Nachricht | Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Corona-Krise Das indigene Mexiko

Die Coronapandemie legt die sozialen Ungleichheiten in Mexiko offen, sei es bei Bildung, Kultur oder dem Zugang zu Wasser. Von Roselia Chaca

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Roselia Chaca ,

Indigene Verkäuferinnen auf einem Markt in Chiapas, Mexiko
Indigene Verkäuferinnen auf einem Markt in Chiapas, Mexiko. CC BY-SA 3.0, Unitierra Oaxaca

2021 ist für Mexiko ein geschichtsträchtiges Jahr: Vor 700 Jahren wurde Tenochtitlán erbaut. Vor 500 Jahren eroberte Hernán Cortés die Stadt, auf deren Gebiet die Spanier später Mexiko-Stadt gründeten. Und vor 200 Jahren wurden die spanischen Herrscher aus Mexiko vertrieben. In ihrer zweiten Kolumne widmet sich die diesjährige Südlink-Kolumnistin Roselia Chaca dem Thema Corona. Die indigenen Gemeinden sind nicht nur direkt von der Krankheit betroffen. Sie leiden auch besonders unter den sozialen Folgen der Pandemie.

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit Südlink, der Zeitschrift des INKOTA-Netzwerks.

Als die Spanier vor über 500 Jahren nach Amerika kamen, hatten sie nicht nur ihre Sprache und Religion im Gepäck. Sie brachten auch neue Krankheiten wie Pocken, Masern und Grippe nach Neuspanien, die die dort lebende indigene Bevölkerung beinahe auslöschten. Von 30 Millionen Einwohner*innen, die vor der Eroberung im spanischen Kolonialgebiet lebten, sank die Anzahl Indigener innerhalb der ersten knapp 100 Jahre auf nur noch zwei Millionen.

Eine dieser merkwürdigen Krankheiten erhielt auf Náhuatl den Namen Cocoliztli. Es handelte sich dabei um ein hämorrhagisches Fieber, das sich ab 1545 auf dem Gebiet der heutigen Länder Mexiko und Guatemala ausbreitete und alleine innerhalb des ersten Jahres mehr als fünf Millionen Indigene tötete. Heute machen sich neue Cocoliztlis breit – so wie Covid-19, das alleine in Mexiko innerhalb eines Jahres 237.000 Todesopfer forderte, darunter fast 3.000 Indigene.

Roselia Chaca ist eine zapotekische Journalistin in Mexiko. Sie lebt und arbeitet in Oaxaca und ist dort zurzeit Korrespondentin der mexikanischen Tageszeitung El Universal.

Corona erschwert die Bildung

Die tatsächliche Zahl der Toten dürfte in den indigenen Gemeinden des Landes um ein Vielfaches höher sein, als es die offiziellen Angaben der mexikanischen Regierung darstellen. Aber Covid-19 hat dort nicht nur eine Spur des Todes hinterlassen. Das Virus offenbart auch die Ungleichheiten in Bezug auf Bildung, Kultur, Lebensweise und Zugang zu Wasser, mit denen die Menschen in den 64.000 indigenen Ortschaften Mexikos leben. Ungleichheiten, die Indigene im Vergleich zur übrigen städtischen Bevölkerung benachteiligen.

Da ist zum Beispiel Valeria, ein junges Mädchen der indigenen Zoque. Sie lebt in einer Gemeinde namens San Antonio, die in der bewaldeten Region Chimalapas im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca liegt. Valeria hat große Bildungsdefizite. Mit ihren zehn Jahren kann sie kaum schreiben, obwohl sie bereits die fünfte Klasse besucht. Damit ist sie nicht die einzige. Einem bedeutenden Teil der Grundschulkinder in San Antonio geht es ähnlich. Und die Defizite verringern sich nicht, sondern wachsen an. Laut dem von der mexikanischen Regierung herausgegebenen «Jahresbericht über die Armut und die soziale Kluft» lag das Bildungsdefizit in San Antonio 2010 bei 32 Prozent. Im Jahr 2020 waren es bereits 36,3 Prozent. Mit der Pandemie hat sich diese Situation noch verschlimmert, da die Kinder der drei Schulen in der Gemeinde nicht über die notwendigen technischen Möglichkeiten verfügen, um einen Unterricht im Homeschooling abzuhalten. Dies gilt für das Internet ebenso wie für Fernsehen. In San Antonio gibt es seit drei Jahren Strom und etwa 50 der 200 Familien können Satellitenfernsehen empfangen. Aber vielen Familien stellte der Anbieter während der Pandemie den Dienst ab, weil sie diesen nicht mehr bezahlen konnten – sei es aufgrund von Arbeitslosigkeit oder mangelndem Absatz ihrer landwirtschaftlichen Produkte.

Internet können diejenigen empfangen, die den Dienst im Voraus bezahlen. Wenn das Signal stabil ist, reicht es für die Nutzung von WhatsApp, Facebook und anderen Apps, aber nicht einmal im Traum dafür, eine Videoplattform zu besuchen. So ist der Fernunterricht, den Kinder wie Valeria erhalten, mangelhaft und verschlimmert ihren Rückstand noch weiter. Lehrer*innen sind in der Gemeinde so gut wie nie vor Ort. Seit Beginn der Pandemie gehen sie nicht mehr in entlegene Regionen. Sie interagieren nur noch mit den Eltern, die sie per WhatsApp in die Aufgaben einweisen, nicht aber mit den Kindern.

Die Älteren sind besonders gefährdet

Auch die Kultur trifft Corona hart. Den Kunsthandwerker*innen, die vom Tourismus leben, hat die Pandemie einen schweren Schlag versetzt. Ihre Vermarktungswege sind aufgrund von Hygienemaßnahmen verschlossen und auch der Export in Länder wie die USA funktioniert nicht mehr, da Kunsthandwerk nicht zum Grundbedarf zählt. Indigene Feste, die als Räume des Zusammenlebens dazu beitragen, den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl unter indigenen Völkern zu stärken, können ebenfalls nicht mehr stattfinden, da die Präventionsmaßnahmen gegen das Virus dies nicht zulassen. Zudem bedroht das Virus indigene Sprachen. In Mexiko werden viele von ihnen nur noch überwiegend von älteren Menschen gesprochen.

Die mexikanische Regierung beschloss, mehr als 15 Millionen Senior*innen zu impfen. Doch obwohl der Schwerpunkt auf der Impfung derjenigen lag, die in abgelegenen Orten leben, hapert es an der Umsetzung. Viele indigene Gemeinden liegen in zerklüfteten Bergregionen und Wäldern. Für die Älteren ist es schwierig, zu den Impfzentren hinabzusteigen. Die wenigen Impfärzte stellt es vor zeitliche und andere Probleme, in die abgelegenen Gemeinden hinaufzusteigen. Das Risiko für diese Älteren und das von ihnen gehütete Gemeinschaftswissen ist also sehr hoch.

Ein weiteres wichtiges Element, um die Ausbreitung von Covid-19 zu stoppen, ist das regelmäßige Händewaschen. Aber gerade diese Präventivmaßnahme ist in indigenen Gemeinschaften, die nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Wasser haben, schwer durchführbar. In Mexiko verfügen zwölf Millionen Menschen nicht über sauberes Trinkwasser. Die Hygienemaßnahmen unter diesen Bedingungen ständig zu befolgen, ist kaum möglich.

Das neue Cocoliztli zeigt einmal mehr, dass die indigenen Völker Mexikos nach wie vor am verletzlichsten sind. In Krisensituationen sind sie immer im Nachteil, egal ob diese ihren Ursprung vor ein paar Jahrhunderten oder vor einem Jahr haben.

[Aus dem Spanischen von Tobias Lambert]