Nachricht | Cono Sur Gute Reform, schlechte Umsetzung

In Venezuela sollte die Polizei ab 2007 grundlegend verändert werden, um die Menschenrechte zu stärken. Das Vorhaben ist vorerst gescheitert. Von Tobias Lambert

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Die venezolanischen Armenviertel gelten sicherheitspolitisch als Hort der Kriminalität und politischer Unruhen. Bild: Blick auf El hatillo, Ortsteil von Caracas, Venezuela. CC BY-NC 2.0, Samout3

Vor allem in den Armenvierteln der venezolanischen Städte gehen Sicherheitskräfte seit Jahren brutal gegen vermeintliche Kriminelle vor. Dies steht in schroffem Kontrast zum einstigen Anspruch des regierenden Chavismus, die Polizei auch unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten zu reformieren. Wie konnte es soweit kommen?

Im Juli 2017 präsentierte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro die berüchtigte Truppe erstmals der Öffentlichkeit. «Ein Applaus für die Spezialkräfte der Bolivarianischen Nationalpolizei», rief er feierlich. Die als «FAES» abgekürzte Sondereinheit sei dafür trainiert, «die Bevölkerung gegenüber dem Verbrechen und kriminellen Banden» zu schützen. Menschenrechtler*innen sehen dies anders. Sie werfen der meist maskiert auftretenden Spezialeinheit außergerichtliche Hinrichtungen vor, die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet fordert deren Auflösung.

Die FAES stehen sinnbildlich für die Brutalisierung der venezolanischen Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahren. Seit 2013 töteten venezolanische Sicherheitskräfte, darunter besonders die FAES und die Kriminalpolizei (CICPC), über 25.000 Personen. Die Begründung lautet meist: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Betroffen sind selten die Viertel der Mittel- oder Oberschicht, sondern fast immer die Armenviertel der größeren Städte (barrios), wo die Menschen weder über große Beschwerdemacht noch gute Anwält*innen verfügen. «Schwer bewaffnete Einheiten stürmen meist in den Morgenstunden und ohne richterliche Erlaubnis Häuser, weil sie dort junge Straftäter vermuten», sagt Ana Barrios vom linken Menschenrechtskollektiv Surgentes. Die Angehörigen würden gezwungen, ihr Haus zu verlassen, bevor die Polizei gezielt Menschen erschieße. Anschließend nähmen die Sicherheitskräfte den oder die Toten direkt mit und richteten den Tatort so her, als habe eine Konfrontation stattgefunden. «Aus Angst der Angehörigen werden die meisten Fälle niemals angezeigt», so Barrios.

Seit Jahren macht Surgentes auf die ausufernde Polizeigewalt aufmerksam. Waren es 2013 knapp 1.000 Menschen, die durch die Sicherheitskräfte getötet wurden, stieg die Zahl bis zum Rekordjahr 2018 laut offiziellen Angaben auf 5.287 Personen an. Dies entsprach einem Drittel der in jenem Jahr insgesamt registrierten Morde in Venezuela. Seitdem gingen die Tötungen etwas zurück, offizielle Zahlen fehlen jedoch. Während die meisten Nichtregierungsorganisationen und Regierungen vor allem Repression gegen Angehörige der rechten Opposition anprangern, setzt Surgentes einen anderen Schwerpunkt. Die Mitglieder stammen selbst aus der breiten chavistischen Bewegung, die auf den früheren Präsidenten Hugo Chávez (1999 bis 2013) zurückgeht. Den heute noch immer regierenden Chavist*innen um Staatschef Nicolás Maduro werfen sie einen Rechtsruck vor. Dabei hatte 2007 ein ambitionierter Reformprozess begonnen, der die Polizei professionalisieren und die Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitskräfte stoppen sollte.

Eine ambitionierte Polizeireform

Zu Beginn von Chávez‘ Amtszeit verfügten in Venezuela 123 Gemeinden und 23 Bundesstaaten über jeweils eigene Schutzpolizeien. Häufig wirkten diese wie Privatarmeen von Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen und verfolgten private oder partikulare Interessen. Hinzu kamen eine landesweit tätige Kriminalpolizei, die halbmilitärische Guardia Nacional, eine Geheimdienstpolizei und eine Militärpolizei – mit jeweils spezifischen Aufgaben. Der Ruf der Sicherheitskräfte, die häufig autoritär auftraten, war allgemein verheerend. In den ersten Jahren unter Chávez rückten Menschenrechte ins Zentrum des Regierungsdiskurses, die Anzahl der Razzien in den barrios ging zurück. Vehement kritisierte der damalige Präsident die gängige Praxis der Sicherheitskräfte sowie der Justiz, Armut und Hautfarbe zu kriminalisieren.

Tobias Lambert ist Redakteur des Südlink, das Nord-Süd-Magazin von INKOTA. Dieser Artikel ist Teil 3 einer Südlink-Serie zur Polizei.

Wie in anderen Ländern auch diente die venezolanische Polizei seit ihrer Gründung den Interessen der reichen Oberschicht. Die schlug sich in einem traditionell härteren Vorgehen gegen die Bewohner*innen der Armenviertel nieder, die sowohl als Hort der Kriminalität als auch politischer Unruhen angesehen wurden. Delikte der Mittel- und Oberschichten wie Korruption wurden hingegen viel seltener geahndet.

Die Regierung Chávez ging in den ersten Jahren davon aus, dass durch eine Verringerung von Armut und Ungleichheit die seit Ende der 1980er Jahre steigenden Mordraten sinken würden. Trotz sozialer Fortschritte kam es jedoch anders. Der Staat selbst hatte diese fatale Dynamik entfacht, indem er im Zuge fallender Erdölpreise im Februar 1989 brutal auf Proteste gegen ein Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds (IWF) reagierte. Nach spontanen Plünderungen töteten die Sicherheitskräfte damals laut Schätzungen mindestens 1.000 Menschen.

Nachdem Polizeieinheiten Anfang 2006 in mehrere brutale Entführungsfälle verwickelt waren, setzte die Regierung die «Nationale Kommission zur Polizeireform» (Conarepol) ein. Dieser gehörten neben dem damaligen Innenminister die Repräsentant*innen der politischen Gewalten, Akademiker*innen, Aktivist*innen und ein Rumproduzent an, der Präventionsprogramme für straffällige Jugendliche durchführt. Innerhalb von neun Monaten erstellte die Kommission eine breite Zustandsanalyse der Polizei und erarbeitete eine Reihe von Empfehlungen, die zu einem «Neuen Polizeimodell» führen sollten. Begleitet wurden die Diskussionen von einem breiten Konsultations- und Partizipationsprozess, an dem sich relevante themenbezogene Akteur*innen und die Bevölkerung beteiligten.

Es folgten zwei Gesetze, die das «Neue Polizeimodell» festschrieben: Mit der Nationalen Bolivarianischen Polizei (PNB) entstand eine landesweit tätige Polizei, die der Zentralregierung unterstellt ist, aber ursprünglich limitierte, subsidiäre Befugnisse haben sollte. Eine neu gegründete Universität für Sicherheit hob die Ausbildung von Polizist*innen in vielen Bereichen auf Hochschulniveau. Die hohe Anzahl unterschiedlicher Polizeien und deren Autonomie blieben zwar bestehen. Doch wurden in Bereichen wie Rekrutierung, Ausbildung und Einsatz von Gewalt allgemein gültige Standards eingeführt. Die Reform sollte die Menschenrechte gewährleisten, die Militarisierung der Sicherheitsbehörden zurückdrängen und zivile Ansätze innerhalb der Polizei stärken. Zudem wurden interne und externe Instanzen geschaffen, um die Polizeiarbeit einer demokratischen Kontrolle zu unterstellen. Bald schon zeigte sich jedoch, dass die Formulierung von Gesetzen alleine keineswegs ausreicht.

Rollback in der Sicherheitspolitik

Als der politische Wille nachließ, zeichnete sich de facto eine Gegenreform ab, die zunächst nirgendwo offiziell ausformuliert war. Bereits ab 2009 kamen alte Schemata wie die militärische Logik der Sicherheitspolitik, die eigentlich überwunden werden sollte, allmählich wieder zurück. Die Zentralregierung weitete die Funktionen der Nationalpolizei immer mehr aus und besetzte die meisten sicherheitspolitischen Posten mit Militärs. An ursprünglich zivilen Polizeioperationen beteiligte sich ab 2009 zunächst die Guardia Civil und später direkt das Militär. Auch innerhalb der Polizei wurden entgegen den Zielen der Reform unter dem Deckmantel der Kriminalitätsbekämpfung militärische Kultur und Kriegslogiken gestärkt. Die Sicherheitspolitiker*innen lokalisierten die Kriminalität wieder vor allem in den Armenvierteln und widersprachen damit diametral dem Geist der Polizeireform. In der Folge füllten sich die Gefängnisse erneut mit jungen Männern aus den barrios. Während die Zahl inhaftierter Personen 2008 mit 20.000 einen Tiefstand erreicht hatte, stieg sie bis 2016 auf 54.000 an.

Hatte Hugo Chávez bis zu seinem Tod 2013 noch ein gewisses Gegengewicht zum sicherheitspolitischem Rollback verkörpert, verschlechterte sich die Lage unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro rapide. Der Sicherheitsdiskurs der Regierung wurde aggressiver, die Gegenreform offen zur Schau gestellt. Nun war von «polizeilicher und militärischer Einnahme» der barrios und einer «Rückgewinnung der Souveränität über Territorien von kriminellen Banden» die Rede. «Heute ist der Kriminelle ein Feind, der durch eine ‚Politik der harten Hand‘ bekämpft werden muss», sagt der Kriminologe Andrés Antillano, der 2007 die Polizeireform mit entworfen hatte. «Die ärmere Bevölkerung gilt nicht mehr als Subjekt der Revolution, sondern als verdächtig.»

Dieser Versuch, die Kriminalität zu kontrollieren, ist auch im Kontext der tief greifenden Wirtschaftskrise zu sehen, die sich nach 2014 durch fallende Erdölpreise, Untätigkeit der Regierung, der politischen Krise und die US-Sanktionen zugespitzt hat. «Auch wenn dies auf den ersten Blick paradox klingt, geht die Gewalt letztlich von institutionell schwachen Regierungen aus», so Antillano. «Sie wenden Gewalt an, weil sie nicht in der Lage sind, einen sozialen Konsens und politische Hegemonie herzustellen.»

Die Mordraten stiegen infolge dieser Politik weiter an. Wie zuvor in anderen Ländern wie El Salvador oder Honduras reagierten kriminelle Banden auf die «Politik der harten Hand», indem sie ihrerseits aufrüsteten und sich Granaten sowie großkalibrige Waffen anschafften. Auf die wachsende Kritik an den ab 2015 stattfindenden militarisierten Polizeieinsätzen unter dem Namen«Operation zur Befreiung der Bevölkerung» (OLP) reagierte die Regierung 2017 mit der Gründung der Spezialeinheit FAES.

Sowohl Antillano als auch das Menschenrechtskollektiv Surgentes fordern eine offene Debatte über die derzeitige chavistische Sicherheitspolitik und wollen das Thema nicht der Rechten überlassen, die es für eigene politische Ziele instrumentalisiert. Die meisten Expert*innen stimmen darin überein, dass keine neue Reform nötig ist, sondern die Umsetzung der 2007 begonnenen. Das sich kurzfristig etwas ändert, ist unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen jedoch nur schwer vorstellbar. Sowohl innerhalb der Regierung als auch in der rechten Opposition hat die Polizeireform gewichtige Gegner*innen.

Auch von einem Regierungswechsel wäre keine Verbesserung der Situation zu erwarten. Schon 2016 wollte die rechte Opposition mit ihrer Parlamentsmehrheit das Polizeigesetz dahingehend reformieren, dass auch Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen eigene schwer bewaffnete Spezialeinheiten aufbauen dürften. Da das Parlament im Rahmen des politischen Machtkampfes juristisch blockiert war, trat dieser Passus nie in Kraft. Die menschenrechtliche Orientierung der Sicherheitskräfte hätte dies sicherlich nicht gestärkt.