Saudi-Arabien möchte im Ausland vorherrschende Ansichten über das Regime und insbesondere über die Situation der Frauen im Land revidieren. Ein neues Bild der modernen saudischen Frau soll ihm dabei zu einem besseren internationalen Image verhelfen. Denn junge und gebildete saudische Frauen – mehr als die Hälfte der Studierenden an saudischen Universitäten sind weiblich – verkörpern am besten den «saudischen Modernisierungsprozess» und den «neuen und moderaten» saudischen Staat. Doch in einer autoritären religiösen Monarchie mit erdölabhängiger Wirtschaft und latenter Finanzkrise erweist sich die Wirklichkeit als deutlich komplizierter.
Die Festnahme, Inhaftierung und schwere Misshandlung feministischer Politaktivistinnen, die 2018 – dem Jahr von Jamal Khashoggis Ermordung – die Kampagne gegen Vormundschaft und die für das Recht auf Autofahren anführten, haben diese Imagewechsel-Strategie ernsthaft infrage gestellt und das öffentliche Profil des Kronprinzen angekratzt, der sich eifrig als Reformer inszeniert hatte. Nichtsdestotrotz sind einige der Rechtsreformen, die seit 2017 durchgeführt wurden, keine bloße PR-Strategie, mit der das Regime die internationale Gemeinschaft beeindrucken möchte, sondern das Ergebnis zunehmenden sozialen Drucks und feministischer Mobilisierung.
Die Stellung der Frauen verbessern? Das Recht und die saudische Vision 2030
Frauen waren dem saudischen Staat in den 80 Jahren seines Bestehens stets wichtig als zu schützende, zu kontrollierende und zu regierende Untertanen. Die Einführung allgemeiner Frauenbildung in den 1960er Jahren brachte in Verbindung mit der wirtschaftlichen Entwicklung der 1970er Jahre einige Fortschritte: Frauen konnten Berufen im Bildungs- und Gesundheitssektor nachgehen und es entstand sogar eine Schicht weiblicher Intellektueller, die die Grundlagen für feministischen Aktivismus legten. Doch mit dem Einfluss der Revolution im Iran und der inneren Krise durch die Besetzung der Großen Moschee 1979 kam es in den 1980er Jahren zu einer religiösen Radikalisierung des saudischen Staats. Das schwächte die soziale und rechtliche Stellung der Frauen beträchtlich und führte zur Einführung eines ultrakonservativen misogynen Systems, in dem ihnen nur noch die Rechtsfähigkeit von Minderjährigen zugestanden wird.
Die in den letzten drei Jahren durchgeführte Gesetzesreform stellt den Versuch dar, Frauen einen anderen Rechtsstatus zu verschaffen. Die Aufhebung des Autofahrverbots 2018, die allmähliche Abschwächung der Vormundschaftsgesetze 2019 und das aktive und passive Frauenwahlrecht in Regional- und Kommunalwahlen seit 2015 sind zweifellos rechtliche Veränderungen, die sich auf die Stellung von Frauen in der saudischen Gesellschaft positiv ausgewirkt haben.
Aliki Kosyfologou hat in Politikwissenschaft und Soziologie promoviert. Ihre interdisziplinären Forschungsinteressen umfassen Politikanalyse, Gesellschaftstheorie, Gendertheorie, Feminismus und Kultur. Sie hat zahlreiche Studien zu den sozialen und genderspezifischen Auswirkungen der Austeritätspolitik in Europa und insbesondere Griechenland verfasst, unter anderem die folgenden Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung: «The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010–2017» [Die geschlechtsspezifische Dimension des Austeritätsregimes in Griechenland: 2010–2017], «Women’s status in a struggling Greek economy: The terrifying fall of a society’s progress» [Die Situation der Frauen in Griechenlands kriselnder Wirtschaft. Die beängstigende Rückentwicklung gesellschaftlichen Fortschritts] und «Über die Fragilität der Gleichheit in Zeiten der Pandemie». Sie hat in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) gelebt und dort Feldstudien durchgeführt. Aktuell arbeitet sie als freie Wissenschaftlerin und sozialpolitische Beraterin.
Übersetzung von Daniel Fastner und Max Henninger für Gegensatz Translation Collective.
Die Entstehung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen im öffentlichen und privaten Sektor – entsprechend den Zielen der saudischen «Vision 2030», die bis zum Jahr 2030 mehr als eine Million Arbeitsplätze für Frauen schaffen möchte – hat insbesondere in den urbanen Zentren ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt befördert. Ein Hauptziel der Vision 2030 ist es, den Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung auf 30 Prozent zu erhöhen. Laut Daten der Weltbank ist der Anteil von 20 Prozent im Jahr 2018 bereits bis Ende 2020 auf 33 Prozent gestiegen. Die Aufhebung der Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten und die Entstehung von Arbeitsräumen nur für Frauen haben ihnen den Einstieg in den männlich dominierten Jobmarkt erleichtert. Ihre gegenwärtige Beschäftigungssituation in Saudi-Arabien ist jedoch auch das Ergebnis der graduellen Transformation des Arbeitsmarkts. Bis vor kurzem war der Staat noch der einzige Arbeitgeber für männliche saudische Bürger. Gleichzeitig war ein wesentlicher Teil der saudischen Bevölkerung von Sozialhilfe abhängig. Die Finanzkrise und der Abbau staatlicher Privilegien für saudische Bürger*innen, zum Beispiel die Verteuerung der öffentlichen Versorgung, haben viele zur Arbeitssuche im Privatsektor getrieben. Das vom Arbeitsministerium umgesetzte «Saudisierungsgesetz» oder Nitaqat verpflichtet ausländische Unternehmen, nach bestimmten Quoten saudische Staatsbürger*innen anzustellen. Obwohl diese Regelung bereits seit den 1980er Jahren existiert, wird wegen der neuen wirtschaftlichen und sozialen Umstände gerade heute ihrer Umsetzung große Bedeutung zugeschrieben, unter anderem im Hinblick auf die Entstehung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der saudischen «Image-Strategie» ist die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben. In diesem Zusammenhang ist in den saudischen Medien die Ernennung von dreizehn Frauen – alles bekannte Intellektuelle – zu Mitgliedern der Beratenden Versammlung (2013) als Meilenstein der Frauenförderung in der saudischen Gesellschaft dargestellt worden; dasselbe gilt für Reema bint Bandar al Sauds Ernennung zur saudischen Botschafterin in den USA. 2020 wurden zwei weitere saudische Vertreterinnen zu Botschafterinnen in Schweden und in Island ernannt. In den Medien gefeierte Wissenschaftlerinnen, Athletinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen runden dieses neue westliche Image des Landes ab. Auch die Abschaffung der Pflicht zum Tragen schwarzer Abayas ist als Zeichen des sozialen Wandels dargestellt worden.
Jenseits der Reform: Wirklichkeit, Praxis und das «hartnäckige» Vormundschaftssystem
Was verbirgt sich hinter den – in populären saudischen Medien verbreiteten – Bildern junger Frauen mit Laptops und farbenfrohen modischen Abayas, die ihre Getränke in modernen Cafés und Einkaufszentren saudischer Städte genießen? In welchen sozialen Praxen spiegelt sich heute die gesellschaftliche Rolle der Frau? Und vor allem: Ist Frauenemanzipation überhaupt möglich in einem autoritären Regime, das Menschenrechtsanwält*innen, Journalist*innen und feministische Aktivist*innen systematisch verfolgt und misshandelt?
Frauen sind in Saudi-Arabien immer noch verschiedenen Formen rechtlicher und sozialer Diskriminierung ausgesetzt. Bis vor kurzem wurden Eheschließung, Scheidung und andere Angelegenheiten noch vom islamischen Familienrecht geregelt. 2020 wurde der Rat für Familienangelegenheiten gegründet, der dem Arbeitsministerium unterstellt ist. Laut Frauenrechtsaktivistinnen und feministischen arabischen Rechtsgelehrten verbirgt sich hinter dieser Entscheidung jedoch ein starker politischer Unwille des Regimes, ein säkulares Familienrecht zu entwickeln und mit rechtlichen Mitteln gegen die Diskriminierung von Frauen vorzugehen. Zum Beispiel können Frauen die Scheidung einreichen, doch wenn sie es tun, sind sie mit komplizierten und teuren Verfahren konfrontiert. Sie können auch nur aus bestimmten Gründen wie etwa Misshandlung die Scheidung einreichen, und trotz des Scheidungsverfahrens behält der Ehemann währenddessen die rechtliche Vormundschaft. Außerdem können geschiedene Frauen nicht das volle Sorgerecht für ihre Kinder erhalten. Ein 2014 verabschiedetes Gesetz erlaubt ihnen als Erziehungsberechtigte den Zugang zu staatlichen Einrichtungen. So können sie für ihre Kinder Leistungen von Gesundheitseinrichtungen in Anspruch nehmen, offizielle Dokumente entgegennehmen und Schulnoten einsehen. Geschiedene sind wegen der herrschenden gesellschaftlichen Familien- und Frauenbilder mit diversen Herausforderungen und Formen der Diskriminierung konfrontiert.
Häusliche Gewalt und Gewalt in der Partnerschaft gelten als Fragen der öffentlichen Gesundheit. Die Häufigkeit solcher Vorfälle variierte von 2010 bis 2020 zwischen 20 und 39 Prozent. 2013 erließ Saudi-Arabien das Gesetz zum Schutz vor Misshandlung, das zum ersten Mal häusliche Gewalt unter Strafe stellte. Im Zug der Rechtsreform hat das Land begonnen, institutionelle Beschwerdemechanismen für Betroffene von häuslicher Gewalt zu entwickeln. Doch die starken rechtlichen und kulturellen Beharrungskräfte des Vormundschaftssystems hindern viele Frauen daran, diese neuen Mechanismen und Institutionen in Anspruch zu nehmen. Beispielsweise stellte Amnesty International im März 2021 fest, dass weibliche Betroffene von häuslicher Gewalt die Erlaubnis ihres männlichen Vormunds brauchen, um ihren ehelichen Wohnsitz zu verlassen.
Die Eheschließung mit Minderjährigen (unter 18 Jahren) ist 2019 verboten worden. Dennoch ist Kinderheirat in einigen Regionen des Landes immer noch eine kulturell gängige Praxis, und das neue Gesetz lässt Ausnahmen zu, wenn Jugendlichen von einem Sondergericht die Heirat erlaubt wird. Polygamie erlebte gegen Ende der 1970er Jahren einen Aufschwung, und nach der Scharia dürfen Männer bis zu vier Frauen heiraten. Doch aufgrund finanzieller Hürden und gesellschaftlicher Entwicklungen wie dem höheren Bildungsstand von Frauen und ihrem Eintritt in den Arbeitsmarkt ist sie unter den jüngeren Generationen weniger verbreitet. Das bedeutet aber nicht, dass Polygamie in Saudi-Arabien verschmäht würde; sie wird auch von einem kleinen Teil männlicher Expats praktiziert. Diese Institution spiegelt die herrschenden traditionell-patriarchalen Werte der saudischen Gesellschaft und deren soziale, klassenbasierte und rassistische Spaltungen. Besonders betroffen sind ärmere oder migrantische Frauen, die sich oft mit polygamen Eheverhältnissen arrangieren müssen.
Gerade in diesem Zusammenhang ist offensichtlich, dass trotz positiver Gerichtsurteile der soziale, politische und kulturelle Einfluss des Vormundschaftssystems fortbesteht. Es ist primär der unmündige Rechtsstatus der Frauen, der sie im Zustand der Machtlosigkeit hält und für viele von ihnen den Hauptgrund darstellt, ins Ausland zu fliehen. Nach der Verfolgung feministischer Aktivistinnen 2018 war es die Flucht von Rahaf Mohammed, mit der die Kampagne gegen männliche Vormundschaft in ihre zweite Phase eintrat. Die Saudi-Araberin hatte sich aus dem Land abgesetzt und erhielt schließlich in Kanada Asyl. Über ihren Twitter-Account machte sie ihre eigene Situation öffentlich und gab an, ihre Familie habe sie körperlich und emotional missbraucht, ihr das Recht auf Bildung versagt und sie zwangsverheiratet. Sie gab auch an, von ihrer Familie mit dem Tod bedroht worden zu sein, da sie nicht länger dem Islam folge.
Andere Formen der Diskriminierung gegen Frauen in Saudi-Arabien sind Ungleichbehandlung bei der Gesundheitsversorgung sowie auf dem Arbeitsmarkt. 2014 wurde ein medizinischer Verhaltenskodex eingeführt, nach dem für die Behandlung einer Frau nur ihre eigene Zustimmung einzuholen ist. Einige Gesundheitseinrichtungen verlangen jedoch immer noch die Zustimmung des rechtlichen Vormunds. Obwohl im Zuge der saudischen Vision 2030 eine Reihe von Schutzrechten für weibliche Angestellte eingeführt worden sind, darunter der Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Schwangerschaft und der Schutz vor unrechtmäßiger Entlassung, sind Frauen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen immer noch deutlich unterbezahlt, und viele Arbeitgeber holen, bevor sie eine Frau einstellen, immer noch die Erlaubnis des rechtlichen Vormunds ein. Frauen werden auch im Erbrecht benachteiligt: Sie haben nur Anspruch auf die Hälfte dessen, was ihre männlichen Verwandten erhalten.
Abtreibungen sind in Saudi-Arabien bei Vorliegen gesundheitlicher und medizinischer Gründe, bei Beeinträchtigung des Fötus oder aufgrund von Vergewaltigung erlaubt. Allerdings ist unklar, ob für den Schwangerschaftsabbruch bei einer verheirateten Frau die Zustimmung des rechtlichen Vormunds oder im Falle einer Expat-Frau die ihres Ehemanns erforderlich ist. Single-Frauen, die abtreiben lassen wollen, reisen dafür ins Ausland. Verhütungsmittel sind verfügbar, doch der Zugang zu Institutionen, die über Familienplanung aufklären, ist sehr beschränkt.
Die Situation migrantischer Frauen in Saudi-Arabien: Überstunden, Unterbezahlung und Misshandlung
Das Kafala- oder Bürgschaftssystem existiert in unterschiedlicher Form in mehreren Golf-Staaten, darunter Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait, Katar, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten. In diesem System erhalten Arbeitsmigrant*innen nur dann eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, wenn ein Arbeitgeber für sie bürgt. Auf der in dieses System eingeschriebenen Ungleichheit beruhen der Missbrauch und die Misshandlung von Millionen Arbeitsmigrant*innen in diesen Ländern. Im saudischen Bürgschaftssystem verfügen Arbeitgeber über beträchtliche Machtmittel: Sie bestimmen die Arbeitsbedingungen und entscheiden über Ausreisegenehmigungen und den Einwanderungsstatus. Bei Bauarbeiter*innen und Hausangestellten ist die Gefahr von Missbrauch und Ausbeutung besonders hoch, da sie auch bei der Verpflegung und Unterbringung von ihrem Arbeitgeber abhängig sind.
Laut Human Rights Watch leben und arbeiten schätzungsweise 9 Millionen Arbeitsmigrant*innen in Saudi-Arabien. Darunter sind 1,1 Millionen Frauen (Statista 2020), die hauptsächlich als Putzkräfte, Hausangestellte, Köchinnen, Au-Pairs und Haushälterinnen angestellt sind. Höher Qualifizierte arbeiten als Gesundheitsfachkräfte, Krankenpflegerinnen oder Privatlehrerinnen.
Internationale Menschenrechtsorganisationen und Menschenrechtsaktivist*innen in der Region sehen im Kafala-System eine wesentliche Grundlage des Menschenhandels in Saudi-Arabien. Geringqualifizierte aus Südasien und Afrika sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, über illegale Wege in Zwangsarbeit oder häusliche Sklaverei zu geraten. Zudem laufen weibliche Hausangestellte unter dem Kafala-System besonders Gefahr, aufgrund ihrer prekären finanziellen Situation und ihres Geschlechts sexuelle Belästigung oder Missbrauch zu erfahren. Die Behörden unternehmen auch kaum Anstrengungen, Hinweisen auf Missbrauch nachzugehen. Das Kafala-System gilt auch für Expat-Frauen, die mit einem saudischen Staatsbürger verheiratet sind.
Im November 2020 gab das Arbeitsministerium bekannt, Teile des Kafala-Systems reformieren zu wollen und ausländischen Angestellten zu ermöglichen, ohne Zustimmung ihres Bürgen den Arbeitsplatz zu wechseln (Arbeitsreforminitiative). Der Reformvorstoß fällt allerdings sehr bescheiden aus und stellt die Entscheidungshoheit des Arbeitgebers über den Rechtsstatus der Angestellten nicht infrage. Beispielsweise benötigen Angestellte weiterhin eine Ausreiseerlaubnis, um das Land zu verlassen. Außerdem sind von der Reform alle Arbeiter*innen ausgeschlossen, deren Tätigkeit vom Arbeitsrecht nicht abgedeckt ist; das betrifft vor allem Hausangestellte und Landarbeiter*innen. Angesichts fehlenden Rechtsschutzes sind Hausangestellte oft verschiedenen Formen körperlicher, psychologischer und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Ein Bericht von Human Rights Watch über die Arbeitsreformen in Saudi-Arabien nennt als Formen des Missbrauchs, denen vom Arbeitsrecht nicht erfasste Hausangestellte ausgesetzt sind, unter anderem verspätete oder Nichtzahlung von Löhnen, lange Arbeitszeiten ohne freie Tage, Einbehaltung von Pässen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Isolation sowie körperlichen und sexuellen Missbrauch. Das Risiko, in solchen Arbeitsverhältnissen Missbrauch zu erfahren, hat während der COVID-19-Krise noch zugenommen.
In diesem Kontext kommen nach wie vor schwere Misshandlungen und Missbrauch durch saudische Behörden ans Licht. Beispielsweise wurden laut Amnesty International mindestens 41 Frauen aus Sri Lanka willkürlich für 8 bis 18 Monate inhaftiert, während sie auf Rückführung in ihr Herkunftsland warteten. Zu solchen Vorfällen kommt es auch nach der Arbeitsreforminitiative noch. Ausländische Arbeiterinnen, die versuchen, dem Missbrauch durch ihren Arbeitgeber zu entfliehen, wegen nichtgezahlter Löhne den Job zu wechseln oder sich aus schlechten Arbeitsbedingungen zu befreien, sehen sich in vielen Fällen willkürlicher Inhaftierung durch die Behörden ausgesetzt.
Es muss hervorgehoben werden, dass die «Arbeitsreforminitiative» das Kafala-Bürgschaftssystem nicht außer Kraft setzt. Unter den neuen Regeln müssen Arbeiter*innen immer noch einen Arbeitgeber haben, der als ihr Bürge fungiert und damit nach wie vor über beträchtliche Macht über sie verfügt. So haben es Arbeitgeber weiterhin in der Hand, Visum und Aufenthaltsgenehmigung ihrer Angestellten zu verlängern oder zurückzuziehen. Die größte Schwäche dieser Reform ist jedoch, dass sie unzählige Arbeiter*innen gar nicht erfasst, darunter Fahrer*innen, Landarbeiter*innen, Schäfer*innen, Reinigungskräfte sowie Arbeitskräfte ohne legalen Aufenthaltstitel. Nur qualifizierte ausländische Fachkräfte im Tertiärsektor werden irgendeine Art von Veränderung bemerken. Ein beträchtlicher Teil der ausländischen Arbeitskräfte wird weiterhin unter einem ausbeuterischen und missbräuchlichen Arbeitsregime leben und arbeiten.
Formen politischer Teilhabe und Aktivismus in den sozialen Medien
Trotz aller Bemühungen der großen Medienhäuser des Landes, eine neue, reformierte und westliche Version des politischen Systems zur Schau zu stellen, bleibt Saudi-Arabien eine autoritäre Monarchie, die auf Grundlage eines Konsenses zwischen der Königsfamilie, den Eliten und dem religiösen Regime funktioniert und kaum Raum für politische Teilhabe lässt. Politische Parteien und landesweite Wahlen sind nicht erlaubt, auch wenn die seit 2005 stattfindenden Regional- und Kommunalwahlen lokal eine gewisse politische Mitwirkung ermöglichen.
2015 nahmen saudische Frauen zum ersten Mal als Wählerinnen und Kandidatinnen an den Kommunalwahlen teil. Siebzehn Frauen wurden dabei in Gemeinde- oder Regionalräte gewählt. Die Wahlbeteiligung von Frauen spiegelte deren zunehmende Partizipation am öffentlichen Leben, von dem sie bis vor kurzem fast vollständig ausgeschlossen waren.
Auch von NGOs und anderen Organisationen des Quartärsektors gehen zunehmend öffentliche Aktivitäten aus. Viele dieser Institutionen sind jedoch mit älteren oder neu gegründeten königlichen Stiftungen verwoben. Auch die Tierschutzbewegung findet Zulauf und kann in den Städten viele junge Leute mobilisieren, die Tierheime aufbauen oder streunende Tiere füttern und sterilisieren.
Andere Formen politischer Aktivität hingegen, zum Beispiel für Menschenrechte oder Frauenrechte, finden in Saudi-Arabien über informelle Kanäle statt. Historisch haben Frauenkulturvereine eine wichtige Rolle bei der Erringung des Frauenwahlrechts gespielt, indem dort Graswurzelnetzwerke entstanden und für Frauenrechte geworben wurde. All diese zivilgesellschaftlich entstandenen Initiativen haben dazu beigetragen, in einem Land, in dem politisches Engagement verboten und strafbar ist, einen öffentlichen Raum für aktive politische Teilhabe zu schaffen.
Auch die sozialen Medien bieten eine Plattform für genuine politische Kampagnen und Aktivismus. Insbesondere der feministische Online-Aktivismus hat entscheidend auf die jüngsten politischen Entwicklungen eingewirkt. Die emblematischen feministischen Hashtag-Kampagnen, die Anti-Vormundschafts-Kampagne #Anti_Male_Guardianship_System und die Fahrerlaubniskampagne #Women2Drive, haben als neue Vorbilder für Menschenrechts- und Frauenrechtskampagnen gewirkt und sind auch international wahrgenommen worden. Trotz Zensur und drohender Verfolgung durch die Behörden haben sich mehrere politische Emanzipationskampagnen im ganzen Land von ihnen inspirieren lassen. Es ist bemerkenswert, dass Online-Aktivist*innen ungeachtet ihres Geschlechts immer mutiger werden und häufig offen ihre Identität zu erkennen geben, wenn sie politische Anliegen auf sozialen Netzwerken «hashtagen».
Die «Ich-bin-mein-eigener-Vormund»-Kampagne
Doch der feministische Online-Aktivismus in Saudi-Arabien und seine einflussreichen politischen Kampagnen sind kein spontaner oder nur online anzutreffender Social-Media-Trend, sondern das Ergebnis bewusster strategischer Entscheidungen der Frauenbewegung und ihrer Vorreiterinnen. Die Kampagne gegen männliche Vormundschaft durchlief mehrere Phasen, bevor sie zu einer Social-Media-Kampagne wurde. Zu den verschiedenen Stadien gehörten fünftägige Workshops, die im Geheimen in Riad, Dschidda und Dammam abgehalten wurden, eine Petition mit 25 Unterschriften, die 2012 drei offiziellen Gremien übergeben wurde, ein 2016 von Human Rights Watch veröffentlichter Bericht sowie schließlich das Anstoßen des Hashtag-Aktivismus.
Die Initiative, Workshops zu politischem Engagement zu organisieren, geht auf einige der feministischen Aktivistinnen aus der späteren Twitter-Kampagne #Women2Drive zurück. Das ursprüngliche Ziel der Workshops, an denen Frauen mit unterschiedlichem sozialem und ökonomischem Status teilnahmen, war eine Diskussion über die religiöse Statthaftigkeit des Vormundschaftssystems und zur Planung des weiteren Vorgehens. Nach den Workshops wurde von den Hauptorganisatorinnen der Initiative eine Petition bei den drei offiziellen Gremien, der Beratenden Versammlung, dem Rat der Höchsten Religionsgelehrten und dem Exekutivbüro des Königs, eingereicht. Darin stellten sie die religiöse Gültigkeit des Vormundschaftsrechts infrage und kennzeichneten es als ein System, das Frauen unterdrückt und sie ihrer Freiheiten beraubt. Abgesehen von zwei Mitgliedern der Beratenden Versammlung wurde die Petition von den Regierungsgremien ignoriert, was unter den Frauen Frustration und Enttäuschung auslöste.
2016 veröffentlichte Human Rights Watch einen 192-seitigen Bericht über die schrecklichen Auswirkungen des Vormundschaftssystems auf das Leben von Frauen. Der Bericht wurde mit dem Hashtag #together_to_end_male_guardianship auch über den HRW-Twitteraccount gepostet. Das war ein Meilenstein für die Entwicklung der Kampagne, weil es eine der einflussreichsten Twitter-Kampagnen in Saudi-Arabien und der MENA-Region auslöste. Saudische Frauen posteten unter dem Hashtag Fotos und Videos und forderten die Abschaffung des Vormundschaftssystems. Schließlich kam mit #Saudi_women_want_to_abolish_the-guardianship_system ein neuer Hashtag auf, der mit einer am Ende angehängten Zahl anzeigt, seit wie vielen Tagen die Kampagne bereits läuft. Dieser Hashtag ist nach wie vor auf Twitter viral.
Trotz Verhaftung führender Feministinnen, Zensur und staatlichen Drohungen gegen hunderte Frauen, die sich an der Kampagne beteiligt haben, wobei es unter anderem zum staatlichen Tracken der IP-Adressen und dem Schließen ihrer Social-Media-Accounts kam, hatte die Bewegung eine maßgebliche politische Wirkung auf das Land und konnte über die internationale Aufmerksamkeit öffentlichen Druck auf die Regierung ausüben. Wie Nora Doaiji in ihrer Studie Saudi Women’s Online Activism: One Year of the «I Am My Own Guardian» Campaign schreibt: «Der ‹I-Am-My-Own-Guardian›-Kampagne ist es auf beispiellose Weise gelungen, verschiedene und immer größere Wähler*innengruppen zu beeinflussen und zu mobilisieren, darunter eine neue Generation junger Frauen, die zuvor nicht politisch aktiv waren.»
Was bedeutet der Wandel in Saudi-Arabien?
In Saudi-Arabien werden weiterhin ernsthafte Menschenrechtsverletzungen von einem autoritären Regime begangen, das landesweite Wahlen und politisches Engagement verbietet. Insofern kann der Wandel nur als oberflächlich beschrieben werden. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass in den letzten drei Jahren etwas in Bewegung geraten ist, wie die Verschiebung der Grenzen des öffentlichen Lebens zeigt. Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Entwicklungen, weil ihr Leben ganz unmittelbar davon betroffen ist. Die Auflösung der berüchtigten Religionspolizei Mutawa, die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen, die allmähliche Aufhebung der Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten und die Abschwächung des Vormundschaftsgesetzes, wodurch Frauen nun ohne Zustimmung eines männlichen Vormunds reisen können, hat grundlegende Aspekte des «starren» saudischen Lebensstils transformiert, der seit dem religiösen Revival in den 1980er Jahren vorherrscht.
Diese Veränderungen finden Zustimmung unter Frauen und Männern und besonders unter der in der digitalen Welt heimischen Jugend des Landes, die nach Möglichkeiten für einen moderneren Lebensstil sucht und die traditionellen Werte ablehnt. Umgekehrt nehmen in dieser Übergangsperiode vor dem Hintergrund der einsetzenden Finanzkrise soziale, geschlechtsbezogene und rassistische Ungleichheiten weiter zu und das Misstrauen gegenüber der Staatsbürokratie und den privilegierten Eliten wächst.
Wie mir Rana, eine 30-jährige Lehrerin, beim Brunch in einem stylischen Café-Restaurant in Riads Diplomatenviertel erzählte: «In den letzten drei Jahren haben wir in Saudi-Arabien viel Veränderung gesehen, aber ich bin nicht allzu optimistisch, was die Zukunft angeht. Ich habe großes Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft der Gesellschaft, sich zu verändern, aber nicht in die der Herrschenden.»