habt Ihr damit gerechnet, dass dies die tragende Argumentation sein wird?
Der Schutz der Freiheitsrechte zukünftiger Generationen war das Kernargument unserer Klageschrift. Wir haben argumentiert, dass man Klimaschutz nicht immer wieder auf später verschieben darf, weil das jungen Menschen, wie den neun Kläger*innen unserer Verfassungsbeschwerde, jede Handlungsoption in der Zukunft nehmen würde. Dass das Gericht dem so weit gefolgt ist, ist großartig. Damit ist der Beschlussaus Deutschland eines der weitreichendsten Gerichtsurteile zum Klimaschutz weltweit.
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nur beanstandet, dass der Klimaschutzpfad für die Zeit nach 2030 im Klimaschutzgesetzes zu unbestimmt ist. Zu den Vorgaben vor 2030 sagt es nichts. Warum nicht?
Das Bundesverfassungsgericht sagt zum einen, dass es einen schlüssigen Reduktionspfad hin zur Treibhausgasneutralität in Deutschland braucht. Es reicht dem Beschluss zufolge nicht aus, im Klimaschutzgesetz nur ein Ziel für 2030 zu verankern. Es braucht einen verbindlichen Fahrplan, wie Deutschland seine Emissionen auf null reduzieren wird. Zum anderen sagt das Gericht, dass diese Treibhausgasneutralität schnell kommen muss und nicht auf Kosten zukünftiger Generationen erreicht werden darf. Hierfür zieht es in seiner Argumentation das Treibhausgas-Budget heran. Zwar schreibt das Gericht nicht vor, dass und in welcher Höhe ein Budget festgelegt werden muss, aber es sagt, dass es eine generationengerechte Verteilung der Klimaschutz-Lasten braucht. Und davon leitet sich auch ganz klar ab, dass das Ziel für 2030 nachgeschärft werden muss. Denn mit dem jetzigen Klimaziel ist das Budget bis 2030 ja schon so gut wie aufgebraucht.
Und warum macht das Bundesverfassungsgericht zwar Klimaneutralität einklagbar, nicht aber ein ganz konkretes Restbudget für Deutschland?
Zwar diskutiert der Beschluss die Budgetberechnungen des Weltklimarates und des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU), legt aber kein Restbudget fest. Mehr hat sich das Gericht offensichtlich am Ende nicht getraut, weil dies ja eine hochpolitische Frage ist: Wie hoch ist das Budget überhaupt? Und wie wird es gerecht zwischen den Ländern aufgeteilt?
Entwertet dies das Urteil aus deiner Sicht?
Ich hätte mir gewünscht, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber vorschreibt, ein Budget festzulegen, von dem dann die Klimaziele abgeleitet werden müssen. Aber da es sich hierbei um hochpolitische Fragen handelt, ist es im Sinne der Gewaltenteilung auch vollkommen okay, die Beantwortung der Wie-Frage dem politischen Wettstreit zu überlassen. Aus meiner Sicht entwertet dies die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Die Gerichte kontrollieren den Gesetzgeber, aber sie können nur bis zu einem bestimmten Punkt vorschreiben, was genau getan werden muss.
Lisa Göldner ist Klima-Kampaignerin bei Greenpeace Deutschland. Sie arbeitet zur nationalen, europäischen und internationalen Klimapolitik und hat eine der erfolgreichen Klimaklagen mit-initiiert und begleitet.
Sollte die Bundesregierung für den Zeitraum bis 2030 zu geringe Emissionssenkungen planen, könnten aufgrund des jetzigen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts Folgeklagen leichter Erfolg haben? Und hat dieses Drohpotential vielleicht auch eine präventive Wirkung auf die Politik?
Zunächst einmal zeigt der aktuelle Gerichtsbeschluss, dass Klimaklagen wirklich funktionieren. Bislang sind etliche Klimaklagen weltweit bereits an der Zulassung gescheitert. Die Gerichte waren oftmals der Ansicht, dass die jeweiligen Kläger*innen nicht berechtigt waren zu klagen, oder die Gerichte haben sich als nicht zuständig gesehen. Diese Hürde konnten wir bei der jetzigen Klage quasi einfach überspringen. Damit baut der Beschluss gewissermaßen auf dem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts von 2019 auf, das ebenfalls auf eine Klage von Greenpeace erfolgt war. Das Gericht hatte damals bereits festgestellt: Klimaschutz ist justiziabel, man kann vor Gerichte ziehen, um ihn zu erstreiten. Und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat ja eine ganz unmittelbare Konsequenz. Es schreibt dem Gesetzgeber die Überarbeitung des Klimaschutzgesetzes vor, weil es in Teilen verfassungswidrig ist. Klimaschutz ist kein Gefallen, sondern Aufgabe des Gesetzgebers, der sich hierbei – auch das sagen die Richter*innen – am Stand der Wissenschaft orientieren muss.
Darüber hinaus sorgen solche Klimaklagen aber auch dafür, dass sich die gesellschaftliche Debatte insgesamt weiterentwickelt. Es ist ja wirklich beeindruckend, in welchem Wahnsinnstempo die Große Koalition auf die Entscheidung des Gerichts reagiert hat. Und wir reden jetzt ganz anders über Klimaschutz als Menschenrecht und über den Zusammenhang von Klimaschutz und Freiheit. Ich glaube zwar, dass es sehr schwierig ist, den Beschluss heranzuziehen, um ganz konkrete Maßnahmen wie etwa den Stopp eines einzelnen Autobahnprojektes zu erstreiten. Aber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ein wichtiger Baustein in einem Konzert aus sehr vielen unterschiedlichen Aktivitäten und Protestformen der Klimabewegung.
Gilt das auch international? Inwiefern hat das Urteil Auswirkungen auf die Klimaklagen in anderen Ländern?
Das Ziel einer Klimaklage ist natürlich erstmal der unmittelbare Erfolg der Klage vor Gericht. Aber es geht immer auch darum, Recht weiterzuentwickeln, und zwar international. Deshalb finden solche Klimaklagen nie unabhängig voneinander statt, sondern sind strategisch aufeinander abgestimmt. In dem einen Verfahren wird die Argumentation aus einem anderen Verfahren herangezogen. Gerichte schauen sehr genau, wie andere Richter*innen in anderen Ländern entschieden haben und beziehen sich darauf. Zum Beispiel haben wir bei der Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht direkt auf das Urteil zur erfolgreichen Urgenda-Klage in den Niederlanden verwiesen. Das Berliner Verwaltungsgericht hätte ja nur schwer zu dem Schluss kommen können, dass das höchste niederländische Gericht falsch entschieden hat. Es war klar, dass sie ebenfalls anerkennen mussten, dass die Klimakrise Grundrechte verletzen kann.
Aufbauend auf diesem Urteil konnten wir dann die Verfassungsbeschwerde auf den Weg bringen [, weil da bereits von einem deutschen Gericht anerkannt war, dass man für mehr Klimaschutz vor Gericht ziehen kann und dass Grundrechte grundsätzlich durch die Folgen der Klimakrise verletzt werden können.] Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts war also nur möglich dank unserer vorherigen Klimaklage und weil es in anderen Ländern bereits so viele Urteile gab. Nun wiederum kann die generationengerechte Auslegung des Grundgesetzes international zur Vorlage werden. Das ist reine Grundrechtsdogmatik, die sich auf Länder, die Menschenrechte anerkennen, übertragen lässt. Zum Beispiel sind ähnliche Klage aktuell noch in Tschechien und Südkorea anhängig.
Wenn das Urteil dazu führt, das die einzelnen Sektoren, wie die Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr etc. über das Klimagesetz in einen sehr viel ambitionierteren Pfad bis zur angestrebten Klimaneutralität gepresst werden müssen, könnte dies nicht auch ein Beitrag für Degrowth sein?
Aus diesem Gerichtsbeschluss lässt sich das nicht unmittelbar ableiten. Es ist aber einleuchtend, dass wir die aktuelle Art, wie wir leben und wirtschaften, nicht eins zu eins auf «grün» umstellen können. Es braucht weniger Konsum, es braucht Degrowth, damit man überhaupt zur Klimaneutralität kommen kann. Wir benötigen beispielsweise eine völlig andere Form der Mobilität. Wir können die aktuelle Menge an zugelassenen PKW mit Verbrennungsmotor nicht einfach durch E-Autos ersetzen. Denn dann wären allein für die Produktion des erneuerbaren Stroms für unsere Autos gigantische Flächen notwendig. Es braucht also weniger Autos auf unseren Straßen und mehr gemeinschaftlich genutzte Verkehrsmittel.
Das Urteil ist zweifellos ein Sieg für die Klimaschutzbewegung. Gleichzeitig ist mit dessen Umsetzung jedoch eine Verschärfung von sozialen Konflikten zu rechnen, wenn nicht endlich grundlegende Probleme angegangen werden.
Um eine klimaneutrale Gesellschaft zu schaffen, ist ein großer Umbau der Wirtschaft nötig. Das wird Konsequenzen haben für Arbeitsplätze und für einzelne Regionen. Der Gerichtsbeschluss sagt ganz klar: Es ist Aufgabe des Staates, der Klimakrise entgegenzuwirken. Daneben gibt es aber auch den Sozialstaat als eine wesentliche Staatszielbestimmung der Bundesrepublik. Das heißt, ebenso wie die Eindämmung der Klimakrise ist es Aufgabe des Staates, ein Existenzminimum zu sichern und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Beides gilt, und man darf diese Dinge nicht gegeneinander ausspielen. Es ist doch genau Aufgabe der Politik, diese Transformation so zu gestalten, dass sie sowohl ökologisch als auch sozial ist. Ganz oft steckt aber gar keine ernsthafte Sorge für Arbeitnehmer*innen und den sozialen Zusammenhalt dahinter, sondern der Wunsch, Klimaschutz auszubremsen, wenn zum Beispiel davon die Rede ist, striktere Klimaschutzmaßnahmen können man den Beschäftigten in der Autobranche nicht zumuten.
Wie sollten die deutschen Akteur*innen das Momentum, das sich jetzt aufgetan hat, nutzen?
Auch auf den allerletzten Meter hat es die jetzige Regierung nicht geschafft, ein generationengerechtes neues Klimaschutzgesetz auf den Weg zu bringen. Und auch die Frage, wie die überarbeiteten Klimaschutzziele tatsächlich erreicht werden sollen, ist noch immer unbeantwortet geblieben. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um für einen Politikwechsel Druck zu machen und für ganz konkrete Maßnahmen zu streiten: gegen neue Autobahnprojekte, gegen LNG-Terminals, gegen die Ausweitung des Braunkohle-Tagebaus Garzweiler. Die konkreten Schritte müssen jetzt weiter erkämpft werden.