Von Lisa Vollmer
Am 9. November 2021 hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit einer Pressemitteilung eine stadtpolitische Bombe platzen lassen: Das Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten, umgangssprachlich als Milieuschutzgebiete bekannt, darf nicht mehr ausgeübt werden, wenn eine Verdrängung der Mieter:innen bloß befürchtet wird. Auch die begründete Annahme, dass der aufgerufene Kaufpreis nicht ohne erhebliche Mietsteigerungen oder die Aufteilung des Hauses in teuer zu verkaufende Eigentumswohnungen finanzierbar sein kann, reiche dafür nicht aus. Anders formuliert: Das Vorkaufsrecht darf nur noch ausgeübt werden, wenn die Bewohner:innenstruktur schon zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht mehr den sozialen Zielen des Milieuschutzgebietes entspricht; also, wenn bereits Verdrängung stattgefunden hat.
Das Urteil führt das Vorkaufsrecht ad absurdum
Einerseits passt das zur generellen Logik sozialer Erhaltungsgebiete, die nur dann als solche festgesetzt werden können, wenn eine einsetzende Veränderung der Sozialstruktur der Nachbarschaft schon nachgewiesen werden kann. Andererseits führt das neue Urteil des Bundesverwaltungsgerichts das Instrument des Vorkaufs ad absurdum. Um einer sozialen Wohnraumversorgung gerecht zu werden haben Kommunen ja gerade ein Interesse daran, Menschen mit geringem Einkommen vor Verdrängung zu schützen. Das aktuelle Gerichtsurteil hat den Kommunen mit dem Vorkaufsrecht nun eines der ohnehin wenigen Instrumente für diesen Schutz aus der Hand genommen.
Damit setzt sich die gerichtliche Aufhebung politischer Regulierungsversuche des Mietenwahnsinns fort. Eine Serie von höchstrichterlichen Urteilen in den vergangenen zwanzig Jahren, die den Kündigungsschutz ausgehöhlt, Eigenbedarfsgründe ausgeweitet, Mietobergrenzen in Sanierungsgebieten abgeschafft und die wirtschaftsstrafrechtliche Mietsenkungsmöglichkeit faktisch ausgesetzt haben, hatte mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Zuständigkeit des Bundeslandes Berlin für eine Regelung wie den Mietendeckel im April dieses Jahres einen Höhepunkt gefunden.
Das jetzige Urteil setzt an einer seit vielen Jahren bestehenden Ausnahmeregelung an, die weder in den unzähligen früheren Fällen noch in vorherigen Instanzen jemals bemängelt wurde. Allerdings hatte im Zuge der jüngsten Baugesetzbuchnovelle ein Bundesrats-Ausschuss vor genau dieser möglichen Gesetzeslücke gewarnt. Auch wenn diese Warnung letztlich nicht an den Bundestag übermittelt wurde, muss sich die damalige Große Koalition hier mindestens Fahrlässigkeit vorwerfen lassen.
Die Mieter*innen sind die Leidtragenden
Aber ob am Ende vermutete Klassenjustiz, schlechtes Handwerk oder gar Absicht auf Seiten des Gesetzgebers am Werk waren – für die Mieter:innen ist das einerlei. Sie sind die Leidtragenden der anhaltenden Mietpreisexplosion. Zwar scheinen rechtskräftig ausgeübte Vorkaufsfälle vor möglichen Klagen der damals ausgebooteten Investoren sicher zu sein. Aber neben laufenden Vorkaufsfällen und solchen, bei denen Rechtsmittel eingelegt wurden, scheinen nun selbst abgeschlossene Abwendungsvereinbarungen, in denen sich Investoren auf bestimmte soziale Ziele verpflichtet haben, um den Kauf abzuschließen, gefährdet zu sein.
Das Urteil lähmt den Ausbau kommunaler Wohnungsbestände
Wie dramatisch ist es aber wirklich, wenn das Instrument Vorkaufsrecht nun faktisch lahmgelegt ist? Das Vorkaufsrecht ist in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil kommunaler Wohnungspolitik geworden. Nach Jahrzehnten der Privatisierung streben viele Kommunen nun wieder einen Ausbau ihrer kommunalen Wohnungsbestände an. Besonderes im Fokus steht dabei Berlin, wo einzelne Bezirke, unterstützt von der rot-rot-grünen Koalition, bis dato das Vorkaufsrecht offensiv als Mittel gegen den Ausverkauf der Stadt eingesetzt haben. In inzwischen mehr als 60 Milieuschutzgebieten wurden so mehr als 2.500 Wohnungen durch den direkten Kauf und mehr als 9.000 Wohnungen durch Abwendungsvereinbarungen gesichert. Allerdings ist das weder ein Berliner Phänomen, noch ist der Einsatz des Vorkaufsrechts für Stadtentwicklungsziele neu. Die Stadt München zum Beispiel setzt bereits seit den 1990er Jahren auf das Vorkaufsrecht, um insbesondere auch durch Abwendungsvereinbarungen die Vernichtung von Mietwohnungen durch Eigentumsumwandlungen und das Kippen ganzer Stadtteile durch Gentrifizierungsprozesse zumindest aufzuhalten.
Neben Neubau und Ankauf ist das Vorkaufsrecht ein Weg zu diesem Ziel – der freilich zahlenmäßig nicht den größten Anteil an der (Re-)Kommunalisierung hatte. Aber auf qualitativer Ebene war das Vorkaufsrecht eben doch eine wichtige Möglichkeit in besonders von Gentrifizierung und Verdrängung betroffenen Nachbarschaften Hausgemeinschaften zu schützen. In Berlin hatte die konstante Ausübung des Instruments außerdem einen mobilisierenden Effekt für die Mieter:innenbewegung. Mit einem konkreten Ziel vor Augen schlossen sich vom Verkauf bedrohte Mieter:innen zusammen, organisierten Kundgebungen und Nachbarschaftsfeste um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Auch diese Möglichkeit des Zuwachses der Mieter:innenbewegung bricht erstmal weg.
Vorkaufsrecht: Sinnvoll, trotz Schwachstellen
Das Vorkaufsrecht hatte zweifellos gravierende Schwachstellen. Es konnte in nur wenigen Gebieten überhaupt ausgeübt werden, und dann auch nur zu genau den Preisen, die am Markt aufgerufen wurden. Dass Kommunen zum Schutz weniger Mieter:innen bereit waren, überhöhte Preise zu zahlen und damit vielleicht sogar das Spekulationskarussell mit anzutreiben, war entsprechend eine häufige Kritik, nicht nur von wirtschaftsliberaler und konservativer Seite. Mit der jüngsten Baugesetzbuchreform, die erst im Juni 2021 in Kraft trat, hatte die große Koalition das Instrument zwar etwas gestärkt: Das Vorkaufsrecht kann jetzt nicht nur in Milieuschutz- oder Sanierungsgebieten, sondern auch für untergenutzte Flächen in angespannten Wohnungsmärkten und generell auf „Schrottimmobilien“ angewandt werden, und es ist nun möglich, den Kaufpreis auf den Verkehrswert zu reduzieren. Trotzdem ist jede Ausübung des Vorkaufsrechts ein Kraftakt für die Verwaltung und für die ankaufenden Wohnungsbaugenossenschaften oder städtischen Wohnungsunternehmen, der immer auch mit Rechtsunsicherheiten verbunden ist. Weitreichende Regulierungen des Mietpreises wie ein bundesweiter Mietendeckel hätten schnellere Effekte und die Vergesellschaftung von Wohnungen großer Wohnungskonzerne könnte den Anteil gemeinwirtschaftlichen Eigentums auf einen Schlag erheblich erhöhen, mit strukturellen und nachhaltigen Effekten für die Wohnraumversorgung.
Trotzdem war das Vorkaufsrecht ein wichtiges Instrument – und muss es weiter bleiben. Nicht nur als adäquates und schlagkräftiges Mittel gegen drohende Verdrängung, sondern auch weil es die Vorstellungskraft der Menschen, wozu Wohnungspolitik in der Lage sein kann, erweitert hat. Plötzlich gab es für Mieter:innen, die sich zusammenschließen und gegen den Verkauf ihres Hauses wehren, konkrete Erfolgsaussichten, und plötzlich war «der Staat» wieder handlungsfähig – nach Jahrzehnten neoliberaler Ideologie und erlernter Hilflosigkeit schon ein Wert an sich.
Kaufsumme muss sich an bezahlbaren Mieten orientieren
Die zukünftige Regierungskoalition muss deshalb dringend den entsprechenden Paragraphen (§ 26 Abs. 4) des Baugesetzbuches ändern und die Ausübung des Vorkaufsrechts wieder rechtsicher ermöglichen. Bei dieser Gelegenheit müsste auch gleich der Ankauf zu einem Preis deutlich unterhalb des Marktwerts mit aufgenommen werden, zum Beispiel zum sogenannten Residualwert, der sich an den bestehenden oder an leistbaren Mieten orientiert. Denn warum sollte sich Staat und Kommunen an der Immobilienspekulation beteiligen? Nein, der richtige Weg wäre zweifelsohne, eine Kaufsumme zu zahlen, die sich mit bezahlbaren Mieten auch erwirtschaften lässt.
Die Ampelkoalition scheut sich vor bundesweitem Mietenstopp
Die bisherigen Verlautbarungen der verhandelnden Ampelkoalition im Bereich Wohnungspolitik lassen allerdings auf nichts Gutes hoffen. Bestehende Instrumente der Regulierung des Mietmarktes – wie die mangelhafte Mietpreisbremse – sollen lediglich (wie schon vor wenigen Jahren bereits geschehen) evaluiert und möglicherweise verlängert werden. Von der Einführung eines bundesweiten Mietenstopps, wie ihn ein breites gesellschaftliches Bündnis fordert, ist bisher nicht die Rede. Und eine weitere Entscheidung wird definitiv massive negative Auswirkungen auf die Miethöhen haben: Die Finanzialisierung der Rente wird weiteres Kapital in die Immobilienmärkte spülen. Und das Verwertungskarussell wird sich weiterdrehen.
Lisa Vollmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar mit dem Forschungsschwerpunkt Wohnungspolitik und soziale Bewegungen und ist in der Redaktion von «sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung». Sie ist außerdem seit vielen Jahren aktiv in der mietenpolitischen Bewegung Berlins, unter anderem in der Initiative «Stadt von Unten».