Analyse | Krieg / Frieden - Zentralasien Afghanistan: Das Scheitern des Westens

Nach dem Abzug der ausländischen Truppen übernehmen die Taliban die Macht im Land

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Axel Gehring,

Kämpfer der Taliban patrouillieren in Kabul, nach der Einnahme der Stadt. Bild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Rahmat Gul

Den Abzug der ausländischen Truppen überlebte die Islamische Republik Afghanistan nicht lange –  nach wenigen Tagen übernahmen, zur Verblüffung der internationalen Öffentlichkeit, die Taliban die Macht im Land. Schon vor der US-Abzugsentscheidung hatte der 2001 gegründete Staat nicht mehr alle Provinzen des Landes unter seiner Kontrolle, in zahlreichen herrschten bereits die radikalen Islamisten, weitere waren umkämpft und nur noch wenige wurden von der Regierung kontrolliert. Auch das 2020 zwischen den Taliban und der US-Regierung in Doha unterzeichnete „Friedensabkommen“ war primär eine Angelegenheit zwischen der Trump-Administration und den Taliban gewesen; es hatte den US-Abzug flankiert, aber Afghanistan keinen Frieden gebracht.

Es war daher absehbar, dass im Falle eines westlichen Truppenabzugs die wenigen von der Regierung kontrollierten Gebiete früher oder später unter die Kontrolle der Taliban fallen würden. Mit der Eroberung der wichtigsten Grenzübergänge durch die Taliban war die Lage für die Regierung in Kabul bereits im Juli militärisch aussichtslos und die Ausrufung des „Islamischen Emirats Afghanistan“, die nach der fast kampflosen Einnahme Kabuls am 15. August erfolgte, nicht mehr abzuwenden. Die westlichen Akteure müssen die Lage vor Ort gekannt und gewusst haben, dass die Taliban die Macht übernehmen würden – sie hatten sich damit offenbar längst abgefunden.

Terrorbekämpfung und Nation-Building

Der internationale Einmarsch im Oktober 2001 hatte zwei Ziele verfolgt: zum einen die von Osama bin Laden geführte internationale Dschihadisten-Gruppe Al-Qaida zu zerschlagen, die zuvor bei Terroranschlägen in New York und Washington fast 3000 Menschen getötet hatte, und zum anderen das Taliban-Regime zu beseitigen, das Al-Qaida beherbergt hatte. Mit der Besetzung des Landes kam als weiteres Ziel noch das Nation-Building hinzu. Abgesichert durch die International Security Assistance Force (ISAF), an der auch die Bundeswehr beteiligt war, sollte Afghanistan sich grundlegend wandeln. Als dann das Nation-Building ins Stocken geriet, musste die Bundesregierung einräumen, dass im Land Krieg herrschte. Diesen Krieg zwischen den westlichen Interventionsmächten und den Taliban hat erst die – von Donald Trump vorbereitete und von Joe Biden vollzogene – Abzugsentscheidung beendet. Der afghanischen Regierung blieb dabei nur die Statistenrolle. Auch deshalb konnte sie bei den Friedensgesprächen in Doha gegenüber den Taliban kein politisches Gewicht geltend machen.

Der Sieg der Taliban mag nicht im westlichen Interesse liegen, doch haben sich die Regierungen der Inventionsmächte längst mit ihrer Niederlage abgefunden. Deshalb erfolgte der Abzug auch im Wissen darum, dass die Regierung in Kabul die Taliban nicht würde aufhalten können; wie wir inzwischen wissen, war dieser Umstand auch dem US-Geheimdienst bekannt. In der westlichen Öffentlichkeit hatte ohnehin niemand mehr mit einem Sieg in diesem langen und verlustreichen Krieg gerechnet.

Geopolitische Verlagerungen

Hinzu kam eine veränderte geopolitische Zielsetzung: Denn seit dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hat sich die Aufmerksamkeit der Vereinigten Staaten in den ostasiatischen und indopazifischen Raum verlagert. Mit der Konstituierung des Islamischen Staates (IS) entstand 2014 zudem eine neue radikalislamistische Bedrohung. Ironischerweise gelang deren Eindämmung, weil die internationale Anti-IS-Koalition ideologische Vorbehalte über Bord warf und gemeinsam mit linken kurdischen Milizen in Nordsyrien kämpfte.

In Kurdistan fand nun – gänzlich unintendiert – ein De-facto-Nation-Building statt, weil die westlichen Akteure, auch als Lehre aus dem Afghanistan- und dem Irakkrieg, ihren Einsatz minimierten, indem sie mit lokal verankerten Kräften koalierten und taktische Zugeständnisse machten, um den IS wirksam zu bekämpfen. Dies führte in der NATO zu erheblichen Spannungen mit der Türkei, die darin die Unterstützung eines kurdischen Sezessionsprojektes sah. Um die Türkei weiter an den Westen zu binden und sie nicht bündnispolitisch an Russland zu verlieren, tolerierten die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten, dass Ankara wiederholt in Nordsyrien und den Nordirak intervenierte.

Der Umstand, dass die USA ihr Engagement in Süd- und Westasien reduzieren, um sich auf die machtpolitische Konkurrenz im indopazifischen Raum zu konzentrieren, wirkt sich auf diese Weise unmittelbar auf die lokalen und regionalen Kräfteverhältnisse aus – in Syrien wie in Afghanistan. Es überrascht nicht, dass die Türkei, die einst durch ihre informellen Beziehungen zum IS für erhebliche Spannungen innerhalb der NATO gesorgt hatte, bereits seit längerer Zeit Kontakte zu den Taliban unterhält. Derzeit erscheint es möglich – Vorsicht ist hier noch angebracht –, dass sie den Flughafen von Kabul betreiben und dort eine eigene militärische Präsenz auch über den westlichen Abzug hinaus unterhalten könnte. Die Taliban haben ihrerseits bereits erklärt, die Türkei nicht als Besatzungsmacht zu betrachten. Damit wäre die NATO zumindest indirekt weiterhin an einem wichtigen strategischen Punkt im Land vertreten.

Von Ankara nach Kabul

China wiederum bemüht sich seinerseits um gute Beziehungen zu den Taliban; es gab bereits vor Wochen ein offizielles Treffen. Die chinesische Regierung will auch deshalb, wie es heißt, „freundliche Beziehungen“ zu den Taliban aufbauen, um vom Rohstoffreichtum des Landes zu profitieren. Das politische System Afghanistans betrachtet Peking dabei als „innere Angelegenheit“. Inwieweit die Machtübernahme der Taliban tatsächlich eine rein „innerafghanische“ Angelegenheit darstellt, steht allerdings angesichts der engen Beziehungen Pakistans zu den Taliban in Frage. Das weiß auch die chinesische Regierung, die traditionell gute Beziehungen zum Nachbarland unterhält. Anders als noch vor zwanzig Jahren, als das Taliban-Regime international nahezu vollständig isoliert blieb, nähern sich diesmal auch andere Länder, darunter Iran und Russland, einer Anerkennung ihrer Herrschaft. Die Niederlage des Westens spielt ihnen dabei in die Hände.

In dieser Konstellation zeichnet sich für die Taliban ein Handlungskorridor ab: Während für die westlichen Regierungen ein großer Militäreinsatz wie in Afghanistan oder im Irak nicht mehr opportun erscheint, dürfte die Verhinderung eines zweiten 9/11 und eines expansiven radikalislamistischen Projekts (wie dem IS) weiterhin zu den Minimalzielen westlicher Politik zählen. Hierbei handelt es sich, insbesondere für die US-Regierung, um „rote Linien“. Die Taliban werden deshalb voraussichtlich nicht zulassen, dass sich erneut dschihadistische Terrorgruppen wie Al-Qaida in Afghanistan niederlassen. Ihr Verhältnis zum IS ist ohnehin von Gegnerschaft und Konkurrenz geprägt. Solange sie sich selbst auf die lokale Ausübung von Regierungsgewalt beschränken (also keinen Regimeexport anstreben), dürften sie auf diese Weise das Risiko einer erneuten Invasion von außen minimieren. Insgesamt bemühen sich die Taliban schon jetzt erkennbar um internationale Anerkennung auf niedrigem Niveau.

Sollte es tatsächlich zu einer Einigung mit der Türkei über den Betrieb des Flughafens kommen, stünden umfangreiche informelle Kanäle offen, ohne dass weitere NATO-Staaten selbst das Taliban-Regime anerkennen müssten. Damit liegt die sich abzeichnende türkische Präsenz in Afghanistan auch im Interesse westlicher Machtpolitik. Während sich schon jetzt mit Blick auf die Wirtschaft ein erheblicher chinesischer Einfluss abzeichnet, könnten die Taliban so zumindest rudimentäre Beziehungen zum Westen aufrechterhalten und perspektivisch auch Teilen des Kabuler Bürgertums eine integrative Perspektive anbieten. Insgesamt wird das neue Taliban-Regime ökonomisch weitaus stärker mit dem Rest der Welt interagieren als das alte – an seinem repressiven politischen und kulturellen Führungsanspruch dürfte dies aber wenig ändern.

Darüber hinaus besitzen die Taliban eine Reihe von weiteren Instrumenten, um ihr Bemühen einer faktischen Anerkennung zu unterfüttern. Bislang scheinen sie die hastig angeordneten Evakuierungsaktionen nicht behindern zu wollen; sie könnten sich außerdem beispielsweise auch dafür entscheiden, lokale Helfer der ISAF-Truppen aus humanitären Gründen ausreisen zu lassen. Auch das wäre ein weiterer Baustein im Bestreben, eine internationale De-facto-Anerkennung zu erreichen. Eines jedenfalls ist gewiss: Für einen solchen Schritt, sollte er denn zustande kommen, dürfte ihnen manche nun unter Druck stehende westliche Regierung – auch unsere Bundesregierung – im Stillen dankbar sein.