«Bringing Assad to Justice» ist der neueste Film der beiden irischen Filmemacher*innen Ronan Tynan und Anne Daly. Die Dokumentation behandelt ausgehend von dem vor dem Oberlandesgericht in Koblenz stattfindenden Prozess gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes die Anstrengungen von Exil-Syrer*innen und Menschenrechtsanwält*innen, Beweise für Kriegsverbrechen des Assad-Regimes sicherzustellen. Der Film kann über digitale Streaming-Dienste abgerufen werden.
Bereits 2018 hatten sich die beiden Filmemacher*innen in einem Dokumentarfilm mit Syrien beschäftigt. «Syria. The Impossible Revolution» erzählt die Geschichte der syrischen Revolution von den ersten Protesten bis zum Fall von Aleppo. Beide Filme wurden mit internationalen Filmpreisen ausgezeichnet. Anlässlich der Premiere von «Bringing Assad to Justice» in Berlin Anfang Oktober sprach Harald Etzbach mit Anne Daly und Ronan Tynan über ihren Film, über journalistische Werte und die Gefahren der Straflosigkeit bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen des Nahen Ostens und zur US-amerikanischen Außenpolitik.
Harald Etzbach: Zunächst, was ist euer beruflicher Hintergrund? Wie seid ihr zum Filmemachen gekommen?
Ronan Tynan: Wir haben Esperanza Film Productions vor etwa 25 Jahren gegründet, was sich nach einer langen Zeit anhört. Wir sind also professionelle Filmemacher*innen. Und es hat sich ergeben, dass wir immer wieder – was nicht unbedingt beabsichtigt war – Dokumentarfilme über Menschen machen, die friedlich kämpfen oder sich als Verteidiger*innen der Menschenrechte von anderen einsetzen. So haben Anne und ich uns auch kennengelernt, unser gemeinsamer Hintergrund liegt sehr stark in der Menschenrechtsarbeit.
Anne Daly: Ich habe für den öffentlichen Rundfunk in Irland gearbeitet; einige Jahre lang haben wir ein Programm mit dem Titel «Worlds Apart» gemacht. Als junge Reporterin bin ich etwa zehn Jahre lang viel gereist und habe ein Jahr in Lateinamerika gearbeitet, vor allem in Honduras, Nicaragua und El Salvador – immer mit dem Schwerpunkt auf Menschenrechtsfragen. Als jemand, der aus Irland kommt, hatte ich immer das Gefühl, dass die kulturelle Verbundenheit zwischen Irland und den Vereinigten Staaten sehr stark ist, und die Kritik vor allem in den 1980er und 1990er Jahren an der Rolle der Vereinigten Staaten in Mittelamerika war sehr interessant. Es gab hier so viele Gruppen, die den Vereinigten Staaten kritisch gegenüberstanden. Anders als heute, wenn es um Syrien geht, war das ein sehr fruchtbarer Boden, um Teil von Netzwerken zu sein, die sehr unterstützend waren. Nach der Gründung von Esperanza Productions habe ich parallel dazu als Journalismus-Dozentin am Griffith College hier in Dublin gearbeitet, wo wir viele internationale Studenten haben.
Warum und wann habt Ihr angefangen, euch mit Syrien zu beschäftigen? Gab es einen bestimmten Katalysator oder Auslöser?
AD: Mein besonderes Interesse an Syrien begann nach dem Mord an Marie Colvin1 2012 während der Belagerung von Homs. Wie wir heute wissen, befand sich Marie Colvin, als sie aus Homs berichtete, inmitten einer außerordentlich gefährlichen Situation. Und dennoch erzählte sie diese Geschichte sehr ruhig, sehr sachlich, immer mit dem Fokus auf die Zivilgesellschaft. Wenn man sich ein wenig mit Marie Colvins eigener Geschichte befasst, wird man feststellen, dass sie in den Monaten zuvor in London über die Rolle von Journalist*innen und die Bedeutung der Zivilgesellschaft gesprochen hat. Für mich als jemand, der zu dieser Zeit Journalismus unterrichtete, war das ein sehr eindringlicher Vortrag über die Werte des Journalismus, die Aufgaben von Journalist*innen, insbesondere in der sich damals entwickelnden Medienlandschaft, der Rund-um die Uhr-Berichterstattung, über die Bedeutung von Namen, über die Technologie, die die Desinformation in unsere Lebensräume beamt, und die Verantwortung, die wir in dieser Situation haben.
RT: Ich denke, wenn man sich den Fall von Marie Colvin ansieht, geht es nicht nur darum, dass eine westliche Journalistin ermordet wurde, sondern eine westliche Journalistin, die im wahrsten Sinne des Wortes eine Verteidigerin der Menschenrechte war, die uns nicht nur gezeigt hat, wie wir uns für das leidende syrische Volk einsetzen können, das friedlich für die Dinge kämpft, die wir als selbstverständlich ansehen. Vielmehr hat sie uns die Tür geöffnet. Wir waren wirklich schockiert über das Ausbleiben von Maßnahmen als Reaktion auf ihre Ermordung. Und ich erinnere mich noch lebhaft an ihren letzten Bericht, in dem sie über frierende, wehrlose, unschuldige Zivilist*innen ohne Schutz sprach, die vom Assad-Regime gnadenlos bombardiert wurden. Es war der ultimative Menschenrechtsbericht, offensichtlich ein großartiges Stück Journalismus. Das war das Erstaunliche an ihr, sie hatte ein unglaubliches Einfühlungsvermögen für die Menschen. Das gilt auch für Paul Conroy, ihren beruflichen Partner, den Fotojournalisten, der bei dem Anschlag, bei dem Marie Colvin getötet wurde, schwer verwundet wurde. Das hat uns die Augen geöffnet für die Hölle, zu der sich Syrien zu dieser Zeit entwickelt hatte.
Wir haben jetzt all diese großartigen Journalisten, all diese Berichte. Selten wurden Ereignisse so gut dokumentiert wie die in Syrien. Wie erklärt ihr euch, dass es immer noch eine große Gleichgültigkeit gegenüber der syrischen Tragödie zu geben scheint?
RT: Wir haben viel darüber gesprochen. Und in der Tat ist dies eine der Hauptmotivationen, unsere Filme zu machen. Wir versuchen, diesen schockierenden Mangel an Interesse zu überwinden. Es ist auch ein Sieg für die sehr gut ausgearbeitete Strategie des Assad-Regimes und Russlands und die Art und Weise, wie sie ein falsches Narrativ in Syrien konstruiert oder geschaffen haben. Darauf gehen wir in unseren beiden Dokumentarfilmen ein. Zum Beispiel hat Assad von Anfang an versucht, die Situation zu manipulieren. In der Anfangsphase der Revolution im Jahr 2011, als er friedliche Demonstrant*innen auf der Straße niederschoss, hat das nicht funktioniert, denn es ist sehr schwer, eine*n friedliche*n Demonstrant*in, die/den man mit Maschinengewehren und schweren Waffen niederschießt, als Terroristen zu bezeichnen. Aber wir wissen, dass Assad so weit ging, hartgesottene Dschihadisten aus den Gefängnissen des Landes zu entlassen, um zu versuchen, das Image der Opposition zu vergiften und eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu schaffen, so dass es den Anschein hat, er kämpfe gegen Terrorist*innen. Im Übrigen vermied er es, die Dschihadisten zu bekämpfen, selbst als ISIS auftauchte, denn auch sie töteten die Opposition, die sich aus den friedlichen Protesten entwickelte. Das Assad Regime benutzte also das falsche Bild seines angeblichen Kampfes gegen Terrorist*innen, um seine eigenen Verbrechen zu vertuschen. Und das ist sehr schwer zu vermitteln.
Es gibt einen weiteren Punkt, der sehr wichtig ist, denn er hat verheerende Auswirkungen auf Europa in politischer Hinsicht. Die Rede von der Flüchtlingskrise und insbesondere die russische Regierung, die Assad unterstützt, schüren den Rassismus in Europa, indem Geflüchtete als eine Art Virus dargestellt werden, der den dschihadistischen Terrorismus an unsere Grenzen bringt. Es wird so getan, als seien diese wehrlosen Geflüchteten, die von einem brutalen Regime zur Flucht gezwungen wurden, in irgendeiner Weise eine Bedrohung für uns – was sie aber ganz und gar nicht sind. Diese Art von negativer und sehr groß angelegter Propagandakampagne hat dazu beigetragen, rechtsextreme und rassistische Politiker in Westeuropa zu bestärken.
AD: Ich lese gerade das Buch «Assad Or We Burn the Country» von Sam Dagher.2 Es konzentriert sich vor allem auf diese frühen Jahre. Ich verwende nicht gerne das Wort «klug», aber man kann sehen, wie strategisch der Assad-Apparat und das Regime waren. Wir haben es hier mit einem Regime zu tun, das seit fünfzig Jahren an der Macht ist und diese auf keinen Fall abgeben wird. Wie Yassin al-Haj Saleh3 in unserem ersten Film über Syrien sagte, besteht der ganze Zweck des Regimes darin, an der Macht zu bleiben. Und das Buch von Sam Dagher zeigt, wie sie das geschafft haben und wie sie den Staatsapparat mit ihren Kumpanen, der Kleptokratie und all dem aufgebaut haben. Sie spielten perfekt mit dem ISIS-Narrativ in den Medien. Sie wussten genau, wie wir reagieren würden. In jedem Interview hörte man von ISIS. Niemand hat sich mit dem beschäftigt, was Assad getan hat.
RT: Ich denke, wir müssen zugeben, dass die westliche Intervention im Irak auf der Grundlage falscher Informationen nicht hilfreich war. Sie hat ein Publikum geschaffen, das bereit ist, eine Menge von diesem Unsinn in Bezug auf Syrien zu glauben. Und es hat wirklich diese Elemente hervorgebracht, die die Linke in Verruf gebracht haben, weil sie sich nicht mit den Menschen identifizieren konnten. Natürlich sehen wir uns selbst sehr links, aber wir fanden es zutiefst enttäuschend zu sehen, wie Leute das Assad-Regime unterstützen und Assad als eine Art Antiimperialisten darstellen, obwohl er in Wirklichkeit ein Stellvertreter des russischen Imperialismus und des iranischen Neoimperialismus ist.
Ein Teil der Erklärung liegt natürlich darin, dass einige Linke immer noch eine Art Loyalität zu Russland empfinden. Sie scheinen zu glauben, dass es dort immer noch einen Hauch von Sozialismus gibt.
AD: Irland und die irische Linke haben eine lange und stolze Tradition in der Unterstützung der Palästinenser*innen, und es ist sehr traurig, dass sie diese Verbindung nicht herstellen. Assad hat so viele Palästinenser*innen getötet und sie entrechtet. Aber Menschenrechte sind universell, und diese Universalität ist es, die wir vermitteln müssen. Viele Leute denken, das sei zu schwierig, zu kompliziert. Das ist im Grunde der Punkt, an dem wir im Moment stehen. Die Menschen beschäftigen sich zwar mit dem Thema der Geflüchteten, aber niemand schaut auf den Kontext. Die Haltung ist: Lassen wir Syrien in Ruhe und kümmern wir uns um die Geflüchteten. Aber das ist natürlich nur die Hälfte der Geschichte.
Wie wurden eure Filme aufgenommen, sowohl von Aktivist*innen als auch von der breiten Öffentlichkeit? In euren beiden Filmen wird deutlich, dass der Krieg in Syrien auch eine Konfrontation (oder sogar ein «Krieg») der Narrative ist. Versteht Ihr eure Filme als einen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung der Narrative? Und was kann ein Film eigentlich bewirken?
AD: Wir waren vor kurzem zur Vorführung des Films in Manchester. Er ist extrem gut angekommen. Die Syrer*innen sagten immer wieder, das ist etwas anderes, ihr zeigt etwas Neues, und dass der Film den «Bogen» der Kämpfe seit 2011 und den Heroismus des syrischen Volkes zeigt. Das Wichtigste für mich ist, dass die Syrer*innen das Gefühl hatten, dass wir ihre Geschichte erzählen, dass wir den einfachen Menschen in Syrien eine Stimme geben.
Wir haben eine erstaunliche Frau getroffen, Amina Khoulani. Sie arbeitete als Geschichtslehrerin in Syrien. Drei ihrer Brüder wurden vom Regime ermordet. Einen von ihnen konnte sie auf den Fotos des Militärfotografen Caesar erkennen. Einer ihrer Brüder war Rechtsanwalt, der jüngste studierte Jura. Er gehörte zu den der Initiatoren der Bewegung, die in den ersten Tagen des Aufstands in Darayya Blumen und Wasserflaschen an die Soldaten verteilte. Sie und ihr Mann wurden in Mezzeh inhaftiert, dem Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Damaskus, der zugleich ein berüchtigtes Gefängnis war. Sie ist auch Mitbegründerin der Initiative «Families for Freedom».
Wir werden oft gefragt, ob wir glauben, dass Assad vor Gericht gestellt werden wird. Und natürlich wird er vor Gericht gestellt werden, denn die Verbrechen, die er gegen das syrische Volk begangen hat, sind entsetzlich. Amina Khoulani hat dazu etwas sehr Bemerkenswertes gesagt. Sie sagte, dass sie schon sehr lange aktiv sei und natürlich gebe es Zeiten, in denen sie depressiv, niedergeschlagen und desillusioniert sei, aber sobald sie sich an ihre Brüder erinnere, bekomme sie die Energie, weiterzumachen. Sie erzählte uns auch, dass sie sich sehr von Martin Luther Kings gewaltfreiem Aktivismus und der Arbeit von Rosa Parks4 inspirieren lässt. Sie wurde sogar als die syrische Rosa Parks vorgestellt, als sie nach Alabama – dem Heimatstaat von Parks – reiste, nachdem sie zuvor den Women of Courage Award entgegengenommen hatte.
RT: Dieser Dokumentarfilm ist bei weitem der wichtigste, den wir je gemacht haben, und zwar aus einem Grund: Er ist eine perfekte Antwort auf diejenigen, die versuchen, zu einer «Normalisierung» des Assad-Regimes zu kommen. Und auf eine seltsame Art und Weise ist es die beste Zeit, denn er wurde immer wieder wegen der COVID-Pandemie aufgeschoben, und wir hatten schreckliche Probleme, ihn fertigzustellen. Aber ich denke, es gibt wahrscheinlich einen Grund dafür, denn die Kampagne zur «Normalisierung» von Assad läuft gerade auf Hochtouren.
Einer der wichtigsten Punkte in dem Film, der auf umfangreichen Recherchen beruht, ist, dass die gesamte massive Propagandakampagne gegen den friedlichen Aufstand vor allem von den Ressourcen angetrieben wurde, die der russischen Regierung zur Verfügung stehen, sogar von staatlichen Sendern wie RT, Sputnik usw. Soziale Medien sind wie der Wilde Westen, es gibt kein redaktionelles Filtersystem, das der Öffentlichkeit die Möglichkeit gibt, zu erkennen, was tatsächlich korrekt ist, so dass diese Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden können. Wie Kate Starbird, eine außerordentliche Professorin an der University of Washington, die sich mit Kriseninformatik und Online-Gerüchten beschäftigt, in dem Film sagt, führt das dazu, dass sich die Leute «ausklinken». Das gilt insbesondere für die Weißhelme. Man kann sehen, wie eine großartige humanitäre Bewegung, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Leben rettet, fälschlicherweise des Terrorismus beschuldigt werden konnte. Und sie rettet nicht nur Leben, sondern die Helfer*innen werden, während sie dies tun, mit «double-tap attacks»5 vom-Regime angegriffen. Es wurde ein Film über sie gedreht, der einen Oscar gewonnen hat, aber die russische Regierung konnte immer noch unerbittlich zu ihrer Propagandakampagne zurückkehren und versuchen, die Organisation zu delegitimieren. Es hat keinen Sinn zu leugnen, dass diese Kampagne erfolgreich war, so dass es jetzt sehr schwierig ist, sie rückgängig zu machen. «Bringing Assad to Justice» versucht dies zu tun.
Ihr arbeitet sehr viel mit Material aus den sozialen Medien. Steht ihr auch in Kontakt mit Aktivist*innen vor Ort? Welche Rolle spielen solche Kontakte?
RT: Wir haben natürlich auch Kontakte vor Ort. Aber das Wichtigste an diesem Dokumentarfilm ist, dass er auch den immensen Wert und die Macht der von Bürgerjournalist*innen geschaffenen Medien zeigt. Erinnern wir uns daran, dass in den ersten Tagen des Konflikts die großen Netzwerke immer nur in der Lage waren, die Vorfälle zu bestätigen, die von den Bürgerjournalist*innen berichtet wurden. Was wir in der Dokumentation zeigen, ist, dass die Techniken der Open-Source-Journalist*innen wirklich wegweisend sind. Einer der Pioniere dieser Bewegung ist zweifellos Malachy Browne von der New York Times, der mit seinem Team eine erstaunliche Arbeit geleistet hat. Er zeigt, wie man sogar so etwas wie den Chemiewaffenangriff in Douma und die russische Kampagne zur Bombardierung von Krankenhäusern nachweisen kann. Es ist möglich, Beweise zu erbringen, die sogar vor Gericht Bestand haben könnten, was wir in diesem Dokumentarfilm ebenfalls veranschaulichen.
Ich denke, wir treten in eine neue Ära ein. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Menschen sich des Potenzials dieser neuen Ära bewusst sind. Es bedeutet, dass westliche Journalist*innen, westliche Medien nicht mehr machtlos sind, wenn sie ihrem eigenen Publikum in ihrem eigenen Land zeigen wollen, was an Orten wie Syrien vor sich geht – indem sie Zugang zu Menschen vor Ort bekommen, wie wir es tun.
Ein wichtiges Thema eures zweiten Films ist der Prozess, der seit April 2020 vor dem Oberlandesgericht in Koblenz geführt wird. Hier wurden zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen Völkerrechtsverbrechen angeklagt. Was ist die Bedeutung dieses Prozesses?
RT: Der Prozess in Koblenz zeigt, dass es umfangreiche Beweise gibt, um das Assad-Regime und seine Führer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen. Er konzentriert sich nur auf eine besonders berüchtigte Foltereinrichtung, aber es gibt noch viele andere. In unserem Dokumentarfilm geht es nicht nur um dieses spezielle Gerichtsverfahren. Er veranschaulicht die Macht der Beweise und der Menschen, die sie liefern. Darauf konzentrieren wir uns. Wenn gesagt wird, dass es mehr Beweise gibt als die Alliierten in Nürnberg zur Verfügung hatten, kann man das für bare Münze nehmen.
Aber natürlich hat Koblenz einen Präzedenzfall geschaffen. Es ist das erste Mal, dass während eines Konflikts dieser Art Menschen für Verbrechen, die in Syrien immer noch begangen werden, vor Gericht gestellt werden. Deshalb sind Assad und seine Mitstreiter*innen in der Führung so besorgt darüber. Der Prozess zeigt der Welt, dass es Beweise gibt, um auch sie zu verurteilen. Wir machen in unserem Dokumentarfilm deutlich, dass die Beweise Assad und die anderen Anführer*innen mit den Verbrechen in Verbindung bringen, die von den Personen begangen wurden, die vor Gericht stehen. Eine weitere gute Sache ist, dass diese Führer*innen, wenn sie ins Ausland reisen, nicht wissen, ob internationale Haftbefehle gegen sie ausgestellt worden sind. So werden sie praktisch festgesetzt, und das ist ein Beispiel dafür, was die internationale Justiz leistet.
AD: Zurzeit schicken einige europäische Länder Syrer*innen zurück. Das ist eine schreckliche Situation, die Geflüchteten werden erneut traumatisiert. Ich hoffe, dass mehr und mehr Menschen unseren Film sehen werden. Mein großer Wunsch ist, dass vor allem Journalist*innen ihn sehen und anfangen nachzuforschen. Das könnte vielen, die sich im Moment nicht sicher fühlen, zumindest etwas Sicherheit geben.
Werdet Ihr euch weiterhin mit Syrien befassen? Wird es einen weiteren Film aus eurer Produktion zu diesem Thema geben?
RT: Das schließen wir auf keinen Fall aus, denn das Thema Syrien wird nicht verschwinden. Die Verbrechen sind so schrecklich, dass es eine Rechenschaftspflicht geben muss. Das Schreckliche an Syrien ist, dass diese Verbrechen weitergehen. Syrien ist der größte Ort des Verbrechens in der Welt. Es gibt viele andere schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Tigray, im Jemen, in Myanmar und in China – dort insbesondere im Zusammenhang mit den Uigur*innen – begangen werden. Aber das Wesen des Assad-Regimes ist geprägt von Foltergefängnissen und Massakern als primäre Herrschaftsinstrumente, wie es die Politikwissenschaftlerin Salwa Ismail im Film beschreibt. Dies ist ein besonders entsetzliches Regime. Es muss gestoppt werden – aber wirklich durch friedliche Aktionen, durch internationale Gerichtsverfahren.
Es muss sehr deutlich gemacht werden, dass dieses Regime ohne Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht nicht normal funktionieren darf, dass seine Führer*innen nicht die Früchte ihrer Korruption in anderen Ländern genießen dürfen. Andernfalls gibt es keine Hoffnung für Syrien, aber auch wenig Hoffnung für die Menschheit angesichts der Art und Weise, wie der Straflosigkeit in Syrien freier Lauf gelassen wurde: Diktatoren auf der ganzen Welt, die sehen, was in Syrien geschieht, und die keine Rechenschaft ablegen müssen, werden ermutigt, Verbrechen zu begehen. In dem Film wies der Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni darauf hin – und erstaunlich viele Syrer*innen haben uns darauf hingewiesen –, dass die Rechenschaftspflicht nicht nur für Syrien, sondern für die ganze Welt wichtig ist, weil sie dazu beitragen wird, diese Verbrechen auch anderswo zu verhindern.
1 Marie Colvin (1956 – 2012) war eine US-amerikanische Journalistin. Sie wurde 2012 in Syrien getötet, als sie über die Belagerung von Homs berichtete. Im Januar 2019 machte ein US-amerikanisches Gericht die syrische Regierung für Colvins Tod verantwortlich und verurteilte Damaskus zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 300 Millionen US-Dollar an Colvins Familie.
2 Sam Dagher, Assad Or We Burn the Country: How One Family’s Lust for Power Destroyed Syria, Boston: Little, Brown and Company, 2019.
3 Yassin al-Haj Saleh (geb. 1961) ist ein linker syrischer Intellektueller und Autor. In den 1980er und 1990er Jahren war er insgesamt 16 Jahre als politischer Gefangener in Syrien inhaftiert.
4 Rosa Louise Parks (1913 – 2005) war eine US-amerikanische Bürgerrechtlerin. 1955 wurde sie in Montgomery/Alabama festgenommen, nachdem sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Dies führte zum Busboykott von Montgomery, einer der Protestaktionen, die den Anfang der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung markierte.
5 Ein nach einigen Minuten wiederholter Angriff mit dem Ziel, die in der Zwischenzeit eingetroffenen Helfer*innen zu treffen.