Analyse | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Brasilien / Paraguay Bolsonaro für Legalisierung von Landraub

Brasilianische Indigene verteidigen ihre Territorien mit Protesten in der Hauptstadt

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«Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!» 

Unter diesem Motto versammelten sich 6.000 Indigene aus allen Landesteilen Brasiliens in der Hauptstadt Brasília, um dort für ihr Recht auf Leben und auf ihre Territorien zu protestieren. Symbolträchtig leuchteten sie des nachts mit 380 LED-Leuchten den Schriftzug «Brasil Terra Indígena» («Brasilien indigenes Land» ) in den Nachthimmel, fotografisch eingefangen von einer Drohne bis zum Ende des Protestes Anfang September per sozialer Medien versandt. Aus Brasília sollte die Welt sehen, dass die Indigenen Brasiliens vereint sind in ihrem Widerstand gegen die extrem rechte Regierung von Jair Bolsonaro und gegen die mächtige Farmer:innenlobby, die gemeinsam mit Bergbaukonzernen daran arbeiten, den Indigenen Brasiliens ihre Territorien streitig zu machen, um auch dort in Zukunft industrielle Landwirtschaft oder Bergbau zu betreiben.

Landtitelfälschung und Amnestie

Bis heute ist die rechtliche Absicherung der indigenen Territorien nicht garantiert, obwohl dies verfassungsgemäß bereits bis 1993 vorgesehen war. Noch immer warten hunderte von Gebieten auf ihre Demarkation, also ihre rechtssichere Anerkennung seitens des Staates. Und noch immer versuchen Farmer:innen oder Goldsucher:innen sich indigene Ländereien illegal anzueignen: Entweder wird der Wald auf indigenem Gebiet angezündet oder die Goldsucher:innen verseuchen die Landschaft und die Flüsse mit Quecksilber. Oder aber es werden bewaffnete «pistoleiros»  zum Landraub eingesetzt. Weit verbreitet ist auch die «grilagem» , also die Landtitelfälschung durch Bestechung. Wenn das nicht wirkt, besteht oft die Aussicht auf eine Amnestie aus Brasília, die wieder einmal den Landraub der Vergangenheit akzeptiert und im Nachhinein legalisiert. Oft verfügen mächtige Großfarmer:innen zudem über gute Beziehungen zur Politik, so sie nicht selbst Politiker:innen sind. Und dann gibt es noch die Hoffnung auf die farmerfreundliche Justiz, die schon oft juristisch fragwürdige Urteile gegen die traditionellen Besitzer:innen des Landes – Indigene, Quilombolas (Nachfahren entflohener Sklav:innen) oder anderer traditioneller Völker gefällt hat.

Stichtagsregelung «marco temporal»

Aktuell verhandelt der Oberste Gerichtshof (STF) wieder einmal um das juristisch zweifelhafte Rechtskonstrukt des sogenannten «marco temporal» , eine Stichtagsregelung, die die Farmer:innenlobby der «ruralistas»  seit Jahren vertreten, aber bislang noch nicht zur Geltung vor Gericht bringen konnten. Ein Ergebnis wird noch im September erwartet.

Bei der sogenannten Regelung zum «marco temporal»  geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach welcher die Legalität jedes indigenen Territoriums in Brasilien von dem zu erbringenden Beweis abhinge, dass die indigene Gruppe am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der neuen Verfassung Brasiliens nach der Militärdiktatur (1964-1985), auf diesem Land beheimatet war, dieses zum Stichtag in Besitz hielt und dies auch beweisen kann.

Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker APIB sieht deshalb den «marco temporal»  als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen vor 1988 erlitten haben, außer Acht lässt.

Auch die Legislative greift indigene Territorien an

Dabei sind dies nicht die einzigen Versuche, die die indigenen Territorien bedrohen. So hat Bolsonaro beispielsweise im Jahr 2020 die Gesetzesinitiative PL 191 den beiden Kammern des Nationalkongress zur Entscheidung vorgelegt, die Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien erlauben soll. Auch hier wird erwartet, dass die parteiübergreifenden Fraktionen der Agrarindustriellen und der Bergbaulobby sich durchsetzen können. Denn die setzt sich aus 280 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses zusammen.

Die Fraktion der Agrarindustriellen (Frente Parlamentar da Agropecuária, FPA) versucht noch weitere Gesetzesinitiativen zu verabschieden, deren Ziel die Inwertsetzung indigener Territorien ist. Dazu zählt die Gesetzesinitiative PL 490/2007, die maßgeblich Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien gestatten soll, wenn es dem «relevanten öffentlichen Interesse des Bundes»  diene. Weitere Gesetzesinitiativen sind die beiden auch als «Landraubgesetze» , «PL da grilagem» , bekannten Gesetzesvorhaben: eines im Nationalkongress, die PL2633/2020, die andere im Senat als PL 510/2021, die beide unter anderem die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen.

Auch Brasiliens Mitgliedschaft in internationalen Verträgen und Übereinkommen stellt die Farmer:innenfraktion in Frage. Die FPA hat am 12. August 2021 ein Dokument auf ihrer Internetpräsenz veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 zum Schutze der Rechte der indigenen Völker fordert. Dort argumentiert die Farmerfraktion, die ILO 169 beschneide Brasilien in den «Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen - kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten»  ist.

Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austrete. Nach Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen, da Brasilien die ILO 2002 unterschrieben hat, könnte dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Farmer:innenlobby.

Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt verlautbart, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Dieser Austritt Brasiliens würde dem Trend in Deutschland diametral entgegenlaufen, denn hierzulande wurde die Konvention unter dem Druck jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Kampagne endlich ratifiziert. Brasilien ist aber Deutschlands einziger sogenannter «strategischer Partner»  in Südamerika und im Spätherbst stehen erneut hochrangige Regierungskonsultationen beider Partner-Länder an. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass dann jenseits von Dialog und gegenseitiger Partnerschafts-Beteuerung endlich auch einmal klare rote Linien gezogen werden; der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 wäre so eine.