Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Shoah und linkes Selbstverständnis - Rassismus–Antisemitismus Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung, Berlin 2020.

Provinzialität oder Vernunft? Analyse und Rezeption des öffentlichen Nachdenkens über den Holocaust im Zeitalter der Dekolonisierung

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Der Übersetzer Max Henninger und die HistorikerInnen Jana König und Felix Axster haben sich die Mühe gemacht, Michael Rothbergs 2009 erschienenes Werk Mulitdirectional Memory auf Deutsch zu veröffentlichen. Unter dem Titel «Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung» ist es im Berliner Metropol Verlag erschienen. Hinzu kommen ein einführendes Interview mit Rothberg sowie ein Nachwort, beide verfasst von König und Axster.

Rothbergs Buch wirkte in Deutschland wie ein Stich ins Wespennest. Entsprechend groß sind die Geschütze, die den verbalen Stellungskrieg kennzeichnen. Ob in der Welt oder in der taz – was die Literaturwissenschaftlerin Mara Delius vor einem Jahr für die Konservativen formulierte, griff die Redakteurin Tania Martini für die Linksliberalen auf: Uns stehe angesichts des Aufbegehrens des Postkolonialismus nichts weniger als ein Historikerstreit 2.0 ins Haus. Fernab der Presse füllen sich derweilen die Zoom-Räume von Asta-Referaten, des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und anderen Interessensgemeinschaften. Auserwählte Referent*innen bereiten das Publikum auf die postkoloniale Großoffensive vor. Diese formiere sich samt und sonders, um die Singularität von Shoah und Antisemitismus zu unterminieren.

In der Geschichtswissenschaft hat sich derweilen eine von Männlichkeit und mangelhafter Empathie geprägte Debatte entsponnen. Sie fand ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt im Sommer 2021. Der australische Genozidforscher Dirk Moses hatte mit in einem Artikel im Schweizer Journal Geschichte der Gegenwart den Deutschen einen erinnerungspolitischen Katechismus vorgeworfen: quasi-religiös hätten sie die Shoah ins Zentrum ihrer Identität gerückt, sodass andere historische Ereignisse keinen Platz fänden. Insbesondere in Deutschland verurteilte man Moses‘ Position scharf. Mittlerweile scheint alles geschrieben, die Gedanken ausgetauscht worden zu sein, Positionen wurden zu Stellungen, Stellungen zu Fronten. Für die einen zeigt das die Provinzialität des deutschen Diskurses an: Noch immer streiten die Nachkommen der Täter über zwölf Jahre ihrer nationalen Vergangenheit, während der globale Erinnerungsdiskurs längst die alten Grenzen von Zeit und Raum überschreitet. Für die anderen geht es darum, an der elementaren Vernunft nach 1945 festzuhalten: dass Auschwitz nicht noch einmal sei.[1]

Diskursanalyse statt Identifikation

Identifiziert man Antisemitismus – entweder historisch oder gar denklogisch – mit Vernichtung, ist eine Hierarchisierung gruppenbezogener Verbrechen und Menschenfeindlichkeit zwangsläufig. Zwar gingen Kolonialrassismus und andere Formen des Rassismus immer wieder mit Vernichtung einher. Vor dem Hintergrund langlebiger rassistisch-kapitalistischer Gesellschaftsformationen würde aber wohl niemand behaupten, Rassismus führe notwendig zu Vernichtung. Kommen umgekehrt Historiker*innen wie Jürgen Zimmerer auf die Idee, im Kolonialrassismus nach den Wurzeln des Holocaust zu suchen, wird ihnen mitunter Holocaustrelativierung vorgeworfen. Von der Welt bis zu den belltowernews der Amadeu Antonio Stiftung – in unterschiedlichen Medien soll die Diffamierung ihrer Person eine Singularität markieren, die weit mehr als historische Einzigartigkeit meint: nämlich die herausragende Stellung des Antisemitismus.

Michael Rothberg hingegen, Professor für Holocaust-Studien an die University of California, will oder muss sich auf solche Debatten nicht einlassen. Vergeblich sucht man in «Multidirektionale Erinnerung» nach der einen Definition des Antisemitismus. Und das zu einer Zeit, in der die Definitionsdebatte in vollem Gange ist: die Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRAvs. die Jerusalemer Deklaration zum Antisemitismus. Zugegeben, heute, das ist lange nach der englischen Erstveröffentlichung. Doch als Diskursanalytiker ist Rothberg im Allgemeinen nicht sonderlich an einer ontologischen oder anderweitigen Bestimmung des Antisemitismus interessiert. Vielmehr untersucht er, wie über Antisemitismus gesprochen wird und welche Rolle dieser im Nachdenken über und Erinnern an den Holocaust spielt.

Dass es unzureichend sein könnte, den Antisemitismus und Holocaust nur auf der narrativen Ebene zu verhandeln, darauf hat Martin Schulze Wessel in einer Replik auf Sebastian Conrad verwiesen. Tatsächlich ging und geht der weltanschauliche Antisemitismus mit dem erlösenden Wunsch nach Vernichtung einher. Insofern unterscheiden sich Antisemitismus und Holocaust von Rassismus und Kolonialismus in ihrer historischen und potentiellen Vehemenz. Doch Antisemitismus existiert nicht nur als Vernichtungswunsch, sondern als Kontinuum vom Vorurteil bis zur Weltanschauung. Und die Wurzeln des Holocaust reichen bis zur Diskriminierung 1933, der «Ostjudendebatte» im Preußischen Landtag 1922, der Reconquista 1492, der Ritualmordlegende im Mittelalter. Hätte der Antisemitismus vor und während des Nationalsozialismus nicht in all seinen Facetten bestanden, hätte er sich nicht mit anderen autoritären Vorstellungen verzahnt, wäre er nicht in rassistischer Form und im Zuge des kriegerischen Ausnahmezustands radikalisiert worden, den Holocaust hätte es so nicht gegeben.

Wie mit dem Antisemitismusbegriff verhält es sich in «Multidirektionale Erinnerung» mit der Bestimmung des Holocaust. Anstatt nach dessen Wesen zu fragen, rekonstruiert Rothberg den Begriff im Angesicht zeit- und kontextgebundener Debatten. Die Einzigartigkeit des Holocaust zu betonen, habe in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende die Funktion gehabt, dessen Beschweigen zu durchbrechen. So sei zwischen 1945 und 1962 ein Bewusstsein vom Holocaust als einem präzedenzlosen Fall modernen Genozids entstanden (30 ff.). Zeitgleich sei in diese Periode die Entstehung eines Nationalitätsbewusstseins und die politische Unabhängigkeit vieler ehemaliger Subjekte des europäischen Kolonialismus gefallen. Rothbergs These über diese Gleichzeitigkeit lautet nun, dass die Entstehung des Erinnerns an den Holocaust andere Stimmen keineswegs verhindert, sondern ihnen dabei geholfen habe, sich zu artikulieren. Was den Bereich des Ökonomischen kennzeichne, gelte nicht für die Kultur: dass es sich um ein Konkurrenzverhältnis im Sinne eine Nullsummenspiels handle.

Dieser Gedanke ist so neu nicht. Bereits im Jahr 2001 hatten die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider in ihrer Studie «Erinnerung im globalen Zeitalter» auf neue Räume der Erinnerung verwiesen. Im Zeitalter der Massenkultur werde der Holocaust als einzigartiges Ereignis vergleichbar, die partikulare Opfererfahrung von Jüd*innen universalisierbar – und das gerade mithilfe jüdischer Organisationen, die als moralische Instanzen den Vergleich mit aktuellen Menschheitsverbrechen suchen. Rothbergs wissenschaftliche Leistung liegt darin, das globale oder zumindest transnationale Erinnern vor den Globalisierungsschub der 2000er Jahre zurückzuverfolgen und in den antirassistischen Perspektiven nachzuvollziehen.

Besonders sticht dabei seine Erzählung über den Schwarzen amerikanischen Intellektuellen und Aktivisten W.E.B. Du Bois hervor (143 ff.). Du Bois‘ Lebensweg kann mit Fug und Recht als singulär bezeichnet werden. Hierzu zählt sein Aufenthalt 1892 in Berlin, wo er unter anderen bei Gustav von Schmoller, Adolph Wagner und Heinrich von Treitschke studierte. Nach der Jahrhundertwende popularisierte er Frederick Douglass‘ Begriff der «color line», indem er diesen zu einer Theorie emporhob: «The problem of the Twentieth Century is the problem of the color line» – eine Aussage, die mit der Ermordung der vornehmlich weißen europäischen Jüd*innen nicht in Einklang zu bringen ist. Als Du Bois 1949 das zerstörte jüdische Ghetto in Warschau besuchte, nahm er diese Dissonanz selbst wahr. Später verarbeitete er seine Wahrnehmung in einem Essay: «Das Ergebnis […] meiner Besichtigung […] war nicht so sehr ein klareres Verständnis des jüdischen Problems in der Welt, sondern ein reelles und umfassenderes des Problems der Schwarzen. Zunächst einmal war das Problem […] nicht mehr eine eigenständige und einzigartige Sache wie ich es mir lange vorgestellt hatte. […] Das Rassenproblem […] lag quer zu Fragen der Hautfarbe, des Körperbaus, der Religion und des Status; es ging darin um kulturelle Muster, pervertierte Lehren, menschlichen Hass und Vorurteile, die alle möglichen Menschen betrafen und endlose Übel verursachten.» (148)

In textueller Feinarbeit arbeitet Rothberg also heraus, dass über den Holocaust und den Kolonialismus, über Antisemitismus und Rassismus, schon immer in gegenseitiger Verflochtenheit nachgedacht wurde. Der Autor spricht dabei auch von «verschränkten Archiven» (355). Davon zeugen u. a. Aimé Césaires Beschreibung des Holocaust als choc en retour, also den deutschen Genozid an den europäischen Jüd*innen angelehnt an Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als zum Mutterkontinent zurückkehrenden Kolonialismus zu begreifen; oder darüber hinaus das Werk der kommunistischen Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebenden Charlotte Delbo, die als «gegenöffentliche Zeugin» gleichzeitig die französische Kollaboration und das Unrecht in Algerien thematisierte. Hier sticht die Erzählung über Maurice Papon besonders hervor. Als Polizeipräfekt von Paris verantwortete er das Massaker von Paris 1961, als im Zuge einer Demonstration für die Unabhängigkeit Algeriens mehr als 200 Algerier*innen von der französischen Polizei getötet wurden. 20 Jahre zuvor hatte Papon als hoher Beamter des Vichy-Regimes die Deportation von Jüd*innen in der besetzten Region um Bordeaux verantwortet.

Die Thematisierung intellektueller Zeugnisse, die von Multiperspektivität und Verflechtung zeugen, ist jedoch nur ein kleiner Stein des publizistischen Anstoßes. Schließlich, und das ist die wissenschaftliche Wirkungskraft von Rothbergs Forschung, lassen sich die Verflechtungen nicht von der Hand weisen. Doch der Literaturwissenschaftler verwendet «multidirektionale Erinnerung» nicht nur als Analyseschema. Stattdessen vermischt er es mit dem normativen Anspruch, eine gute bzw. gelungene Erinnerung müsse multidirektional sein. Die fehlende Trennung, zumindest das unklare Verhältnis zwischen Deskription und Bewertung, erscheint als wichtige Ursache der öffentlich geführten Kontroversen.

Der gewichtigste Auslöser der Auseinandersetzungen ist demnach weniger Rothbergs feinsinnige Beschreibung von Einzelphänomenen, sondern vielmehr die aus den Einzelphänomenen resultierende Forderung, den Holocaust nicht aus der Menschheitsgeschichte herauszulösen, sondern unter Berücksichtigung seiner Spezifika in eine Geschichte der Moderne zu integrieren. Eine solche Historisierung steht insbesondere jener Perspektivierung entgegen, die man mit dem Historiker Dan Diner verbindet. Dieser begreift den Holocaust als «Zivilisationsbruch», das heißt als fundamentalen Bruch mit den Grundlagen des modernen Denkens, insbesondere seiner Zweck-Mittel-Rationalität.[2]

Diner und Rothberg sind folglich die unterschiedlichen Pole, zwischen denen sich das instruktive Nachwort von Axster und König bewegt. In diesem sensibilisieren die beiden HerausgeberInnen auch für die unterschiedlichen Sprechorte der jüdischen Kontrahenten: hier der Sohn polnisch-litauischer Überlebender, dort der junge Professor, der wahrnahm, dass in den USA der 2000er Jahre zwar dutzende Holocaust-Erinnerungsorte etabliert worden waren, jedoch kein einziges Museum zur afroamerikanischen Geschichte existierte. Während der eine um sein historiographisches Erbe, die kategoriale Besonderheit des Holocaust, bangt, sehnt sich der andere, aus einem Gefühl historiographischer Sicherheit heraus, nach neuen Allianzen. So trennend die Sprechorte und Motive, Axster und König verweisen auch auf möglicherweise Verbindendes. In der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik in Osteuropa überschnitten sich der Holocaust und die kolonialen Diskurse. Könnte sich hier ein gemeinsames Terrain der grundverschiedenen Positionen auftun?

Wie (nicht) weiter?

Mögliche gemeinsame Sprechorte – eben das interessiert Rothbergs lautstärkste Kritiker*innen nicht. Sie verkennen dessen Denkrichtung, indem sie in «multidirektionaler Erinnerung» einen Großangriff des Postkolonialismus auf das Holocaustgedenken und den Antisemitismusbegriff wittern. Doch Rothberg geht vom Nachdenken und Sprechen über den Holocaust aus, nicht von der Intention, eine andere Erzählung über das Holocaustgedenken zu decken. Nicht umsonst hat er seine Theorie um ein anschauliches Raster erweitert. Anhand zweier sich überkreuzender Achsen – eine zwischen den Polen «Gemeinsamkeiten» und «Unterschiede», die andere zwischen «Konkurrenz» und «Solidarität» – entstehen vier Quadranten, anhand derer die jeweiligen Narrative nicht nur inhaltlich, sondern auch nach ihrem Potential verortet werden. Eine Erinnerung, die sich mit dem Holocaustgedenken ins Verhältnis setzt, dabei weder dieses überlagert noch die Unterschiede einebnet, wäre ein Beispiel für solidarisches, von Empathie geleitetes, multidirektionales Erinnern.

Die Zahl der Einlassungen, die hingegen im Quadranten «Konkurrenz–Unterschiede» zu verorten sind, ist im Zuge der Debatte stark gestiegen. So kritisierte z. B. Ingo Elbe, Rothberg habe verdeckt, dass Antirassisten wie Du Bois gar nicht den Holocaust, sondern anhand dessen nur ihre eigenen Theorien in den Fokus gerückt hätten. Und wie oben zitiert, schrieb der Schwarze Intellektuelle tatsächlich, das Ergebnis seiner Besichtigung sei nicht so sehr ein klareres Verständnis des jüdischen Problems, sondern ein reelles und umfassenderes des Problems der Schwarzen gewesen. Aber von welcher Warte bitte wird eine solche Kritik geäußert? Dem von Rassismus betroffenen Du Bois wird nichts weniger vorgeworfen als sich weiter mit Rassismus anstelle von Antisemitismus beschäftigt zu haben. So haarsträubend ahistorisch und empathielos der Vorwurf, so sehr wird man das Gefühl nicht los: nicht Du Bois allein ist gemeint, sondern vielmehr die Gesamtheit der Postcolonial Studies.[3]

Ein weiteres Beispiel lieferte Thomas Schmid im Februar 2021 in der Welt. Der liberalkonservative Publizist hielt Rothbergs Veröffentlichung entgegen: Nicht koloniale Gewaltbereitschaft, sondern der Antisemitismus habe die Täter des Holocaust angetrieben. Juden seien für sie der Quell allen Übels gewesen, der Antisemitismus nicht bloße kolonialistische Verächtlichkeit und Feindschaft, sondern Welterklärung. Antisemitismus als Welterklärung diente Schmid wiederum selbst als Welterklärung. Augenblicklich rief er die Muslime zur Ordnung: «Die große Mehrheit muslimischer Jugendlicher mit <migrantischem Hintergrund> wird kaum Empathie für Juden entwickeln, wenn man ihnen nur Raum genug gibt, die eigene Erfahrung von Missachtung und Demütigung zu artikulieren.» Nicht nur konterkarierte Schmid mit diesem Satz den state of the art pädagogischer Praxis. Der Ausschluss der jugendlichen Muslime meint doch vor allem den Einschluss der weißen Mehrheitsgesellschaft. Mit Verweis auf eine vorgebliche anti-antisemitische Leitkultur darf der geläuterte Deutsche die anderen wieder zurechtweisen, gar ausschließen. Oder um es mit den Worten Max Czolleks zu sagen: «Durch die Verkündigung ihrer triumphalen Aufarbeitung werden die zwölf Jahre Nationalsozialismus […] zur Grundlage, wieder richtig stolz auf Deutschland zu sein – und allen anderen ihre Vorurteile vorzuwerfen.»[4]

Abstrahiert man vom unsäglichen Ton, der mangelnden Empathie, den institutionellen Machtkämpfen und persönlichen Befindlichkeiten, könnte man dankbar sein für die Debatte, die Rothbergs Publikation ausgelöst hat. Wie viel gäbe es zu reflektieren, zu erkennen, zu lernen! Ob man den Holocaust von 1945 oder von 1933 her betrachtet; ob man ihn mikrohistorisch oder globalgeschichtlich untersucht; ob ereignisgeschichtlich oder narrativ; ob als epistemologischer Zivilisationsbruch oder in der longue durée des Rassismus; ob man einfach mal versuchen sollte, über die Grenzen einer ausdifferenzierten Wissenschaft hinweg stärker in den Dialog zu treten…

All dies sind spannende Fragen für die Universitäten. Für Feuilleton und linken Aktivismus aber gilt: Wenn sich linke und konservative Gojim[5] zusammentun, um Rothberg zum Vorboten des postkolonialen Angriffs auf den einen Antisemitismusbegriff und das eine Holocaustgedenken zu stilisieren, bricht sich das «Gedächtnistheater»[6] Bahn. Statt große Floskeln zu bemühen, könnten die moralisierenden Linken und Konservativen einfach das tun, was bislang weitestgehend ausgeblieben ist: den eigenen #Nazihintergrund erforschen. Damit würden sie nicht nur zu einem komplexeren Verständnis von nationalsozialistischer Täterschaft beitragen. Vielleicht würde auch unser politisches Bewusstsein für die Gegenwart geschärft. Dies auf Instagram vorgeschlagen und damit eine wirkmächtige Debatte ausgelöst haben übrigens die Künstlerin Moshtari Hilal und der politische Geograph Sinthujan Varatharajah – zwei post-migrantische Deutsche, die den Postkolonialismus und Antirassismus repräsentieren.
 


[1] In seinem wegweisenden Radiovortrag «Erziehung nach Auschwitz» prägte Theodor W. Adorno 1966 die zentrale Forderung: «Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.» Wie dieser entsprochen werden kann, blieb – wie so häufig bei Theoretiker*innen der Kritischen Theorie – offen und bleibt bis heute umstritten. Zumal Adorno zeitgleich in der Negativen Dialektik schrieb: «…daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.» Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 358.

[2] Vgl. Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988.

[3] Vgl. Ingo Elbe: Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne, Würzburg 2020.

[4] Der Lyriker und Essayist Czollek verwies mit seinen Worten ursprünglich auf den CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor, der am 27. Januar 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, sinngemäß sagte, Antisemitismus sei vor allem ein Problem unter Muslimen und diese hätten sich, sofern sie in Deutschland leben wollen, einer deutschen Kultur des Anti-Antisemitismus anzupassen. Vgl. Max Czollek: Gegenwartsbewältigung, München 2020, S. 93.

[5] Gojim ist die Mehrzahl des jiddischen Wortes «Goj», das Nichtjüd*innen – so wie auch den Autor dieses Textes – bezeichnet, manchmal auch von gläubigen Jüd*innen despektierlich gegenüber Jüd*innen, die sich nicht an die religiösen Regeln halten, verwandt wird. Für seine jüngste Verwendung im Erinnerungsdiskurs siehe Judith Coffey & Vivien Laumann: Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen, Berlin 2021.

[6] Der Begriff «Gedächtnistheater» wurde 1996 vom deutsch-kanadischen Soziologen Y. Michal Bodemann geprägt. Er vertritt diese These, dass die Erinnerung an die Shoah und der Umgang mit der jüdischen Gemeinde den Deutschen insbesondere dazu dient, sich als geläuterte Nation zu präsentieren. Vgl. Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater: die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996.
 


Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2020: Metropol (404 S., 26 €).