Ein Großteil der 2,4 Millionen migrantischen Arbeiter*innen in Katar kommt aus Nepal und Indien. Aufgrund der weitverbreiteten Armut und der hohen Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern ist diese Arbeitsmigration nicht unbedingt freiwilliger Natur. Aktuell arbeiten knapp 400.000 Nepales*innen in Katar, die meisten im Bausektor, aber auch viele in Hotels, Restaurants und Privathaushalten.
Ihre Rücküberweisungen machen fast ein Drittel von Nepals Bruttoinlandsprodukt aus. Vor allem die gering qualifizierten Arbeiter*innen, die für den Aufbau der Infrastruktur der Fußball-WM 2022 in Katar eingesetzt werden, leiden unter unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ihre Situation, die von einem Mangel an Arbeitsrechten und Rechtsschutz und ungenügenden Gesundheits- und Sicherheitsstandards gekennzeichnet ist, wird als moderne Sklaverei kritisiert. Wesentlich für dieses Migrationsregime ist das sogenannte Kafala-System, in dem Arbeitgeber für die Aufenthalts- und Arbeitsrechte ihrer Arbeiter*innen bürgen und sie damit in ihre Abhängigkeit bringen und ihrer Willkür unterwerfen.
Ulrike Lauerhaß hat mit *Chandra (Name geändert), einem Aktivisten aus einer Gruppe von selbstorganisierten migrantischen Arbeiter*innen gesprochen. Da in Katar lebende und arbeitende Aktivist*innen zunehmend Repressionen ausgesetzt sind, möchten Chandra und seine Organisation anonym bleiben. Das Skype-Gespräch fand am 4. März 2021 statt.
Das Interview ist Teil der Artikelsammlung «Foulspiel mit System - Was wir von der umstrittenen WM in Katar lernen können.» Sie kann bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als gedruckte Broschüre bestellt oder als pdf heruntergeladen werden.
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Wie kam es dazu, dass du heute in Katar arbeitest, und was genau machst du dort?
Ich komme aus dem Nordosten Nepals und habe Betriebswirtschaft an der Tribhuvan-Universität studiert. Um mein Studium zu finanzieren, arbeitete ich für ein kleines Privatunternehmen, aber der Lohn reichte nicht, um das teure Masterstudium zu bezahlen, das ich geplant hatte. Ich fand weder im Privatsektor noch im NGO-Bereich einen passenden, sicheren Job. Im April 2013 beschloss ich also, nach Katar zu gehen, um dort zu arbeiten. Damals gab es eine enorme Migrationswelle in die Golfstaaten und nach Malaysia, die vor allem Jugendliche erfasste. Heute gibt es in Katar über 400.000 migrantische Arbeiter*innen aus Nepal. Als ich dort durch die Straßen lief, begegnete ich vielen, die im Elend lebten. Ich sprach mit ihnen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen und hörte mir ihre Geschichten an. Als ich mit nepalesischen Freund* innen redete, die in Ländern wie Saudi-Arabien, Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) lebten, verstand ich, dass die Verhältnisse in Katar keine Ausnahme sind. Wir wollten etwas dagegen tun, also organisierten wir Treffen, bei denen wir das Problem aus dem Blickwinkel der Menschenrechte und der Gerechtigkeit diskutierten. Wir gründeten eine Initiative, die sich für die Rechte von Arbeitsmigrant*innen einsetzt. Es ist schwierig, sich zu organisieren, aber zum Glück können die Arbeiter*innen aus Nepal über die Feiertage nach Hause reisen. Alle ein bis zwei Jahre bezahlen die Arbeitgeber die Reise, dann können wir uns in Nepal treffen und unsere Strategien usw. besprechen.
Wir wollen Druck auf die Regierung ausüben
Wann habt ihr entschieden, eine eigene Organisation zu gründen?
Wir organisierten ein dreitägiges Strategietreffen mit Teilnehmenden aus Malaysia, Katar, Bahrain, Saudi-Arabien, Oman und Kuwait. Auch Journalist*innen und nepalesische Aktivist*innen, die zu den Themen Menschenrechte und Migration arbeiten, waren dabei. Als wir die Organisation gründeten, einigten wir uns auf drei Kernthemen: erstens das Empowerment von zumeist gering qualifizierten, gering ausgebildeten migrantischen Arbeiter*innen im Niedriglohnsektor, damit auch sie ihre Stimmen im Kampf um Rechte und Gerechtigkeit erheben können. Zweitens wollen wir Druck auf unsere Regierung ausüben, damit sie gegen die überhöhten Anwerbegebühren vorgeht, die die Vermittlungsagenturen in Nepal verlangen. Drittens setzen wir uns dafür ein, dass Arbeitsmigrant*innen aus Nepal im Ausland von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, was auch dem Urteil des Obersten Gerichtshofs entspricht. Im Anschluss an das Treffen vernetzten wir uns weiter in den Aufnahmeländern und erhielten dabei Unterstützung von internationalen NGOs. Wir untersuchten die Arbeits- und Lebensbedingungen von Migrant*innen und sammelten detaillierte Informationen über ihre Lage.
Euer Netzwerk erstreckt sich heute über viele Standorte, eure Website deckt eine große Bandbreite an Themen ab. Wie habt ihr euch vom ersten Treffen 2017 zur heutigen Organisation entwickelt?
Es fing an mit Video-Meetings in Nepal, die immer am letzten Freitag eines Monats auf Social-Media-Kanälen stattfanden. So entstand ein Raum für Diskussionen, Informationsaustausch, Beratung und Organisationsarbeit. Wir luden Aktivist*innen für migrantische Rechte und Menschenrechte sowie Journalist*innen ein und baten sie um Stellungnahmen zu bestimmten Fragen. Wir hatten in jedem Aufnahmeland eine*n Vertreter*in, aber mussten beim Anwerben weiterer Mitglieder vorsichtig vorgehen. In den meisten dieser Staaten sind Gewerkschaften verboten, daher ist Vertrauen für uns unerlässlich. Wir wuchsen langsam, zumeist über Mundpropaganda. Mittlerweile haben wir in Katar rund 35 bis 40 Mitglieder. Wir treffen uns in Kleingruppen auf einen Kaffee oder Tee in einem kleinen Restaurant und tauschen uns dort aus. Einige von uns sind schon wieder nach Nepal zurückgekehrt, da ihre Verträge endeten oder sie ihren Arbeitsplatz infolge der Covid-19-Pandemie verloren haben. Als wir uns Anfang des Jahres trafen, entwickelten wir einen Strategieplan für die nächsten zwei bis drei Jahre. Unser ambitioniertes Ziel ist es, auf 500 bis 600 Mitglieder zu kommen, die sich aktiv dafür einsetzen, die Lage der Arbeitsmigrant*innen zu verbessern.
Nothilfe während der Pandemie
Als die Pandemie ausbrach, wurde die Situation sehr kompliziert, bisweilen sogar chaotisch. Das betraf vor allem die migrantischen Arbeiter*innen, die kein Englisch können und daher auch nicht an Informationen kamen. Wir streamten Live-Videos über Social Media, in denen wir über Covid-19 informierten und erklärten, wie man sich selbst und andere schützen kann. Wir erreichten sehr viele Leute und hatten über 20.000 Follower*innen von überall her. Wir merkten also, dass es da eine große Nachfrage gab. Wir fingen auch an, mit einer NGO zusammenzuarbeiten, um denjenigen Nothilfe (Nahrungs- und Desinfektionsmittel) anzubieten, die von ihren Arbeitgebern keine angemessene Unterstützung erhielten. Derzeit sind wir dreimal die Woche online und besprechen eine Vielzahl von Themen, darunter auch den Kulturaustausch.
Wie sehen die Arbeits- und Lebensbedingungen derzeit während der Covid-19-Pandemie aus?
Schon vor der Pandemie war die Situation für die Arbeitsmigrant*innen belastend, aber nun ist es fraglos noch schlimmer geworden. Wer etwa im Bausektor tätig ist, arbeitet meist in Teams, die sich auch eine Unterkunft teilen. Abstand halten ist dann unmöglich, also infizieren sie sich öfter als andere. Mitte August 2020 habe ich mich selbst mit dem Virus angesteckt und bekam Einblicke in die Quarantäneeinrichtungen. Die Regierung Katars bietet den Betroffenen kostenlose Unterkunft und Verpflegung an, was prinzipiell sehr gut ist. Es ist aber nicht zu übersehen, dass dabei eine große Ungleichheit herrscht: Die höher qualifizierten Arbeiter*innen schicken sie in die Fünf-Sterne-Hotels, während die geringer Qualifizierten in sehr einfachen, ärmlichen Behausungen untergebracht werden und nicht genug zu essen bekommen – und das, obwohl beide Gruppen von derselben Krankheit betroffen sind. Die ohnehin gefährdeten Arbeiter*innen erhalten keine ausreichende Unterstützung und können sich das, was ihnen fehlt, nicht aus eigener Tasche dazukaufen. Dieses Vorgehen Katars ist klar diskriminierend, vor allem angesichts der Tatsache, dass der Staat über ausreichende Ressourcen verfügt, um allen dieselbe umfassende Unterstützung anzubieten. Der Gerechtigkeit halber sollten alle gleichbehandelt werden.
Garantien existieren hauptsächlich auf dem Papier
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und der globale Gewerkschaftsbund Bau- und Holzarbeiter Internationale (BHI) behaupten, die Arbeitsbedingungen in Katars Bausektor hätten sich in den letzten Jahren verbessert. Würdest du dem zustimmen?
Da ist schon etwas dran. Die Bemühungen von ILO und BHI in Katar und der internationale Druck auf die katarische Regierung haben sich positiv auf die Arbeitsbedingungen ausgewirkt – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Positiv ist zudem, dass Menschenrechtsaktivist*innen heute mehr Spielraum gewährt wird – aber auch nur oberflächlich betrachtet. Es gibt die FIFA-Projekte, bei denen für bessere Bedingungen gesorgt wird und gewisse Standards eingehalten werden. Doch die WM-Bauprojekte machen nur zwei Prozent des Bausektors in Katar aus. Die anderen Bauvorhaben, bei denen der Großteil der gering qualifizierten migrantischen Arbeiter*innen eingesetzt wird, erhalten kaum Aufmerksamkeit. Die dort Beschäftigten profitieren nicht von den Verbesserungen, für sie hat sich nichts Wesentliches verändert. Ich will etwas mehr ins Detail gehen: Die Regierung Katars hat tatsächlich Maßnahmen zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Arbeiter*innen eingeführt, etwa im Zusammenhang mit dem Kafala-System. Letztendlich verbessern sie aber nur wenig und sind nichts als Schönfärberei. Bereits 2020 führte die Regierung einen sogenannten nichtdiskriminierenden Mindestlohn ein und schaffte die Verpflichtung ab, die Erlaubnis des Arbeitgebers für einen Arbeitsplatzwechsel einzuholen. Das klingt alles nach Freiheit und Fortschritt, aber diese Garantien existieren hauptsächlich auf dem Papier. Im Großen und Ganzen gibt es immer noch zahlreiche Fälle, in denen Menschen unter unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen leiden. Katar hat bislang nicht genug getan. Als eines der reichsten Länder der Welt ist Katar jedoch in der Lage, migrantische Arbeiter*innen mit Würde zu behandeln und sich für Arbeiter- und Menschenrechte verantwortlich zu zeigen.
Was hältst du von der Idee, die FIFA und ihre WM zu boykottieren, wie es einige deutsche und internationale Gruppen vorschlagen?
Ich verstehe, dass kritisch-progressive Beobachter*innen und Fußballfans verärgert sind, und schätze auch die Bemühungen und die Solidarität hinter dieser Initiative. Aber ich halte sie nicht für eine gute Idee, weil sie das Leben der Arbeitsmigrant*innen nicht verbessern wird. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte diese Initiative etwas bewegen können, aber nun ist es zu spät. Meine Sorge ist, dass die Initiative den Arbeiter*innen schaden und sogar kleine Errungenschaften zunichtemachen könnte.
Deutschland sollte die ILO unterstützen
Denkst du, Gerichtsverfahren sind ein gutes Mittel, um Veränderungen zu bewirken?
Tatsächlich haben wir einen migrantischen Arbeiter unterstützt, der keine Lohnzahlungen erhielt, weil sein Unternehmen Insolvenz angemeldet hatte. Insgesamt wurden in diesem Fall 470 Arbeiter*innen aus Nepal nicht bezahlt, auch die nepalesische Botschaft konnte nicht helfen. In Katar gibt es zwar einen Ausschuss zur Streitschlichtung an den man sich in solchen Fällen wenden kann, aber die Institution konnte diesen Fall nicht klären. Also unterstützten wir den Arbeiter bei seinem Gang vor den Obersten Gerichtshof, der schließlich zu seinen Gunsten entschied und den Staat zur Begleichung der Lohnzahlungen verpflichtete. Das klingt wie eine Erfolgsgeschichte, aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das System nicht funktioniert: Der Fall zog sich über ein Jahr hin, in dem der Arbeiter keinerlei Einkommen hatte und seine Abschiebung befürchten musste. Der Staat kann außerdem in Raten zahlen, sodass der Arbeiter womöglich noch länger auf den Lohn warten muss, obwohl er seinen Teil des Arbeitsvertrags bereits vollständig erfüllt hat. Natürlich sind nicht alle migrantischen Arbeiter*innen bereit oder in der Lage, solche langwierigen Kämpfe auszutragen. Die rechtlichen Mittel bieten ihnen also keinen angemessenen Schutz vor derartigen Ungerechtigkeiten – das System ist unwirksam. Ohne unsere Unterstützung und ohne die vielen anderen, die für den Rechtsbeistand, die Verpflegung, Unterkunft und Reisen während des Verfahrens aufgekommen sind, hätte der Arbeiter seinen Fall nicht vor Gericht bringen können.
Was fordert ihr von Katars Regierung und von anderen Akteure?
Die Regierung Katars sollte gewährleisten, dass alle Arbeitsmigrant*innen unter angemessenen Bedingungen leben und arbeiten können, in Freiheit und Würde und unter Wahrung ihrer Menschenrechte sowie ihrer sozialen und ökonomischen Rechte. Derzeit garantiert die Regierung dies nur einem Bruchteil der migrantischen Arbeiter*innen. Die ILO kann in Katar zwar nur eingeschränkt agieren, dennoch hat sie den Auftrag, dafür zu sorgen, dass dort internationale Arbeits- und Sozialstandards eingehalten werden. Darin liegt ihr Anspruch und auch ihre Stärke. Als eines der mächtigsten Länder weltweit sollte Deutschland die ILO unterstützen, sie zur Wahrnehmung ihres Auftrags anspornen und zugleich Druck auf die FIFA ausüben. Die ersten kleinen progressiven Maßnahmen, die die Regierung Katars getroffen hat, geben uns Hoffnung, dass weitere Schritte möglich sind und auch folgen werden. Die ILO ist weitaus mächtiger als einzelne Arbeiter*innen und sollte daher mutige Forderungen erheben. Ich selbst war als migrantischer Arbeiter in Katar nicht frei, aber vielleicht kommt die nächste Generation in den Genuss der Freiheit, für die wir heute kämpfen.
Ulrike Lauerhass ist in der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Projektmanagerin im Referat Westasien tätig. Für die Adaptierung des Interviews aus dem Englischen sind Utku Mogultay und Andre Hansen von Gegensatz Translation Collective verantwortlich.