Analyse | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Partizipation / Bürgerrechte - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Corona-Krise Die Insel der Extreme

Kuba in Corona-Zeiten: Zwischen Existenzkrise und sensationeller Impfstoffentwicklung

Information

«Schrei der Verzweiflung»: Kubanisches Wandbild Foto: Jenny Morín Nenoff

Als «Schrei der Verzweiflung» hat Leonardo Padura, Kubas prominenter Romanautor, die landesweiten Proteste vom 11. Juli 2021 beschrieben. Diese für den Inselstaat ungewöhnlichen Demonstrationen sind laut Padura nicht nur «das Ergebnis einer langen Wirtschaftskrise und einer punktuellen sanitären Krise, sondern auch eine Krise des Vertrauens und enttäuschter Erwartungen»[1]. Ohne Zweifel trifft Padura mit seiner Empfehlung an die kubanische Regierung «nicht mit den üblichen, seit Jahren immer gleichen Parolen»[2] zu antworten, den Nerv gerade auch junger Kubaner*innen. Sein Aufruf zum konstruktiven Handeln ist ein Appell für umgehende sozialökonomische Lösungen und innenpolitischen Dialog.

Jenny Morín Nenoff promovierte über den aktuellen kubanischen Transformationsprozess und ist als Referentin beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) tätig.

Die Proteste im Juli 2021 ereigneten sich zu einem Zeitpunkt, als die Corona-Inzidenzen trotz der bereits gestarteten Impfkampagne in Havanna in Folge der Ausbreitung der Delta-Variante vor allem in den Provinzen sprunghaft anstiegen und das kubanische Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses gebracht haben. In dieser Situation stieg der angestaute Unmut der Bevölkerung über den stockenden ökonomischen Reformprozess und die Verzweiflung angesichts der äußerst prekären Versorgungssituation mit Lebensmitteln und Medikamenten von Tag zu Tag. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhänger*innen der Regierung und Demonstrant*innen. Die Sicherheitskräfte wurden zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung eingesetzt. Zahlreiche Protestierende wurden verhaftet, darunter Aktivist*innen der Künstler*innenbewegung San Isidro, die sich 2018 aus Protest gegen ein Dekret formierte, in dem sie eine enorme Einschränkung künstlerischer Freiheiten sahen. Angesichts der scheinbar unüberwindbaren Gräben, der politischen Entfremdung, der enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen stellt sich die Frage, ob es auf Kuba zu einem innenpolitischen Dialog kommen wird, den die Protestierenden fordern.

Solche Proteste gab es zuletzt in den 1990er Jahren; diese ereigneten sich jedoch ausschließlich in Havanna. Anders als damals, im August 1994 in Havanna, als es Fidel Castro durch seine direkte Ansprache an die aufgebrachte Bevölkerung gelungen war, die damaligen Proteste in der Hauptstadt unmittelbar zu beenden, reichte die Präsenz des amtierenden Präsidenten Miguel Díaz-Canel auf der Straße in San Antonio de los Baños in der westlichen Provinz Artemisa im Juli 2021 nicht aus, um die Situation zu entschärfen. Statt mit einer Deeskalationsstrategie, reagierte die kubanische Regierung zunächst mit dem Aufruf «Alle Revolutionäre auf die Straße!».

Betrachtet man die Situation 1994, und die jüngsten Demonstrationen in diesem Jahr, wird deutlich, dass die Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen damals und heute offenkundig andere und somit nicht unmittelbar vergleichbar sind. Die Befriedung der Proteste vor knapp über 25 Jahren hatte einen Preis: Nach dem sogenannten Habanazo 1994 öffnete Fidel Castro die Grenzen und duldete die massenhafte Flucht über den Seeweg in die USA. Heute hingegen geht es den Protestierenden nicht vorrangig darum, ins Exil zu gehen. Sie wollen sich auf der Straße Gehör verschaffen und die Politik mitgestalten.

Der für den 15. November 2021 angemeldete «friedliche Marsch für den Wandel» wurde von den kubanischen Behörden mit Verweis auf die nicht-verfassungskonforme subversive Zielsetzung der Demonstration untersagt. Eine der zentralen Forderungen der Initiator*innen ist die Freilassung der inhaftierten Kubaner*innen der Proteste vom 11. Juli. Sie werden unterstützt von dem weltweit renommierten kubanischen Komponisten und Sänger Sílvio Rodríguez, der nach einem Treffen mit mehreren Angeklagten bereits für eine Amnestie plädierte.

Der Rede des kubanischen Präsidenten Díaz-Canel vor dem Parlament Ende Oktober 2021 lässt sich entnehmen, dass die kubanische Regierung einige Lehren und Schlussfolgerungen aus den Protesten gezogen hat. Díaz-Canel bekräftigt «die Notwendigkeit, neue Arbeitsstile einzuführen, die der sozialen Heterogenität des Landes entsprechen und die Anliegen und Beiträge der Bürger*innen angemessen kanalisieren, sowie dass jede Forderung innerhalb des festgelegten Zeitrahmens und nach dem festgelegten Verfahren rechtzeitig, sachdienlich und fundiert beantwortet wird».

In seiner Ansprache spricht der amtierende Präsident auch vom «Prinzip der gemeinsamen Verantwortung» und betont, dass «die sozialistische Demokratie verlangt, die Formen der demokratischen Beteiligung zu erneuern, zu verändern und ständig umzugestalten».[3] Es bleibt abzuwarten, ob dies eine tragfähige Basis für den notwendigen innenpolitischen Dialog ist.

Multidimensionale Krise als Protestursache

Die US-amerikanische und zum Teil die mediale Berichterstattung in Deutschland tendiert zu einer verkürzten Darstellung der Ereignisse auf Kuba, die den sozio-ökonomischen Hintergrund der Krise auf monokausale Ursachen und simplifizierte Schuldzuweisungen reduziert. Dies wird der höchst komplexen kubanischen Realität jedoch nicht gerecht.

Die Pandemie hat Kuba, wie alle Länder des Globalen Südens, die vom internationalen Tourismus abhängig sind, sehr hart getroffen. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied, der die Situation des sozialistischen Inselstaates gravierend erschwert: Das US-amerikanische Handels-, Wirtschafts- und Finanzembargo gegen Kuba, das von der Trump-Administration in einem bisher nicht gekannten Ausmaß verschärft wurde. Die strengen Maßnahmen der Regierung Trump, die den Annäherungsprozess von Präsident Barack Obama und Raúl Castro rückgängig machten, umfassen die Einschränkung von Flügen nach Kuba, die Verhängung eines Limits für dringend benötigte Überweisungen von Kubaner*innen im Ausland an ihre Familienangehörigen in Kuba (die sogenannten remesas), sowie die Verschärfung der Sanktionen gegenüber internationalen Banken, die mit Kuba Geschäfte machen.

2020 brach das Bruttoinlandsprodukt um 10,9 Prozent ein, im ersten Halbjahr 2021 gab es einen weiteren Rückgang von zwei Prozent. Heute befindet sich die Inselwirtschaft inmitten der schwersten Rezession seit den 1990er Jahren. Durch die Verschärfung des Embargos und die verheerenden Folgen der Pandemie gingen Kuba Einnahmen in Höhe von mehr als 3 Milliarden US-Dollar verloren. All dies hat die Möglichkeiten der Regierung eingeschränkt, die wesentlichen Ausgaben zur Aufrechterhaltung der staatlichen Versorgung, vor allem mit Lebensmitteln und Medikamenten, sowie die für die Stabilität des nationalen Stromnetzes erforderlichen Ausgaben zu bestreiten.

Die ständigen Stromausfälle sind jedoch nicht nur auf fehlende Investitionen in die marode Infrastruktur, sondern auch auf die deutliche Einschränkung der venezolanischen Lieferung von Erdöl zu günstigen Bedingungen zurückzuführen; diese decken normalerweise 50 Prozent des kubanischen Bedarfs.

Zur Wahrheit gehört auch, dass einige Probleme hausgemacht sind. Die Umsetzung der «Währungs- und Devisenvereinheitlichung», also der Abschaffung der Parallelwährung des Konvertiblen Peso (CUC), zu Beginn des Jahres 2021, die zwar langfristig zu positiven Ergebnissen führen soll, hat kurzfristig viele der bisherigen Probleme verschärft, wie z. B. einen enormen Anstieg der Inflation, einen spürbaren Anstieg der Warenpreise und eine gravierende Lebensmittel- und Medikamentenknappheit. Da sich der chronische Devisenmangel des kubanischen Staates im Zuge des Pandemie-bedingten Ausbleibens des internationalen Tourismus verschärfte, wurde die partielle Dollarisierung bereits Anfang 2020 in Vorbereitung auf die anstehende Währungsreform eingeführt. Diese Maßnahme war sicherlich notwendig, um den Zahlungsverpflichtungen für Lebensmittelimporte nachzukommen, die nur in Devisen beglichen werden können. Die Kombination der Teil-Dollarisierung des Einzelhandels und die ausufernde Inflation, die von Experten auf 470 Prozent[4] geschätzt wird, trifft jedoch gerade die vulnerable Bevölkerung in Kuba sehr hart und erzürnt verständlicherweise die Gemüter vor allem derjenigen, deren sozio-ökonomische Lage äußerst prekär ist, da sie keinen Zugang zu Devisen haben und daher die wenigen verfügbaren Lebensmittel zu überteuerten Preisen in Dollar nicht kaufen können.

Das Maßnahmenpaket, das die Abschaffung des CUC, die Einführung eines neuen offiziellen Wechselkurses für den kubanischen Peso (CUP) und die Reform der Preise, Löhne und Renten umfasst, wird offiziell als «Tarea Ordenamiento» (Ordnungsaufgabe) bezeichnet. Es ist der Versuch, die bisherigen multiplen Währungs- und Wechselkure neu zu ordnen. Mit der staatlichen Lohnreform, als Bestandteil des Maßnahmenpakets, wurden 32 Lohntarife mit einem Mindestlohn von 2.100 Pesos (87,50 US Dollar) und einem Höchstlohn von 9.510 Pesos (396,25 US Dollar) eingeführt. Die Inflation macht jedoch die Lohnerhöhung völlig zunichte.

Die Abschaffung des CUC und die Wechselkursreform wurde seit 2011 geplant und nun nach zehn Jahren umgesetzt. Das «Timing» zur Umsetzung dieser notwendigen und komplexen Reform ist denkbar schlecht gewählt, weil diese zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem das Angebot an Devisen aufgrund des Pandemie-bedingten Stillstands des internationalen Tourismus eingeschränkt ist.

Ausbau des nicht-staatlichen Sektors

Ein weiterer Reformschritt, der seit 2011 von kubanischen und ausländischen Expert*innen gefordert wird, ist die Einführung von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs), die mit der Rechtsform einer deutschen GmbH vergleichbar sind. Mit dem Gesetzesdekret 46, welches im August 2021 veröffentlicht wurde und im September 2021 in Kraft trat, ebnet die kubanische Regierung den Weg für einen weiteren Akteur des nicht-staatlichen Sektors, der sich bisher aus Selbstständigen (cuentapropistas) und Produktions- und Dienstleistungskooperativen (Cooperativas no agropecuarias CNA) zusammensetzte. Die Gründung der ersten 35 kleinen und mittleren Unternehmen (auf Kuba unter der Abkürzung MIPYMES bekannt) ist genehmigt worden. Drei dieser Betriebe entstammen dem Staatssektor, die übrigen sind privat. Sie sind in der Lebensmittelherstellung und in der herstellenden Industrie, als auch in der Recyclingbranche verortet. Einige MIPYMES gründeten sich an Havannas Technologiepark, der im Sommer 2020 an der Informatikuniversität (UCI) eröffnet wurde und das Ziel verfolgt, den Privat- und Staatssektor mit ausländischen Investoren zusammenzubringen. Diese KMUs können bis zu 100 Angestellte beschäftigen und werden moderat besteuert. Um eine erfolgreiche Entwicklung dieser neuen Unternehmen zu gewährleisten, ist die vorgesehene Verzahnung mit den staatlichen Unternehmen und den Kooperativen, sowie der vereinfachte Zugang zum Außenhandel ausschlaggebend.

Sensationelle Impfstoffentwicklung in Corona-Zeiten

Als die kubanische Regierung im Mai 2020 entschied, keine Impfstoffe zu importieren und stattdessen auf die Entwicklung eigener Vakzine zu setzen, waren viele skeptisch. Trotz der knappen Ressourcen und erschwerten Bedingungen ist es Kuba jedoch gelungen, in kürzester Zeit zwei Impfstoffe Abdala und Soberana-2 zu entwickeln.

Die Erklärung für diesen Erfolg ist der seit den Achtzigerjahren systematisch aufgebaute Biotech-Sektor und die etablierte Forschungs- und Produktionsstruktur. Der Fokus lag bereits vor der Pandemie auf der Entwicklung von Impfstoffen – nicht nur für den Eigenverbrauch, sondern auch für den Export in Länder des globalen Südens.

Die Exportperspektive für die eigenen Impfstoffe ist gerade in der aktuellen schweren wirtschaftlichen Rezession wichtig. Mit Ländern, die eigene Produktionskapazitäten haben, wie Argentinien oder Vietnam, wären auch Lizenzabkommen denkbar. In der Vergangenheit hat die Weltgesundheitsorganisation kubanische Vakzine für Impfkampagnen in Ländern des Globalen Südens gekauft. Dies wäre durchaus auch in der aktuellen Pandemie denkbar. Ein weiterer Grund, der dafür spricht, ist die Tatsache, dass sich proteinbasierte Impfstoffe wie die kubanischen auch für Auffrischungsimpfungen eignen.[5]

Es bleibt zu hoffen, dass dieser bahnbrechende Erfolg im Rahmen der Impfstoffentwicklung sich auch auf die Reformbemühungen überträgt, damit Kuba zeitnah nicht nur die gesundheitliche Krise bewältigt, sondern auch die sozio-ökonomische.

Kuba braucht eine neue Erzählung von sich selbst

Alle Gesellschaften weltweit stehen angesichts der Folgen der Corona-Pandemie und der Klimakrise vor der Herausforderung ihre Lebens- und Handlungsweisen zukunftsfähig zu gestalten.

Im Falle Kubas geht es jedoch um weit mehr. Die kubanische Gesellschaft und die politische Führung des Landes sind gezwungen, sich neu zu erfinden, da die historisch gewachsenen Strukturen der Einheit, über die allgemeinhin als unidad gesprochen wird und die Denkmuster der Kontinuität, die dazugehörige continuidad, offensichtlich nicht mehr die gegenwärtige ökonomische Heterogeniät und gesellschaftliche Vielfalt abzubilden vermögen.

Es ist fraglich, ob das historische kubanische Modell des demokratischen Sozialismus, welches auf den Strukturen der «Volksmacht» (Poder Popular) beruht, die Vorstellungen von demokratischer Partizipation der jüngeren Generationen von Kubaner*innen befriedigen kann. Denn es ist auch verständlich, dass viele kubanische Bürger*innen eines Sozialismus überdrüssig sind, der eine bessere Zukunft verspricht, aber den Alltag zu einer frustrierenden Odyssee werden lässt.

Die Liste der ökonomischen, sozialen und innen-, sowie außenpolitischen Herausforderungen, die Kuba zu bewältigen hat, ist lang. Es gilt zwischen denjenigen Problemstellungen zu unterscheiden, die Kuba aus eigener Kraft und mit den vorhandenen Ressourcen sowie mit dem nötigen politischen Willen bewältigen kann und denjenigen die von externen Faktoren abhängen, die außerhalb der Reichweite der kubanischen Regierung liegen. Während die kubanische Regierung auf die erneute Lockerung oder sogar Aufhebung des US-amerikanischen Handels-, Wirtschafts- und Finanzembargos gegen Kuba kaum Einfluss nehmen kann, liegt es in ihrer Verantwortung die 2011 begonnenen strukturellen Reformen konsequent umzusetzen, indem sie gesetzliche Rahmenbedingungen derart gestaltet, dass reale ökonomische Gestaltungsräume für alle Wirtschaftsakteure und neue Formen konstruktiver politischer Mitgestaltung und Partizipation geschaffen werden. Um das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Führung wiederherzustellen, muss sie kurzfristig effiziente Maßnahmen ergreifen, um die Inflation einzudämmen und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu stabilisieren. Von entscheidender Bedeutung ist auch die Priorisierung der sozialen Unterstützungsmaßnahmen für die vulnerabelsten Gruppen in der Bevölkerung. Mittel- und langfristig müssen die Voraussetzungen für eine deutliche Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten geschaffen werden, um die umfangreichen Lebensmittelimporte zu reduzieren und die knappen Devisen beispielsweise verstärkt in die Sanierung der maroden Infrastruktur zu investieren.

Damit dem «Schrei der Verzweiflung» nun ein konstruktiver Dialog folgen kann, müsste ein kleinster gemeinsamer Nenner identifiziert werden, der ohne die Zugeständnisse aller Akteure wohl nicht gefunden werden kann.