Südafrika ist im Schockzustand. Auf allen Nachrichtensendern laufen Live-Übertragungen von Plünderungen, die Bilder von brennenden Trucks und zerstörten Läden zeigen. Vor den Augen der Fernsehzuschauer*innen und einer offensichtlich völlig überforderten Polizei tragen Menschen ihre Beute aus Supermärkten, während fassungslose Reporter*innen versuchen, die chaotischen Szenen in Worte zu fassen. Im Studio bemühen sich politische Beobachter*innen um erste Erklärungen, sie sprechen von einem Hilfeschrei der Armen, von der Arbeitslosigkeit, politischem Protest und einer lang unterdrückten Frustration, die sich nun Bahn breche.
Über das, was sich seit Tagen in KwaZulu-Natal und Teilen Gautengs abspielt, gibt es viele Fragen, aber kaum zufriedenstellende Antworten. Fest steht lediglich, dass die Verhaftung von Ex-Präsident Jacob Zuma der zündende Funke der Gewalt war, die sich wie ein Flächenland verbreitet hat. Denn schon seit Tagen hatte die Verurteilung Zumas zu einer 15-monatigen Haftstrafe politische Spannungen verschärft und Ängste um den Frieden im Land geweckt.
Das südafrikanische Verfassungsgericht hatte die Haftstrafe gegen den 79-jährigen Zuma verhängt, weil dieser sich weigerte, umfassend als Zeuge vor einer juristischen Untersuchungskommission auszusagen; Hintergrund der Ermittlungen sind Korruptionsvorwürfe auch gegen Zuma selbst. Unterstützt wurde der Ex-Präsident durch den lautstarken Protest seiner Gefolgsleute, die sich vor seinem Wohnsitz in Nkandla versammelten und schworen, ihn jederzeit – notfalls auch mit Waffengewalt – vor einem Zugriff der Polizei zu schützen. Zudem gründeten sie die Kampagne «Free Jacob Zuma».
Nach einem Ultimatum stellte sich Zuma in letzter Minute dann doch noch selbst. Die von ihm beantragte Revisionsverhandlung vor dem Verfassungsgericht fand am 12. Juli statt, der Termin für die Bekanntgabe des Ergebnisses ist indes offen. Damit bleibt der Ex-Präsident einstweilen weiter in Haft.
Um die aktuelle Zuspitzung der Konflikte verstehen zu können, muss man zunächst der Spur des Geldes folgen und sich der Korruption zuwenden, für die Zuma verantwortlich gemacht wird.
Die lange Spur der Korruption
Dass Korruptionsfälle an die Öffentlichkeit gelangen, ist in Südafrika keine Seltenheit – im Gegenteil. Dabei geht es meist um die Veruntreuung sehr großer Geldbeträge in Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge, die weder den gesetzlichen Vergabebedingungen genügen noch auftragsgemäß ausgeführt werden. Über die Korruption wird in den Medien, auf den Straßen und am Arbeitsplatz diskutiert – und vor Gerichten verhandelt. Weit über die Grenzen Südafrikas hinaus bekannt wurden korrupte Waffengeschäfte und kriminelle Vergabepraktiken bei großen Bauvorhaben für die Erstellung günstigen Wohnraums sowie bei Landprojekten für aufstrebende schwarze Landwirt*innen. Vor kurzem wurde der Gesundheitsminister suspendiert, da er einem befreundeten Unternehmen offensichtlich – und ohne öffentliche Ausschreibung – den Auftrag über die Aufklärungskampagne zu COVID-19 in Höhe von 90 Millionen Rand (ca. 5,3 Millionen. Euro) zugeschanzt hatte. Da es bei diesen Vorfällen faktisch um das rechtswidrige Umleiten öffentlicher Mittel auf private Bankkonten geht – und damit um die Vereinnahmung des Staates durch private Interessengruppen –, hat sich hierfür der Begriff «State Capture» («Eroberung des Staates») etabliert.
Der ehemalige Präsident Jacob Zuma unterhielt während seiner Amtszeit (2009-2018) eine enge Beziehung zur Gupta-Familie,[1] die in engen geschäftlichen Beziehungen zur Regierung, insbesondere zum Präsidialamt, stand. Viele dieser Geschäfte sind wegen Korruptionsverdacht gerichtsanhängig. Auch auf Provinzebene war die Gupta-Familie aktiv, so beispielsweise in der Provinz Free State, in dem der vor kurzem suspendierte Generalsekretär des ANC, Ace Magashule, ein enger Vertrauter Zumas, seinerzeit Ministerpräsident war. In einem Fall geht es um Korruption und Geldwäsche in einer Größenordnung von 255 Millionen Rand (rund 15 Millionen Euro) – ein Vorgang, der aktuell vor Gericht verhandelt wird. Des Weiteren wird vermutet, dass verschiedene Ministerposten mit Gefolgsleuten der Gupta-Familie besetzt wurden, die auf diese Weise einen direkten Zugang zu staatlichen Entscheidungen und Budgets erlangten.
Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Vorfälle initiierten zwei katholische Priester des Dominikanerordens, Brian Mhlanga und Stanislaus Muyebe, sowie der damalige Vorsitzende der Oppositionspartei Democratic Alliance (DA), Mmusi Maimane, eine Untersuchung durch eine hochrangige Beschwerdestelle, den Public Protector.[2] Im Jahr 2016 legte der Public Protector den State Capture Report vor, der bestätigte, dass die vielen Vorfälle von Korruption, unzulässiger Einflussnahme auf staatliches Handeln durch private Akteur*innen und Vorteilsgewährung durch diverse staatliche Ebenen einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden müssen. Da der Public Protector keine juristischen Kompetenzen, sondern nur eine berichtende Funktion hat, wurde den staatlichen Behörden zugleich dringend empfohlen, eine mit größeren Kompetenzen ausgestattete Untersuchungskommission einzurichten. Präsident Zuma, der eine weitere Verfolgung der Korruptionsfälle verhindern wollte, wandte sich daraufhin an den High Court in Pretoria, um eine Umsetzung dieser Empfehlung gerichtlich unterbinden zu lassen.
Anders als von ihm intendiert, wurde Zuma am 14. Dezember 2017 allerdings vom Gericht unmissverständlich aufgefordert, eine Untersuchungskommission einzurichten, wobei der oberste Verfassungsrichter des Landes seinen Stellvertreter Raymond Zondo als Vorsitzenden dieser Kommission vorschlug. Zuma musste also notgedrungen die Einsetzung der Kommission vorbereiten, nicht zuletzt auch, um dem öffentlichen Druck sowie den Forderungen innerhalb des ANC nachzugeben, der durch die vielen Korruptionsvorwürfe immer mehr in die Kritik geriet.
Allerdings wurde die Commission of Inquiry into the State Capture, Fraud and Corruption in the Public Sector including Organs of State offiziell erst durch den Nachfolger Zumas, Cyril Ramaphosa, eingesetzt. Ramaphosa trat das Präsidentenamt im Februar 2018 an, nachdem er bereits im Dezember 2017 – gegen den Willen Zumas – zum ANC-Vorsitzenden gewählt worden war. Vorangegangen waren heftige Auseinandersetzungen innerhalb des ANC über die Korruptionsvorwürfe gegen Zuma.
Kaum aus dem Amt, wurde Zuma zum wohl wichtigsten Zeugen für die Beweiserhebung der Zondo-Kommission, wie sie nach ihrem Vorsitzenden genannt wurde. Seine Anhörung war für eine Überprüfung der in der Öffentlichkeit und im Bericht des Public Protector erhobenen Vorwürfe unverzichtbar. Zuma erschien dann auch mehrmals vor der Kommission, aber seinen Anwälten gelang es, deren Arbeit mit juristischen Spitzfindigkeiten und einer konsequenten Verzögerungsstrategie zu erschweren bzw. in Einzelfragen sogar zu verhindern. Letztendlich verweigerte Zuma jegliche Zusammenarbeit mit der Kommission.
Vor der im Frühjahr 2021 anstehenden Beendigung des Mandats der Untersuchungskommission stellte der Vorsitzende Raymond Zondo beim Verfassungsgericht einen Antrag auf Erzwingung weiterer Aussagen Zumas. Der Ex-Präsident, so die Begründung, sei seiner Aussagepflicht nicht in hinreichendem Maße nachgekommen. Nach umfänglicher Anhörung aller Seiten folgte das Gericht schließlich dem Antrag der Kommission. Zudem wurde eine Haftstrafe von 15 Monaten wegen Missachtung des Gerichts verhängt (wobei hier der Untersuchungskommission, juristisch einwandfrei, der Status eines Gerichts beigemessen wurde).
Zuma vs. Ramaphosa: Der Kampf um den ANC
Entscheidend in diesem Verfahren, in dem der Ex-Präsident eben nicht als «einfacher» Staatsbürger Südafrikas behandelt wird, sind die politischen Rahmenbedingungen, sowohl zum Zeitpunkt der Einsetzung der Zondo-Kommission als auch während der mehrjährigen Verhandlungsdauer. Auch ohne im Einzelnen auf die langjährigen persönlichen und politischen Auseinandersetzungen einzugehen, lässt sich festhalten, dass der erzwungene Rücktritt Zumas und der Beginn der Präsidentschaft Ramaphosas Anfang 2018 die Fraktionierung innerhalb des ANC vertieften. Von nun an gab es zwei Gruppen, die miteinander heftig um die Vorherrschaft rangen: die eine angeführt von Zuma und Magashule, die andere von Ramaphosa.
Trotz verbaler Radikalität und populistischer Forderungen, die vor allem der Mobilisierung der «Parteisoldaten» und unzufriedener Bevölkerungsgruppen dienten, ging es der Zuma-Fraktion in erster Linie um den Machterhalt in Staat und Partei. Damit wollte man sicherstellen, dass die jahrelange Plünderung öffentlicher Kassen durch Politiker*innen und die mit ihnen kooperierenden Akteur*innen in Privatwirtschaft, staatlichen Unternehmen und Verwaltungen nicht zu weiteren Anklagen und womöglich zu Verurteilungen führte. Auch wenn bereits viele Gerichtsverfahren eröffnet wurden und teilweise auch Verurteilungen erfolgt sind, wird der Kampf auf der politischen Ebene in aller Schärfe fortgesetzt. Die Gruppe um Ramaphosa, die eine – wenn auch knappe – Mehrheit im ANC repräsentiert, hat dabei immer mehr die Oberhand gewinnen können, wie Schlüsselentscheidungen der letzten Zeit bestätigen.
Nach den ANC-Beschlüssen zur Korruptionsbekämpfung müssen Parteiämter ruhen, wenn die Betroffenen in laufenden Gerichtsverfahren der Korruption beschuldigt werden. Diesem Beschluss ist der Generalsekretär des ANC, Ace Magashule, nicht nachgekommen. Nachdem Magashule vom Parteivorsitzenden Ramaphosa aufgefordert worden war, seinen Posten ruhen zu lassen, schloss er stattdessen kurzerhand Ramaphosa aus der Partei aus. Was auf den ersten Blick wie eine Posse anmutet (hier handeln immerhin die höchsten Repräsentanten des ANC), illustriert die massive interne Auseinandersetzung. In diesem Fall entschied der ANC-Vorstand schließlich, Magashule zu suspendieren.
Und kurz nachdem Carl Niehaus, eine Führungsperson einer Veteranenvereinigung der Umkhonto we Sizwe, des militärischen Arms des ANC während des Befreiungskampfes, vor dem Wohnsitz Zumas zum bewaffneten Schutz des Ex-Präsidenten aufgerufen hatte, wurde seine ANC-Mitgliedschaft suspendiert.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass Ramaphosa innerhalb des ANC das Ruder inzwischen fest in der Hand hat und auch schnell reagiert, wenn Antikorruptionsregeln nicht befolgt werden oder anderweitig Schaden für die Partei droht. Die große Mehrheit des Parteivorstands, aber auch des eng mit dem ANC verbundenen Gewerkschaftsverbands COSATU und der meisten Provinzgliederungen der Partei unterstützen seinen Kurs.
Dennoch bleibt Zuma, wie die Eskalation der Lage zeigt, durchaus gefährlich. Allerdings belegt die aktuelle Lage zugleich, dass es nicht nur um parteipolitische Auseinandersetzungen, sondern auch um Probleme von nationaler Bedeutung geht.
Kommt die Vergangenheit zurück?
Ein Zulu-Nationalismus, der nach außen mit eigenem Königshaus und einer heroischen Geschichte auftritt, ist in Südafrika als historischer und kultureller Teilbestand der Regenbogennation nie in Frage gestellt worden. Im Repräsentations- und Konsultationssystem des Landes ist die Anerkennung traditioneller Autoritäten ausdrücklich vorgesehen.
Die gewalttätigen Konflikte zwischen Anhängern des ANC und der Inkatha Freedom Party (IFP) in KwaZulu-Natal, die vor, aber auch nach dem Ende der Apartheid stattfanden, und die jahrzehntelangen Machtkonflikte in ANC und Regierung unterstreichen, dass der nationale Machtanspruch der Zulu-Nation eine wichtige Rolle spielt. Die aktuelle Krise bestätigt, dass eine nationale Versöhnung unter Einbeziehung aller regionalen Interessen und Volksgruppen bislang nicht gelungen ist. Nicht zufällig finden die Unruhen und Plünderungen vor allem in jenen Gebieten statt, in denen es bereits vor Jahrzehnten zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen gekommen war.
Nach Polizeiangaben ist es offensichtlich, dass die Auswahl und das Aufbrechen der Geschäfte aus dem Hintergrund organisiert werden. Der Polizei sind in Zumas Amtszeit jedoch viele Kompetenzen und Instrumente entzogen worden, um in solchen Fällen organisierter Kriminalität erfolgreich ermitteln zu können. So wurde die für derartige Fälle zuständige Sondereinheit «Scorpions» aufgelöst, geheimdienstliche Ermittlungsmöglichkeiten wurden eingeschränkt. Die Auswirkungen lassen sich heute beobachten.
In Stellungnahmen aus den für Polizei und Staatssicherheit zuständigen Ministerien wird deutlich, dass man von einem «Verbrechen gegen den Staat» ausgeht, hinter dem – neben den genannten Akteuren der Free-Zuma-Kampagne – auch ehemalige Akteure staatlicher Sicherheitsdienste stehen, die das Ziel verfolgen, durch Sabotage eine Unregierbarkeit des Landes herbeizuführen. Gegen einen Sohn und eine Tochter Zumas, den Vorsitzenden der Oppositionspartei Economic Freedom Fighters, Julius Malema, und weitere neun Personen wird in diesem Zusammenhang bereits ermittelt.
Nachdem die Polizei Verstärkung durch die Armee erhalten hat, scheint inzwischen mancherorts wieder Ruhe einzukehren; an anderen Orten aber gehen die Plünderungen noch weiter. Immer lauter werden deshalb die Rufe nach der Verhängung des Ausnahmezustands für KwaZulu-Natal.
Jahrzehntelange Versäumnisse
In der öffentlichen Diskussion nehmen jedoch auch die jahrzehntelangen Versäumnisse der Regierung eine prominente Rolle ein. Im Grunde, so ist man sich fast einig, waren derartige Ausschreitungen durchaus vorhersehbar. Denn ein großer Teil der Bevölkerung leidet unter Armut und lebt in menschenunwürdigen Behausungen, es fehlt an Ausbildungsmöglichkeiten, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die medizinische Versorgung unzureichend, Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind mit Händen zu greifen – auch über ein Vierteljahrhundert nach Ende der Apartheid. Und diese Probleme betreffen keineswegs nur die Provinzen KwaZulu-Natal und Gauteng, aber nur hier kommt es bislang zu Ausschreitungen.
Vor diesem Hintergrund wiederum ist die Rolle des Ex-Präsidenten Zuma und seiner Anhänger*innen von zentraler Bedeutung: Die Aktivitäten seiner Familie und weiterer Unterstützer*innen der #FreeJacobZuma-Kampagne haben wesentlich zum Ausbruch der Unruhen beigetragen; Brandschatzungen und Plünderungen wurden in den sozialen Medien gefeiert und weiter angeheizt. Den Feind wird beim weißen Monopolkapitalismus und seinen Vertretern in der südafrikanischen Regierung verortet – damit versucht man auch, die Straftaten politisch zu legitimieren.
Die Covid-19-Pandemie und eine überaus schwierige wirtschaftliche und soziale Situation bedeuten große Herausforderungen für Präsident Ramaphosa und seine Regierung. Infolge des Haftantritts Jacob Zumas sind jetzt erneut die bedrohlichen Geister der Vergangenheit geweckt worden. Es wird viel politisches Geschick und einen langen Atem brauchen, um Südafrika aus dieser Krise zu führen.
[1] Hierbei handelt es sich um eine aus Indien eingewanderte Großfamilie, die sich erst seit den 90er Jahren in Südafrika niedergelassen hat und in diversen Wirtschaftszweigen tätig ist. Einige Mitglieder dieser Familie werden wegen vielfältiger Korruptionsvergehen inzwischen mit internationalem Haftbefehl von Interpol gesucht.
[2] Die Position des Public Protector (eine Art öffentlicher Ankläger) ist in der südafrikanischen Verfassung verankert und soll dafür sorgen, staatliches Missmanagement, Korruption und andere Vergehen aufzudecken, ohne dabei direkt auf die staatliche Verwaltung angewiesen zu sein.