Nachricht | Westasien «Rojhelat» – Der Osten

Die Kurdenfrage im Iran

Information

Die Proklamation der Mahabad Republik. Die von der Sowjetunion unterstützte sogenannte Mahabad Republik war eine der wenigen erfolgreichen Staatsgründungen der Kurden.
  The Foundation For Kurdish Library and Museum

Hört man von Kurdistan, denken viele meist an die Türkei, den Irak und mittlerweile auch an Syrien. Weniger bekannt ist, dass knapp ein Viertel aller Kurd*innen im Iran lebt. Während viel zum Thema «Rojava» (West-Kurdistan) zu finden ist, ist der Begriff «Rojhelat» (Ost-Kurdistan) weniger geläufig.

«Rojhelat» (Kurdisch: «Osten») bezeichnet alle Gebiete Kurdistans, die im iranischen Staat liegen. Die Gliederung Kurdistans in die vier Himmelsrichtungen ist weniger eine geografische Aufteilung, sondern bezieht sich auf die Staaten. So liegt beispielsweise die Stadt Kermānshāh deutlich südlicher als Hawlêr (Erbil). Kermānshāh wird jedoch nicht zum südlichen Kurdistan gezählt, da es im iranischen Staatsgebiet liegt (Ost-Kurdistan).

Offizielle Statistiken zur kurdischen Bevölkerung im Iran werden nur unzureichend erhoben. Schätzungsweise leben zwischen acht und zwölf Millionen Kurd*innen im Iran. Nimmt man den Mittelwert von zehn Millionen an, machen diese circa zwölf Prozent der Einwohnerschaft des Irans aus. Damit sind die Kurd*innen aus Rojhelat die zweitgrößte Population innerhalb des kurdischen Volks insgesamt. Deutschland erhebt ebenfalls keine genauen Statistiken zur kurdischen Bevölkerung, da die Zahlen nur Staatsbürgerschaften erfassen.

Kamyar Nahavandi hat Politikwissenschaften studiert. Sein Schwerpunkt sind die politischen Entwicklungen in Kurdistan, insbesondere im Iran. Er ist selber Kurde aus Ost-Kurdistan und lebt zurzeit in Köln.

Kurd*innen im Iran leben hauptsächlich im Nordwesten des Landes, an der westlichen Grenze des Irans zum Irak und zur Türkei. Des Weiteren gibt es eine kurdische «Enklave» in der nordöstlichen Provinz Khorasan an der iranischen Grenze nach Turkmenistan. Diese Enklave ist ein Produkt des Dim Dim Aufstandes in Rojhelat im Jahr 1610, der mit einer Umsiedlung kurdischer Stämme endete. Ansonsten leben Kurd*innen als Minderheit auch in anderen Regionen. Die Geografie im Westen ist stark geprägt durch das Zagros-Gebirge, und damit zahlreichen Wasserquellen. Auch finden sich in der kurdischen Region einige Rohstoffe, wie etwa Gold und fossile Energieträger, welche sie interessant für die iranische Zentralregierung macht.

Das streckenweise unwegsame Terrain beheimatet viele kurdische Dialekte. Die kurdische Sprache ist eine sehr heterogene, da sie nie durch einen Nationalstaat standardisiert wurde. In Rojhelat finden sich vier der fünf großen Dialekte des Kurdischen. Erstens Kurmanji, welches vor allem in den nördlichen Gebieten Rojhelats und in der Enklave Khorasan gesprochen wird; zweitens Sorani, welches im zentralen Teil Rojhelats gesprochen wird; drittens die sogenannten «südkurdischen Sprachen», im Süden Rojhelats; und viertens Hawrami, welches eine sehr seltene und alte gesprochene kurdische Sprache ist.

Trotz der vielen Gemeinsamkeiten der kurdischen Gemeinschaft in den verschiedenen Teilen Kurdistans gibt es kulturell auch Unterschiede der Kurd*innen aus Rojhelat zu ihren kurdischen Nachbar*innen. Einige davon können auf den Grenzvertrag von Qasr-e-Shirin von 1639 zurückgeführt werden, einem Friedensvertrag zwischen dem Osmanischen Reich und dem Safawidischen Reich. Dieser kann historisch als eine wichtige organisatorische Teilung der Kurd*innen  aus Rojhelat vom übrigen Teil betrachtet werden, die nun rund 400 Jahre andauert. Die safavidische Herrschaft festigte auch den Primat der persischen Sprache und Kultur als «Leitkultur» des Irans. Dies wirkte sich auch auf die kurdische Kultur in Rojhelat aus und ist heute in einigen Bereichen bemerkbar. Auch die Alphabetisierungs- und Nationalisierungskampagnen unter dem Shah-Regime haben einen deutlichen Eindruck in der Bevölkerung hinterlassen. So stieg die Bildung, auch bei Frauen, aber auch die kulturelle Homogenität und der «persische Chauvinismus».

Der iranische Staat führt ein sehr repressives Regime gegen Kurd*innen und andere Minderheiten. Wirtschaftlich, politisch und kulturell wird die kurdische Population im Iran stark ausgegrenzt und assimiliert. Die Infrastruktur in Rojhelat ist mangelhaft und die wirtschaftliche Lage ist schlechter als in anderen Regionen des Irans, was die Kurd*innen in andere Teile des Landes verdrängt, um dort niedrig bezahlte Arbeiten zu verrichten. Politische Aktivitäten werden verfolgt und sogar mit dem Tod bestraft; kurdische Menschen werden überdurchschnittlich häufig hingerichtet. Kulturell wird ihnen das Kurdisch-sein abgesprochen, sie werden als iranisch begriffen. Dazu kommt, dass seit der islamischen Revolution Rojhelat unter einer de facto Militärherrschaft steht.
Es gibt nur Schätzungen, aber der Anteil schiitischer und sunnitischer Kurd*innen in Rojhelat ist ähnlich hoch. Generell sind schiitische Kurd*innen allerdings eher selten. Daneben gibt es die Religionsgemeinschaft der Yarsan. Schließlich leben noch wenige Zoratrist*innen in Rojhelat, die ihren Glauben konservieren konnten. Religion spielt in der Gesellschaft allerdings eine geringe Rolle. Streng gläubige Familien und Dörfer gibt es immer weniger. Das hängt auch mit dem sehr säkularen Weltbild in der gesamten iranischen Bevölkerung zusammen, das dem des Regimes widerspricht.

Wettstreit der Legitimität

Interessant ist die politische Landschaft Rojhelats, sowie ihre Rolle im regionalen machtpolitischen Gefüge. Im Rahmen der kurdischen Autonomiebestrebungen gibt es viele verschiedene politische Kräfte. Die drei wichtigsten sind die Demokratische Partei Kurdistans-Iran (DPKI), die Komala und die Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK).

Drei Parteien

Demokratische Partei Kurdistans-Iran (DPKI)

In den 40er Jahren formierte sich eine nationale Widerstandsbewegung in Rojhelat, die schließlich in die Parteigründung der Demokratischen Partei Kurdistans-Iran (DPKI) resultierte. Nach der anglo-sowjetischen Invasion des Irans befand sich das Land in einer Phase politischer Instabilität. In dieser Zeit konnte mit Hilfe der Sowjets und unter der Führung von Parteigründer Qazi Mohammad am 2. Januar 1946 die Mahabad-Republik proklamiert werden. Die DPKI war eine säkulare aber gleichzeitig implizit sunnitische Partei. Daher umfasste die neu gegründete Republik fast alle sunnitischen Teile Rojhelats. Die schiitischen Kurd*innen weiter im Süden wurden damals kaum einbezogen. Nachdem die Sowjetunion die Unterstützung für die Mahabad-Republik einstellte, wurde diese durch den Iran zerschlagen und die Führungsköpfe öffentlich hingerichtet. Die Mahabad-Republik dient noch heute als Inspirationsquelle kurdischer Freiheitsbestrebungen. Ihre Renaissance fand die DPKI in den frühen 80er Jahren nach der iranischen Revolution 1979. Es gelang der DPKI, kurdische Gebiete im Iran unter Kontrolle zu bringen und autonom zu verwalten. Auch diese Autonomie hielt nicht lange. Sie wurde, nach einer Konsolidierungsphase des neuen Mullah-Regimes, bis 1983 zerschlagen. Die Partei musste sich zurückziehen. Eine Hiobsbotschaft erfuhr die DPKI 1989, als ihr Vorsitzender Ghassemloh in Wien bei geheimen Verhandlungen mit dem iranischen Staat ermordet wurde. 1992 wurde die neue Führungsriege der Partei erneut durch den iranischen Geheimdienst in Berlin ermordet [Mykonos Attentat]. Diese beiden Verluste konnte die Partei bis heute nur schwer verarbeiten. Mittlerweile befinden sich ihre Hauptquartiere in Südkurdistan (Irak). Sie sind weitestgehend von der Gunst ihrer Gastgebenden, den Machthabenden der autonomen Region Kurdistans im Irak, abhängig. Bis auf wenige begrenzte Patrouillen spielen sie operativ kaum eine Rolle in Rojhelat. Allerding genießen sie im Norden Rojhelats eine hohe Sympathie und betreiben politische Agitation aus dem Exil heraus.

Die Komala

Die Komala ist eine aus den Studentenbewegungen der 60er Jahre heraus entstandene Partei. Ihre Ursprünge liegen im Jahr 1969, als linke kurdische Studierende eine zunächst geheime Plattform gründeten. Seit ihrem Gründung-Kongress 1978 verfolgte sie eine offene und pragmatische marxistisch-leninistische Linie. Sie war auch die erste Partei im Iran, die weibliche Kämpferinnen rekrutierte, ein Novum in der damaligen kurdischen Gesellschaft. Die wichtigste Figur der Partei war Foad Mostafa-Soltani. Er wird als führungsstarke und charismatische Person beschrieben. Als eine der wenigen politischen Organisationen im Iran verweigerten sie den Mullahs ihre Unterstützung im Rahmen der islamischen Revolution. Sie glaubten, dass die geistlichen Führer der Revolution, die Mullahs, ihre Versprechungen, die sie den linken Kräften des Irans gemacht hatten, nicht einhalten und sie nach der Revolution bekämpfen würden. Der Verlauf der Geschichte gab ihnen Recht. Ähnlich wie die DPKI hielt auch die Komala einige Städte in Zentral-Rojhelat. Die neue islamische Republik griff als eine ihrer ersten Amtshandlungen die Komala-Hochburg Marivan im Jahr 1979 an. Durch den Angriff wurden die Parteimitglieder aus den Städten getrieben und transformierten sich in eine Guerilla-Organisation, die aus den Dörfern und Bergen heraus agierte. Mostafa-Soltani wurde noch im Jahr der iranischen Revolution durch das Mullah-Regime ermordet. Sein Verlust führte dazu, dass die Partei sich allmählich spaltete und ihre aktiven Operationen im Iran einstellen musste. Heute haben die diversen Komala-Abspaltungen ihre Hauptquartiere ebenfalls in Südkurdistan. Allerdings haben sich die meisten dieser Abspaltungen von ihren politischen Grundsätzen größtenteils entfernt und spielen momentan keine operative Rolle mehr in Rojhelat. In ihren ehemaligen Hochburgen haben sie noch einige Unterstützer*innen.

Die Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK)

Die PJAK ist die jüngste Partei von Relevanz in Rojhelat. Sie wurde 2004 aus der Re-Konsolidierungsphase der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) heraus gegründet. Die aus Nordkurdistan (Türkei) stammende PKK verabschiedete nach der Inhaftierung ihres Gründers Abdullah Öcalan ein neues Paradigma, das die Befreiung des kurdischen Volkes auch auf die Gebiete innerhalb des Irans ausweitete. Dieses Paradigma umfasst drei neue Grundsätze: Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung. In Rojhelat gab es 1999 große Proteste gegen die Inhaftierung Öcalans, was auch eine Unterstützung der Ideen der PJAK bedeutete. Sie greift auf die Expertise und Ressourcen ihrer Schwester PKK zurück, die es der PJAK ermöglichte, innerhalb des Irans politische Aktivität aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig ist die nordkurdische PKK auf die PJAK angewiesen, um das neue Paradigma im Iran kommunizieren zu können. Dies ist nicht zuletzt auf die kulturellen und sprachlichen Differenzen zwischen Nord- und Ostkurdistan zurückzuführen. Ab 2007 befand sich die PJAK im bewaffneten Kampf mit dem iranischen Staat. 2011 wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Die PJAK ist die einzige der drei kurdischen Parteien, die eine militärische und organisatorische Präsenz innerhalb des Irans pflegt. Sie konnte die politische und operative Lücke in Rojhelat füllen, die die anderen Parteien hinterließen. Der von ihr geforderte «Dritte Weg» findet vor allem unter jüngeren großen Widerhall. Durch die Anerkennung der Vielfalt Rojhelats konnte sie außerdem die mehrheitlich schiitische Bevölkerung im Süden Rojhelats in den Provinzen Kermānschāh und Ilām für das kurdische Autonomie-Projekt mobilisieren. Das gelang den traditionellen Parteien bisweilen nicht.

Zwei Fraktionen

Im gesamtkurdischen Kontext konkurrieren zwei politische Fraktionen um die Zukunft der kurdischen Nation. Die von Yasin Sunca bezeichneten zwei «sozialpolitischen Projekte von Nationsbildung» sind hier von großer Bedeutung für ein Verständnis innerkurdischer Politik. Er beschreibt zwei konkurrierende Modelle für den Aufbau der kurdischen Nation. Auf der einen Seite stehen die Nationalist*innen, die laut Sunca die nationale Befreiung in der klassischen (kapitalistischen) Staatenbildung sehen. Konträr dazu kritisieren die sogenannten «demokratischen Konföderalist*innen» diese kapitalistische Moderne; sie sehen die nationale Befreiung in einem weitestgehend dezentralisierten Modell, dass ohne nationalstaatliche Exklusion auskommt. In Südkurdistan haben die Nationalist*innen die politische Hegemonie inne. In Westkurdistan und in Nordkurdistan dominieren die Konföderalist*innen. Lediglich in Rojhelat ist der Kampf um das vorherrschende Modell noch nicht entschieden.

Ein Streit

Die DPKI und ein Großteil der Komala-Abspaltungen sind innerhalb des von Sunca analysierten Rahmens als nationalistisch zu bewerten. Die PJAK hingegen zählt zu den demokratischen Konföderalist*innen. Beide Fraktionen stehen sich konkurrierend in Rojhelat gegenüber. Es ist zu erwarten, dass in einem Moment der Destabilisierung im Iran, beispielsweise durch Bürgerkrieg oder Regime-Change, dieser Wettstreit offen ausgetragen wird und seinen Höhepunkt findet. Je nach Ausgang dieses Kampfes sind die Implikationen für den gesamtkurdischen Kontext, aber auch für die Region, groß. Sollten die demokratisch konförderalistische Fraktion Rojhelat in der Zukunft dominieren, so wären drei von vier Teile Kurdistans auf einer politischen Linie. Eine solche Entwicklung wäre ein neuer Höhepunkt der kurdischen Nationalbefreiung. Die Nationalist*innen wären gesamtkurdisch marginalisiert. Andersherum, sollten die nationalistische Fraktion die führende Kraft innerhalb von Rojhelat werden, würde ein Kräftegleichgewicht zwischen den beiden Fraktionen entstehen.

Für den größeren regionalpolitischen Zusammenhang bedeutet dies: Sollte der Status Quo im Iran sehr stark herausgefordert werden, könnten die Kurd*innen ein Möglichkeitsfenster zur politischen Konsolidierung nutzen. Dann wäre auch mit einer Neuverhandlung des Kräfteverhältnisses in der innerkurdischen Politik zu rechnen. Die Möglichkeit zur kurdischen Autonomie wird als empfindliche sicherheitspolitische Schwachstelle seitens des iranischen Staates gesehen. Nicht nur, dass Teile des schützenden Zagrosgebirges im Westen nicht mehr unter uneingeschränkter Kontrolle Teherans ständen; auch wäre ein Dominoeffekt der anderen Ethnien im Iran zu befürchten, die ähnliche Autonomie- oder gar Sukzessions-Bestrebungen verfolgen könnten. Diese Schwachstelle wurde längst von den USA erkannt und wird im sicherheitspolitischen Establishment diskutiert. Die Zukunft der Kurdenfrage wird also durch die Agenda der Weltmächte, die politischen Entwicklungen der beteiligten Staaten und die innerkurdische Parteiendynamik determiniert.