Am 27. Mai 2021 teilten die Tk’emlúps te Secwépemc in einer Pressemitteilung mit, dass sie durch Bodenradarmessungen auf ein Massengrab mit den Leichen von 215 Kindern gestoßen waren, das sich auf dem Gelände der Indian Residential School, eines Internats für indigene Kinder, in Kamloops im kanadischen British Columbia befand. Das jüngste der Kinder war drei Jahre alt. «Das Indianer-Internat in Kamloops war seit 1890 in Betrieb, bis die Bundesregierung 1969 die Verwaltung von der katholischen Kirche übernahm und die Einrichtung bis zur Schließung im Jahre 1978 als Wohnheim für Kinder weiterführte, die eine Tagesschule besuchten … Nach Angaben des National Centre for Truth and Reconciliation (des Nationalen Zentrums für Wahrheit und Versöhnung) waren regelmäßig bis zu 500 Schüler*innen an der Schule angemeldet. Diese Kinder stammten aus First-Nations-Gemeinden aus ganz British Columbia und darüber hinaus.» (Quelle: CBC News)
Heather Milton-Lightening ist eine Aktivistin, die auf über 20 Jahre Organisationserfahrung auf lokaler und internationaler Ebene zurückblickt.
Als die Nachricht bei den indigenen Gemeinden ankam, machte sich im ganzen Land ein Gefühl von Schmerz, Wut und Trauer breit, und zwar nicht nur in den sozialen Medien. Die Leute stellten 215 Paar Kinderschuhe zum Gedenken auf, hielten Mahnwachen ab, schrieben Gedichte, nahmen an Gedenkläufen teil, entzündeten heilige Feuer und schufen Kunstwerke, um das Andenken unserer verlorenen Kinder zu ehren. Im Zuge dieser Reaktionen wurden erneut Forderungen laut, dass die kanadische Regierung den staatlichen Umgang mit indigenen Völkern als Genozid bezeichnen solle.
Forderungen nach Ermittlungen wurden ignoriert
Jene Internate existierten bereits vor der Staatsgründung Kanadas. Nach Angaben der Truth and Reconciliation Commission (Wahrheits- und Versöhnungskommission, TRC) gab es 139 Internate und Wohnheime, die von über 150.000 indigenen Kindern besucht und bis in die späten 1990er Jahre unterhalten wurden. In dieser Zahl nicht inbegriffen sind Schulen, die von den Provinzen betrieben wurden, sowie religiöse Ordensschulen, die keine Bundesmittel erhielten.
Dabei ist zu betonen, dass diese Kinder ihren Familien auf Grundlage von Gesetzen entrissen wurden, die lokale «Indianeragenten» und die kanadische Bundespolizei Royal Canadian Mounted Police vollstreckten. Die Kinder waren schrecklichen Misshandlungen ausgesetzt, unter anderen Sterilisierung, Hunger, medizinischen Versuchen und spirituellem, körperlichem und sexuellem Missbrauch. Einige von ihnen waren erst drei Jahre alt, als sie ihren Eltern weggenommen wurden. Viele der Religionsgemeinschaften (die römisch-katholische, die anglikanische, die methodistische und die presbyterianische Kirche sowie die vereinigte Kirche von Kanada), die für die Verwaltung der Schulen verantwortlich waren, führten keine sorgfältigen Aufzeichnungen. Diejenigen, die über entsprechende Aufzeichnungen verfügen, haben sie trotz zahlreicher Anfragen und der Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission noch immer nicht öffentlich zugänglich gemacht. Nach Schätzungen des Missing Child Project der Kommission starben etwa 4100 Kinder an Krankheiten oder Unfällen, während sie eine der 139 Schulen besuchten. In Anbetracht der lückenhaften Aufzeichnungen könnte die Zahl der Toten jedoch auch höher sein.
Wir wissen, dass es seinerzeit bereits zahlreiche Forderungen nach bundespolizeilichen Untersuchungen der Missbrauchsvorwürfe gab, die jedoch nie erfolgten. Bis zum heutigen Tage wurde noch niemand für den Tod oder den Missbrauch der Kinder in Indian Residential Schools strafrechtlich belangt. Die Eltern der verschwundenen Kinder wurden weder durch die Schulen noch durch die Bundespolizei informiert; einige wissen bis heute nicht, was ihren Kindern zugestoßen ist, die nicht mehr nach Hause gekommen sind.
Ein wichtiger Bestandteil der kolonialen Besiedlungsstrategie
Das System der Internatsschulen war ein strategisch wichtiger Bestandteil der kolonialen Besiedlung Kanadas – eine Räumung des Landes zugunsten der einwandernden Siedler*innen, zur Lösung des «Indianerproblems» in Kanada. Die Internate unterstanden seinerzeit keiner direkten Weisung durch die staatliche Politik, da die Kontrolle vollständig bei den Kirchen lag. Wir Indigene lebten einst auf unseren eigenen Territorien in Freiheit, doch heute kontrollieren wir nur noch 0,2% des kanadischen Territoriums.
«Über mehr als ein Jahrhundert hinweg bestanden», schreibt die Wahrheits- und Versöhnungskommission, «die zentralen Ziele der kanadischen Ureinwohnerpolitik darin, die Regierungen der Ureinwohner*innen zu beseitigen, ihre Rechte zu ignorieren, die Verträge mit den Regierungen der Ureinwohner*innen (Treaties) aufzukündigen und schließlich durch Assimilation ein Ende der indigenen Völker als eigenständige rechtliche, soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Einheiten herbeizuführen.» (Quelle: Honouring the Truth, Reconciling for the Future: Summary of the Final Report of the Truth and Reconciliation Commission of Canada)
Nach der Entdeckung des Massengrabes auf dem Gelände des Internats Kamloops wurde Premierminister Justin Trudeau mit den Worten zitiert: «Diese tragische Entdeckung erinnert auf schonungslose Weise an unsere Pflicht, die Wunden dieses schrecklichen Teils unserer Geschichte zu heilen.»
Viele Indigene, und dazu zähle ich auch mich selbst, konnten sich mit dieser Stellungnahme jedoch nur schwer abfinden. Für indigene Völker geht es hier nicht um etwas Vergangenes; es geht um eine intergenerationelle Problematik und es geht um unsere Gegenwart. Meine jüngeren Schwestern besuchten noch eine der letzten verbliebenen Internatsschulen des Landes in Saskatchewan. Kivalliq Hall in Rankin Inlet, dem heutigen Territorium Nunavut, stellte als letzte Internatsschule im Jahr 1997 ihren Betrieb ein. Die Internatsschule in der Gemeinde meiner Großmutter mütterlicherseits steht noch immer. Wir sind nach wie vor damit beschäftigt, die Auswirkungen von über 160 Jahren Internatsschulwesen zu bewältigen.
Das Schwerste für uns indigene Völker ist das Wissen darum, wie erbittert uns die kanadische Regierung bekämpft hat. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde ins Leben gerufen, nachdem Überlebende der Internatsschulen die Bundesregierung verklagt hatten. Im Zuge von Verhandlungen ging daraus das Schlichtungsabkommen für Indianer-Internate (IRSSA) hervor. Um Ansprüche nach diesem Abkommen geltend zu machen, musste man die Geschichte des eigenen Missbrauchs melden und nacherzählen. Diese Darstellung wurde dann durch Aussagen anderer Überlebender gestützt – wenn man «Glück» hatte. Viele Überlebende erfüllten jedoch die Voraussetzungen des IRSSA nicht, ihre Anträge wurden abgelehnt oder eine Teilnahme am Verfahren war für sie zu traumatisierend. Man legte buchstäblich einen Preis für den Missbrauch fest, den die Überlebenden erlitten hatten, und stellte ihnen einen Scheck zur Wiedergutmachung aus.
Eine Wiedergutmachungszahlung ist noch keine Gerechtigkeit
Viele Überlebende zwang dieses Verfahren dazu, das Trauma und den Schmerz ihrer Kindheit erneut zu durchleben. Ich stellte für meinen Vater einen IRSSA-Antrag, und als seine Tochter triggerte mich das. Ich kann nur erahnen, wie es sich für Überlebende angefühlt haben muss. Einige, darunter eine meiner Freundinnen, mussten an Anhörungen teilnehmen und ihre Geschichte zu Protokoll geben. Dieser Prozess hat bei vielen meiner Verwandten und Freund*innen so viel Schaden angerichtet.
Viele nicht-indigene Menschen, denen ich begegne, betrachten den Prozess als Wiedergutmachung. Wie kann das sein? Indigene Völker waren doch nicht an den Entscheidungsprozessen beteiligt, wir hatten doch keinen Einfluss darauf, wie Entschädigungen für uns und unsere Gemeinschaften aussehen sollen. Für die Überlebenden hat Gerechtigkeit nie bedeutet, Zahlungen zu erhalten. Das wird auch in Zukunft niemals so sein.
Kommen wir noch einmal auf die Aussage des Premierministers Justin Trudeau zurück, es gehe hier um «einen Teil unserer Geschichte». Viele indigene Völker können diese Aussage wegen unserer realen Verhältnisse in der Gegenwart nicht akzeptieren. Internatsschulen sind keine Angelegenheit längst vergangener Zeiten. Meine Nichten und Neffen gehören der ersten Generation meiner Familie an, die keine Internatsschule besucht. In den 1960er und 70er Jahren wurden zahlreiche Kinder aus First-Nations-Familien zur Adoption durch nicht-indigene Familien freigegeben, was als «Sixties and Seventies Scoop» bezeichnet wird. Diesen Kindern wurde jeder Bezug zu ihrer Identität und Herkunft vorenthalten. Viele waren Missbrauch und Vernachlässigung ausgesetzt. Einige wurden zur Adoption in ferne Länder, etwa in die USA und Europa, freigegeben. Wie im Fall der Internatsschulen verklagten Überlebende dieser sogenannten «Abschöpfung» (scoop) den kanadischen Staat und reichten eine Sammelklage ein. Das Verfahren dauert noch an.
«Zwischen 1951 und 1991 wurden Kinder aus First-Nations- und Inuit-Familien in Pflege genommen und bei nicht-indigenen Eltern untergebracht, wo sie weder gemäß ihrer Kultur erzogen noch in ihren traditionellen Sprachen unterrichtet wurden. Dieses dunkle Kapitel der kanadischen Geschichte wird üblicherweise als ‹Sixties Scoop› bezeichnet. Die Sammelklage argumentiert, dass die Betroffenen des Sixties Scoop durch diese Praktiken beträchtlichen Schaden erlitten haben – insbesondere den Verlust ihrer kulturellen Identität.» (Quelle: Sixties Scoop Settlement)
Das Erbe der Internatsschulen lebt noch immer im Kinderfürsorgewesen fort: Gegenwärtig leben mehr indigene Kinder in staatlichen Fürsorgeeinrichtungen als in den Internatsschulen zu deren Hochzeiten. Zwischen 1995 und 2001 stieg die Anzahl der First-Nations-Kinder, die in den Reservaten in solchen Einrichtungen leben, um 71,5 Prozent an.
Fokus auf First-Nations-Familien
Cindy Blackstock ist durch ihren Einsatz für die Rechte indigener Kinder in Kanada zu einer Nationalheldin geworden. Mit ihrer Arbeit trug sie zur Verankerung von Jordan’s Principle bei. Dieses Prinzip verpflichtet die Regierung, First-Nations-Kindern gleiche Bedingungen beim Zugang zu öffentlichen Versorgungsleistungen zu bieten, und rückt damit das Kindeswohl in den Mittelpunkt.
«Jordan River Anderson war ein First-Nations-Kind aus der Norway Cree House Nation in der Provinz Manitoba. Nachdem er 1999 mit schweren Gesundheitsproblemen zur Welt gekommen war, die im Reservat nicht versorgt werden konnten, verbrachte er über zwei Jahre in einem Krankenhaus in Winnipeg, bis die Ärzt*innen schließlich seiner Entlassung und der Versorgung im Elternhaus zustimmten. Aufgrund von Rechtsstreitigkeiten innerhalb und zwischen den Regierungen von Bund und Provinz, die sich um die Kostenübernahme für die häusliche Pflege des Jungen drehten, verbrachte Jordan mehr als zwei weitere Jahre unnötigerweise im Krankenhaus, bevor er 2005 starb. Zum Zeitpunkt seines tragischen Todes war er fünf Jahre alt und hatte keinen Tag in seinem Elternhaus verbracht.» (Quelle: First Nations Child & Family Caring Society of Canada)
Seit seiner Gründung hat der kanadische Staat indigene Kinder vernachlässigt und misshandelt. Erst als sich der kanadische Gerichtshof für Menschenrechte Jordan’s Principle annahm, wurde Kanada zur Verantwortung gezogen für Diskriminierung, Benachteiligung, extreme Unterfinanzierung und Versorgungslücken beim Kinder- und Familiendienst der First Nations (FNCFS – diese in den Reservaten operierende Kindeswohleinrichtung wird vom Kanadischen Büro für Indianerangelegenheiten betrieben). In diesen Zusammenhang gehört auch die Schaffung von Anreizen für eine Trennung von First-Nations-Kindern von ihren Familien und Communities.
Bis zum heutigen Tag wehrt sich die kanadische Regierung juristisch gegen das Urteil. Nur sehr wenige der vom Tribunal benannten Anforderungen sind bislang vollständig umgesetzt worden.
Ein Aufruf zum Handeln
Indigene Frauen und Mädchen sowie Two-Spirits, Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, queere und fragende Personen (die – noch – keine feste Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung haben) sowie Inter- und Asexuelle – kurz: 2SLGBTQQIA – verschwinden häufiger als Angehörige anderer Gruppen in Kanada. Die nationale Untersuchungskommission für verschwundene und ermordete indigene Frauen und Mädchen (MMIW) hat in ihrem Abschlussbericht «Reclaiming Power and Place» 231 Handlungsaufrufe formuliert. Bis heute steht eine Umsetzung des Aktionsplans durch die kanadische Regierung noch aus, laut offiziellen Verlautbarungen liegt dies an der COVID-19-Pandemie. Gleichzeitig verschlechterten sich durch die Pandemie jedoch die Lebensbedingungen indigener Frauen und Mädchen und 2SLGBTQQIA.
Seit vielen Jahrzehnten gibt es Untersuchungsausschüsse und Kommissionen, die Vorschläge erarbeitet haben, wie man dem strukturellen Rassismus und der Kolonialpolitik begegnen kann, von der indigene Völker seit der Gründung Kanadas betroffen sind. Zu nennen sind etwa die Königliche Kommission über die eingeborenen Völker (RCAP), die 1991 den Auftrag erhielt, Empfehlungen zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Kanada und den Ureinwohner*innen auszuarbeiten. 1996 reichte die RCAP ihren Abschlussbericht ein, der 440 Empfehlungen enthielt: «Ein roter Faden, der sich durch unsere Empfehlungen zieht, ist die Notwendigkeit, dass Ureinwohner*innen Raum zur Ausübung ihrer Autonomie und zur Beschreitung eigener Lösungswege benötigen. Der diskriminierende und lähmende Paternalismus, der die Bundespolitik der letzten 150 Jahre kontinuierlich geprägt hat, muss aufhören. Die eingeborenen Völker können nicht gedeihen, wenn sie bevormundet werden, als könnten sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen.» (Quelle: Report of the Royal Commission on Aboriginal Peoples: Volume 5 – Renewal: A Twenty-Year Commitment)
Gleichwohl sind noch immer viele tiefgreifende strukturelle Veränderungen nötig, um die Gewalt des kanadischen Staates gegen die indigenen Völker als solche zu beenden.
Es gab viele Versuche, Kanada auf dem Rechtsweg für die anhaltenden Verletzungen indigener Rechte zur Rechenschaft zu ziehen. Laut einem Artikel des Aboriginal Peoples Television Network hat die Regierung Trudeau beinahe 100 Millionen CAD (etwa 68 Millionen Euro) für juristische Auseinandersetzungen mit indigenen Völkern ausgegeben. Die kanadische Regierung hat zwar 2,2 Milliarden CAD (etwa 1,5 Milliarden Euro) zugesagt, um das Problem der verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen an der Wurzel zu packen, bislang jedoch keinen konkreten Zeit- oder Aktionsplan für die Verwendung der zugesagten Mittel veröffentlicht.
Immer wieder haben indigene Völker vor dem Obersten Gerichtshof Prozesse gegen die Regierung gewonnen. Zugleich wird jedoch unser Recht, auf den uns verbliebenen Teilen unseres Landes auch nur zu leben, ständig missachtet. Unsere Kinder, die unser größter Reichtum sind, werden uns immer noch erschreckend häufig weggenommen. Wir kämpfen in jedem Bereich unseres Lebens darum, unsere indigene Lebensweise zu bewahren.
Wirkliche Verbesserungen haben die indigenen Völker Menschen wie Cindy Blackstock zu verdanken, die sich unermüdlich für unsere Belange einsetzen. Den Heilungsprozess in unseren Gemeinschaften brachten unsere Community-Organizer*innen voran, unsere Landverteidiger*innen, die indigenen Sozialarbeiter*innen, die Freizeitgestalter*innen in den Schulen, Lehrer*innen, Nachbarschaftswachen wie der Bear Clan, Sprachpfleger*innen, die Mitarbeiter*innen der sozialen Dienste, die Zeremonienmeister*innen und Wasserschützer*innen, die Wissensbewahrer*innen und die First-Nations-Communities selbst. Diese Menschen, die im Hintergrund unablässig an der Erhaltung unserer Gemeinschaften arbeiten, sind es, die für Veränderung sorgen. Frauen, Mädchen und 2SLGBTQQIA-Personen spielen in diesen Graswurzelbewegungen oft eine führende Rolle.
Gegen das kanadische Erbe des Genozids
Mit jedem Tag, der vergeht, wird uns die Bedeutung der Massengräber, von denen immer mehr entdeckt werden, bewusster. Bis heute wurden knapp über 1300 Kinder gefunden, doch da die Suche anhält, wird diese Zahl noch steigen. Wir kannten die Erzählungen über die Gräuel, die umfänglich durch die Wahrheits- und Versöhnungskommission dokumentiert wurden, doch das macht die Entdeckung der Massengräber, in denen unsere Verwandten liegen, nicht weniger schlimm. Wir weinen um diese Kinder, die nicht nach Hause zurückkehren konnten und einsam gestorben sind. Gemeinsam durchleiden wir tiefste Trauer. Die Kinder, die in diesen Gräbern verscharrt wurden, stehen für den Schrecken, in Kanada als indigener Mensch leben zu müssen. Viele Menschen und Communities haben nicht nur für die verlorenen Kinder, sondern auch für unsere zukünftigen Generationen Zeremonien abgehalten, in der Hoffnung, dass das Vermächtnis der Internatsschulen hiermit ein Ende findet.
Mein älterer Bruder und ich sind Überlebende des «Sixties and Seventies Scoop». Die Generationen meiner Mutter und ihrer Vorfahren besuchten die Internatsschulen. Viele meiner Brüder und Schwestern haben Erfahrungen mit dem Kinderfürsorgesystem gemacht. Einer meiner Onkel wurde ermordet, genauso wie eine der besten Freundinnen meiner kleinen Schwester. Das genozidale Vermächtnis Kanadas hat meiner ganzen Familie geschadet, es betrifft jede*n Einzelne*n von uns.
Trotz allem bin ich stolz auf den Heilungsprozess meiner Verwandten. Darauf, dass sie nicht aufgeben. Darauf, dass unsere Communities in ihrem Mitgefühl für diese Kinder offen, ehrlich und verletzlich sind. Ebenso wie in ihrem Mitgefühl für die Eltern und Großeltern jener Kinder, die nie erfahren haben, was ihnen zugestoßen ist. Ich bin stolz, dass meine Verwandten sich so innig bemühen, die Eltern zu sein, die unsere Vorfahren nie sein durften, und darauf, neuen Generationen beim Heranwachsen zuzusehen, die stärker, klüger und besser sein werden als wir.
Seite an Seite mit den indigenen Völkern müssen wir weiterhin darauf bestehen, den Umgang mit ihnen in Kanada als Genozid zu bezeichnen. Die Weltöffentlichkeit muss Druck auf Kanada ausüben, damit die Rechte der indigenen Völker für zukünftige Generationen gewahrt werden. Wenn Kanada die Empfehlungen umgesetzt hätte, die aus der Königlichen Kommission über die eingeborenen Völker, der Untersuchungskommission für verschwundene und ermordete indigene Frauen und Mädchen, der Wahrheits- und Versöhnungskommission und vielen anderen Bemühungen indigener Völker um Gerechtigkeit hervorgegangen sind, so wäre unsere Lage heute vielleicht eine bessere.
Viele Überlebende vertreten die Auffassung, dass eine Entschuldigung des Papstes und die Veröffentlichung der vielen Aufzeichnungen der Schulen bei der Versöhnung und Heilung hilfreich sein könnten – wie auch die Umsetzung der Forderungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die indigenen Kindern Leid zugefügt haben, ist von großer Bedeutung, denn die Internatsschulen symbolisieren für uns keine ferne Vergangenheit, weil viele dieser Täter*innen noch leben und Schutz genießen – im Gegensatz zu den 215 Kindern, die an der Kamloops Indian Residential School beerdigt sind. Wenn wir wirklich Reparationen vom Staat erhalten wollen, müssen die indigenen Völker die Bedingungen festlegen, unter denen wir uns mit der kanadischen Regierung treffen: von Nation zu Nation.
Abschließend möchte ich betonen, dass es viel aussagt, dass indigene Menschen, all den Gräueltaten und genozidalen Handlungen zum Trotz, die Hoffnung nicht verloren haben. Wir wollen keine Rache und wünschen uns nicht, dass das, was uns widerfahren ist, auch künftigen Generationen widerfährt. Durch unsere kollektive Trauer wissen wir, dass Veränderung kommen wird.
Übersetzung von Maximilian Hauer & André Hansen für Gegensatz Translation Collective.