Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Zurück an die Wahlurnen

In Venezuela haben die Regionalwahlen dieses Mal eine besondere Bedeutung.

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Am Sonntag, dem 21.11.2021, sind die venezolanischen Wähler*innen dazu aufgerufen, verschiedenste regionale und kommunale Vertreter*innen zu wählen. CC BY-NC 2.0, Globovision / flickr

Die rechte Opposition nimmt nach mehrjährigem Boykott fast komplett an den Regional- und Kommunalwahlen in Venezuela teil. Ihre Spaltung könnte dem Regierungslager jedoch den Sieg bringen. Eine besondere Bedeutung kommt den Wahlen zudem zu, weil sie zu Machtverschiebungen innerhalb der politischen Lager führen könnten.

Eigentlich gehören Regional- und Kommunalwahlen nicht zu den wichtigsten Ereignissen in Venezuela. Dieses Mal jedoch ist vieles anders. Denn wenn die Wähler*innen am Sonntag inmitten von Pandemie und Wirtschaftskrise dazu aufgerufen sind, 23 Gouverneur*innen, 335 Bürgermeister*innen sowie regionale und lokale Abgeordnete zu wählen, steht auch der Großteil der rechten Opposition auf den (digitalen) Wahlzetteln.

Nach drei Jahren beenden die vier großen venezolanischen Oppositionsparteien somit ihre gescheiterte Boykottstrategie und de facto auch das Kapitel Juan Guaidó. Als sich dieser im Januar 2019 mit Rückendeckung der US-Regierung zum Interimspräsidenten erklärte, zog noch die gesamte Opposition mit. Heute wirkt Guaidó, der sich bis zuletzt gegen eine Wahlteilnahme ausgesprochen hatte, weitgehend isoliert. Das Lager des zweifachen Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles hatte bereits seit vergangenem Jahr gefordert, die Opposition solle trotz widriger Bedingungen an Wahlen teilnehmen, um politische Räume nicht kampflos aufzugeben. Nach Verhandlungen mit moderateren Regierungsgegner*innen gehören seit Frühjahr zwei von fünf Mitgliedern des Nationalen Wahlrats (CNE) der Opposition an. Zuvor war das Verhältnis jahrelang vier zu eins zugunsten des Chavismus gewesen. Ende August erklärte sich die Opposition dann mehrheitlich zur Wahlteilnahme bereit. Erstmals seit 15 Jahren ist die EU mit einer Beobachtungsmission präsent. Und auch das US-amerikanische Carter Center und die Vereinten Nationen haben Wahlbeobachter*innen vor Ort.

Für Präsident Nicolás Maduro kann die Verlagerung des Machtkampfes zurück an die Wahlurnen also einen Schritt hin zu mehr demokratischer Legitimität bedeuten, die ihm sowohl die Opposition als auch Teile der internationalen Gemeinschaft absprechen. «Ich rufe dazu auf, wählen zu gehen und die Ergebnisse zu respektieren», erklärte er am Dienstag vor den Wahlen. Ein wichtiger Gradmesser wird tatsächlich die Beteiligung sein. Bei der letzten Regionalwahl 2018 lag sie bei 46 Prozent, bei der Parlamentswahl 2020 gaben gerade einmal 30,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die überwiegende Teilnahme der Opposition wird die Wahlbeteiligung wohl etwas erhöhen. Nach den schwer nachvollziehbaren Strategiewechseln der letzten Jahre und der fortlaufenden Diskreditierung des Wahlsystems ist es für die rechte Opposition jedoch nicht einfach, ihre Wähler*innen zu mobilisieren. «Sie kann die Frage, warum die Leute zuvor nicht, nun aber schon wählen sollen, nicht beantworten», betonte der Soziologe Damián Alifa in einer Debatte auf dem linksalternativen Internetportal PH9. Auch sei den Wähler*innen nicht klar, inwiefern ein oppositioneller Wahlsieg konkrete Auswirkungen für ihr Leben hätte. Die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) hingegen kann noch immer auf eine relativ feste Stammwähler*innenschaft von 20 bis 30 Prozent setzen. Hinzu kommt, dass die Opposition nicht geschlossen auftritt.

Zersplitterung der Stimmen

Insgesamt werden am Sonntag, dem 21.11.2021, 3.082 Ämter neu besetzt. Bislang bekleidet die PSUV 300 Bürgermeister*innen- sowie 19 Gouverneur*innen-Posten und stellt auch die klare Mehrheit der lokalen sowie regionalen Abgeordneten. Während sie nach internen Vorwahlen im August für jedes Amt jeweils eine*n Kandidat*in nominierte, stehen dem etwa 67.000 oppositionelle Kandidat*innen gegenüber. Die Opposition ist entlang der Frage nach der richtigen Strategie gespalten und konnte sich nur in wenigen Fällen auf aussichtsreiche gemeinsame Kandidaturen einigen. In einstigen oppositionellen Hochburgen wie den westlichen Bundesstaaten Zulia, Táchira oder Mérida könnte dies zwar zum Wahlsieg reichen – aufgrund der Zersplitterung der Stimmen hat die PSUV aber gute Chancen, landesweit erneut stärkste Kraft zu werden. Zudem verfügt sie im Vergleich zu den übrigen politischen Kräften über eine eingespielte Wahlkampfmaschinerie. Neben ideologischen Fragen stehen im Wahlkampf Alltagsthemen wie der mangelhafte Zugang zu Wasser, Strom oder Benzin, teilweise auch die extrem niedrigen Löhne und Korruption im Vordergrund. Während die PSUV die Probleme überwiegend den US-Sanktionen zuschreibt, machen oppositionelle Kandidat*innen vor allem die Ineffizienz der Regierung verantwortlich.

Neben dem von der PSUV dominierten Regierungsbündnis «Großer Patriotischer Pool» nehmen an den Wahlen drei weitere Parteienbündnisse teil. Hinzu kommen zahlreiche unabhängige, teils nur lokal verankerte Gruppierungen wie etwa die «Fuerza Vecinal», die im Juni maßgeblich von den Bürgermeistern des wohlhabenden Ostens von Caracas gegründet wurde.

Der Großteil des Oppositionssektors, der bisher hinter Juan Guaidó stand, tritt als «Tisch der Demokratischen Einheit» (MUD) an. Bei der Parlamentswahl 2015 hatte der MUD als breites Oppositionsbündnis seinen bisher einzigen Wahlsieg gefeiert. Im Zuge des folgenden Machtkampfes mit der Regierung verlor es allerdings an Bedeutung. 2018 untersagte das Oberste Gericht (TSJ) dem MUD die Teilnahme an Wahlen mit der Begründung, dass es sich nicht um eine Partei, sondern ein Bündnis mit Doppelmitgliedschaften handele. Erst im Juli dieses Jahres ließ das TSJ den MUD wieder zu. Heute wird der MUD mehr denn je von den rechten Flügeln der vier größten Oppositionsparteien Primero Justicia, Voluntad Popular, Acción Democrática und Un Nuevo Tiempo dominiert, die auch als «G4» bekannt sind.

Das zweite Bündnis «Demokratische Allianz» ist ein Zusammenschluss moderater Oppositionsparteien, die sich im vergangenen Jahr von der Boykottstrategie der großen Parteien distanzierten und bei der Parlamentswahl einige Sitze gewinnen konnten. Aus Sicht der G4-Parteien gilt die moderate Opposition als von der Regierung korrumpiert.

Links von der PSUV tritt wie schon bei der letzten Parlamentswahl das Bündnis «Revolutionär-Populare Alternative» (APR) an. Diesem gehören die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV), die gewerkschaftsnahe Partei Heimatland für Alle (PPT) sowie weitere kleine linke Gruppen an, die sich im vergangenen Jahr von der Regierung Maduro losgesagt haben. Sie werfen der PSUV einen Rechtsruck, eine privatisierungs- und unternehmer*innenfreundliche Politik sowie Repression gegen die ärmeren Bevölkerungsteile und organisierten Arbeiter*innen vor. Da die APR als Bündnis nicht zu Wahlen zugelassen ist und das Oberste Gericht die Führung der PPT dem regierungstreuen Minderheitsflügel zugesprochen hat, treten die APR-Kandidat*innen wie im vergangenen Jahr auf dem Ticket der PCV an. Damals gewannen sie allerdings lediglich einen Parlamentssitz. Auch dieses Mal hat das linke Bündnis nur Außenseiterchancen. Ein Achtungserfolg ist im westlichen Bundesstaat Portuguesa möglich, wo die APR gemeinsam mit anderen kleinen Parteien die dortige chavistische Ex-Gouverneurin Antonia Muñoz unterstützt. Die Kommunist*innen selbst sehen sich von allen Parteien am stärksten benachteiligt. Unter anderem erteilte der Nationale Wahlrat 14 ihrer Kandidat*innen ohne ausreichende Begründung ein Antrittsverbot, darunter dem ehemaligen Handelsminister Eduardo Samán im chavistisch dominierten Westen von Caracas.

Verhandeln Regierung und Opposition nach den Wahlen wieder?

Die Regierungspartei PSUV versucht nach allen Kräften eine Zersplitterung des Chavismus zu vermeiden und ihre Anhänger*innenschaft wieder stärker zu mobilisieren. Am 8. August hielt sie erstmals seit Jahren offene Vorwahlen ab, an denen sich etwa 3,5 Millionen Menschen beteiligten. Offiziell hat die Partei acht Millionen Mitglieder. Teilweise kam es bei den Vorwahlen zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen parteiinternen Fraktionen. Am Ende setzten sich überwiegend die Wunschkandidat*innen der Parteiführung durch, bei knappen Ergebnissen entschied diese zudem selbst über die Kandidatur. Doch gibt die PSUV im Wahlkampf kein einheitliches Bild ab. In einigen Bundesstaaten versuchen ihre Kandidat*innen, auf leichte Distanz zur Partei zu gehen, indem sie in ihren Kampagnen etwa die Parteifarbe Rot vermeiden oder zusätzlich Logos mit eigenem Profil verwenden. Die Hoffnungen der linken chavistischen Basis ruhen auf wenigen Kandidaturen wie jener von Ángel Prado im Municipio Simón Planas des Bundesstaates Lara. Der anerkannte Basisaktivist gehört der «Comuna El Maizal» an, einer der produktivsten ländlichen Comunas (basisdemokratisch organisierte, territoriale Einheiten) in Venezuela. In der Vorwahl setzte er sich gegen den amtierenden Bürgermeister Jean Ortiz durch, der das Parteiestablishment hinter sich hatte. Der Fall ist auch deshalb bedeutend, weil Prado 2017 als Bürgermeisterkandidat der APR gegen die PSUV antrat und die meisten Stimmen erhielt. Der Nationale Wahlrat erklärte damals jedoch aus umstrittenen formalen Gründen Ortiz zum Sieger.

Trotz der zersplitterten Opposition dürfte die regionale politische Landkarte Venezuelas wieder etwas bunter werden. Auch die Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition scheint nach den Wahlen möglich. Unter Vermittlung Norwegens hatten Mitte August Gespräche begonnen, die auch zur jetzigen Wahlteilnahme der Opposition beigetragen haben. Die beiden Delegationen hatten sich auf insgesamt sieben Verhandlungsthemen geeinigt, darunter politische Rechte und Wahlen, Sanktionen sowie politisches und soziales Zusammenleben. Der Opposition geht es bei den Verhandlungen vor allem um Garantien für freie Wahlen und die Freilassung der von ihnen als politische Gefangene betrachteten Personen. Für die Regierung hingegen steht ein Ende der Sanktionen und die Anerkennung der gewählten Institutionen im Mittelpunkt. Nach drei Treffen zog sich die Regierungsdelegation Mitte Oktober allerdings vorerst vom Verhandlungstisch zurück. Hintergrund ist die Auslieferung des in Kolumbien geborenen Unternehmers Alex Saab von Kap Verde in die USA, wo ihm wegen Geldwäsche der Prozess gemacht wird. Saab, der im Juni 2020 bei einem Tankstopp in dem westafrikanischen Inselstaat verhaftet worden war, soll in den vergangenen Jahren mittels Briefkastenfirmen Lebensmittel und Güter des Grundbedarfs aus Ländern wie Mexiko, der Türkei und Iran nach Venezuela importiert haben. Ziel war die Umgehung der US-Sanktionen für das venezolanische Lebensmittelprogramm Clap (Lokale Produktions- und Versorgungskomitees). Die venezolanische Regierung bezeichnete Saab nach der Verhaftung als «offiziellen Diplomaten» und versuchte zuletzt, ihn in die Verhandlungsdelegation in Mexiko mit aufnehmen.

Ob die Verhandlungen noch Erfolg haben können, hängt ohnehin vor allem von der Haltung der US-Regierung ab, denn nur sie kann die Sanktionen aufheben. Vorangegangene Dialogversuche in der Dominikanischen Republik (2017/2018) sowie Oslo und Barbados (2019) waren jeweils auch an den USA gescheitert. Im August 2019 endeten die letzten Gespräche dadurch, dass die Trump-Administration neue Sanktionen verhängte. Der damalige US-Präsident hatte sich beharrlich geweigert zu akzeptieren, dass Maduro zunächst weiter im Amt bleibt.

Die nun unterbrochenen Verhandlungen hatten aus Sicht vieler Venezolaner*innen allerdings ein Legitimitätsproblem. In Mexiko nahmen neben der Regierung nur die sogenannten G4-Parteien teil. Laut Umfragen fühlt sich die Mehrheit der Bevölkerung heute jedoch weder von der Regierung noch dem dominierenden Sektor der rechten Opposition repräsentiert. In Mexiko fehlten Vertreter*innen der moderaten und linken Opposition. Der radikale Oppositionsflügel um María Corina Machado und Antonio Ledezma lehnt ohnehin jegliche Gespräche mit der Regierung ab und boykottiert weiterhin die Wahlen. Eine tragfähige politische Lösung müsste mittelfristig auch alternative chavistische Sichtweisen und andere gesellschaftliche Gruppen mit einbeziehen. Kurzfristig muss vor allem die Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung im Vordergrund stehen.

Die anstehenden Wahlen könnten im Hinblick auf die Verhandlungen auch deshalb relevant sein, weil sie zu Machtverschiebungen innerhalb der politischen Lager führen könnten. Dies gilt insbesondere für die Opposition. Zudem könnten sich auf regionaler und kommunaler Ebene vereinzelt neue politische Akteur*innen etablieren, die sich der gewohnten Polarisierung entziehen. Nachdem der Versuch eines schnellen Umsturzes gescheitert ist, wird sich je nach Ergebnis voraussichtlich eine neue, mittelfristig angelegte Oppositionsstrategie abzeichnen. Nächstes Jahr wäre laut Verfassung ein Abberufungsreferendum gegen Präsident Maduro möglich. Die nächsten regulären Präsidentschaftswahlen stehen 2024 an. Insgesamt dürften bei diesen Wahlen die Weichen  für eine weitere Öffnung demokratischer Räume oder aber eine erneute Intensivierung des politischen Machtkampfes unter autoritären Vorzeichen gestellt werden.

Update (24.11.2021): PSUV gewinnt, aber holt landesweit weniger als die Hälfte der Stimmen

Die politische Landkarte in Venezuela bleibt auch nach den Wahlen vom 21.11.2021 überwiegend rot. Die Regierungspartei PSUV von Präsident Nicolás Maduro gewann mindestens 19 von 23 Gouverneursposten und 205 von 335 Rathäusern, darunter in fast allen wichtigen Städten. Im Munizip Simón Planas setzte sich der anerkannte chavistische Basisaktivist Ángel Prado deutlich durch. In einem Bundesstaat und zwölf Ortschaften waren die Ergebnisse zwei Tage nach der Wahl noch offen. Die EU-Wahlbeobachtungsmission übte in ihrem vorläufigen Bericht zwar bekannte Kritikpunkte an den Wahlbedingungen, betonte aber klare Fortschritte im Vergleich zu den vergangenen Jahren.

Neben dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Zulia im Westen des Landes gewann die Opposition auch das zentral gelegene Cojedes sowie den Inselstaat Nueva Esparta. Das Endergebnis zeigt auch Verschiebungen innerhalb des oppositionellen Lagers auf. In Zulia und Cojedes setzten sich jeweils die Kandidat*innen des «Tisch der Demokratischen Einheit» (MUD) durch, dem Bündnis der vier größten Oppositionsparteien. In Nueva Esparta hingegen gewann mit Unterstützung des moderaten Oppositionsbündnisses «Demokratische Allianz» der Kandidat der neu gegründeten Partei «Fuerza Vecinal». Von den 117 oppositionellen Bürgermeister*innen stellt der MUD künftig 59, die «Demokratische Allianz» 37 und kleinere Oppositionsparteien sowie regionale Bündnisse 21.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Sieg der PSUV jedoch als weniger überzeugend, als es die Verteilung der Ämter suggeriert. Die Wahlbeteiligung lag bei gut 42 Prozent. Von den landesweiten Stimmen entfielen auf die PSUV lediglich 45 Prozent, die Partei profitierte also eindeutig von der Spaltung der oppositionellen Stimmen. Mit gut 3,7 Millionen Wähler*innen haben die regierenden Chavist*innen nur noch 17 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich.

Doch ein Abberufungsreferendum gegen Maduro im kommenden Jahr wäre riskant. Denn die Regierungsgegner*innen können momentan nicht aufzeigen, wie es nach einer möglichen Abwahl Maduros weitergehen sollte. Kurzfristig wären sie nicht einmal in der Lage, sich auf eine gemeinsame Präsidentschaftskandidatur zu einigen. Es spricht daher aus Sicht der Opposition viel dafür, sich auf die nächste reguläre Präsidentschaftswahl 2024 zu konzentrieren.