Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Mythos Aktienrente Crash vorprogrammiert

Aktienbasierte Altersvorsorge und die Krisenhaftigkeit der Finanzmärkte

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Foto: picture alliance/dpa | Arne Dedert

Die Aktienbörsen der Welt haben gute Zeiten hinter sich. 2021 stieg der Deutsche Aktienindex Dax um 16 Prozent, trotz Coronapandemie, Materialengpässen und steigender Inflationsrate. Der Anstieg der Aktienkurse machte die deutschen Privathaushalte im vergangenen Jahr um 130 Milliarden Euro reicher, errechnet die DZ-Bank. Von solchen Entwicklungen sollen künftig auch deutsche Rentner*innen etwas haben: Insbesondere die FDP warb im Wahljahr für eine «Aktienrente». Nun will die Ampelkoalition als ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung zehn Milliarden Euro an Steuergeldern zur Verfügung stellen, die diese an den Börsen anlegen soll (vgl. Völpel 2021). Allen vergangenen Börsenrekorden zum Trotz bleibt dies ein widersprüchliches und riskantes Unterfangen.

Höhere Löhne? Für die Unternehmen keine Lösung des Rentenproblems

Per Aktienanlage soll das deutsche System der Alterssicherung «demografiefest» werden, so die FDP. Damit greift die Partei die gängige Darstellung auf, nach der das Problem der gesetzlichen Rente ein demografisches ist: Die Babyboomer und nachfolgende Generationen haben zu wenig Kinder geboren, daher kommt es zur «Alterung der Gesellschaft»: Schrittweise stehen immer mehr Alte relativ weniger Jungen gegenüber, was die Rentenkasse in Schwierigkeiten bringt.

Das Problem des Umlagesystems lässt sich aber auch anders beschreiben: Es basiert darauf, dass die meisten Menschen als abhängig Beschäftigte vom Lohn leben, die Unternehmen diesen Lohn aber nur für geleistete Arbeit zahlen. Alte Menschen stehen damit vor dem Dilemma, dass sie am Ende ihres Erwerbslebens immer noch am Leben, aber ohne Einkommen sind. Die Lösung der gesetzlichen Rentenkasse besteht darin, Lohnanteile innerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten einzuziehen und umzuverteilen. Auf diese Weise soll die Lohnsumme so gestreckt werden, dass sie auch für den Lebensabend reicht. Damit ist klar: Die Finanzierung der ehemals abhängig Beschäftigten geht auf Kosten der aktiven Beschäftigten. Und je länger die Menschen leben, umso geringer die Rente und umso größer der Sparaufwand vor dem Renteneintritt.

Stephan Kaufmann ist Wirtschaftsredakteur und hat u.a. bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Beiträge zu den Themen Armut und Euro-Krise veröffentlicht.

Für die Unternehmen ist der Lohn ein Kostenfaktor, den sie im Betriebsinteresse minimieren, was unter anderem zu Arbeitslosigkeit, Niedriglöhnen, Prekarisierung und «gebrochenen Erwerbsbiografien» führt und damit die Einnahmeseite der Rentenkasse belastet. Die FDP nennt daher neben dem «demografischen Wandel» den «Wandel am Arbeitsmarkt» als zweiten Grund dafür, das «Altersvorsorgesystem zu modernisieren».

Da der Lohn für die Unternehmen einen Aufwand darstellt, gilt auch die naheliegende Lösung des Rentenproblems als unmöglich: Wenn die Rente aus dem Lohnaufkommen gezahlt wird und die Anzahl der Rentner*innen steigt, müsste einfach der Lohn steigen. Dies jedoch gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. «Ständig steigende Sozialkosten ... das was wir in unsere Sozialkassen hineinbezahlen, das belastet den Standort», so Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberverbandes.

Die gescheiterte Riester-Rente

Wenn Bruttolohn und staatliche Zuschüsse zur Rentenkasse nicht deutlich steigen sollen, die Ansprüche an die Sozialrente daher gekürzt werden und sich dadurch «Versorgungslücken» auftun, bleibt nur eine Quelle, um diese Lücken zu schließen: Der Nettolohn, aus dem die Menschen «privat» fürs Alter sparen sollen. Und zwar am Kapitalmarkt. Bereits vor 20 Jahren schuf die rot-grüne Bundesregierung mit der so genannten «Riester-Rente» die Voraussetzungen für ein staatlich gefördertes Versicherungsgeschäft: Erwerbstätige schließen mit den Versicherern Sparverträge ab, die vom Staat bezuschusst werden. Die Versicherer legen dabei die eingesammelten Gelder an der Börse an, wodurch zukünftige Rentner*innen zu Kapitalanlegern werden. Was sie per Riester ansparen, um ihren Lebensunterhalt vor den Konjunkturen ihres Lohneinkommens zu schützen, wurde so ganz direkt abhängig von den Konjunkturen der Finanzmärkte.

Riester gilt heute als gescheitert. Grundproblem der Sparverträge ist die Tatsache, dass über Riester den Finanzmärkten etwas abverlangt wird, das sie nicht bieten können: Sicherheit. Denn den Versicherern war zur Auflage gemacht worden, den Sparer*innen mindestens ihre Einzahlungen plus staatliche Zulagen zurückzuzahlen – ohne Verlustrisiko. Dies zwang die Versicherer, in extrem sichere Anlagen zu investieren. Und die bringen keine Rendite mehr. Der Garantiezins auf Lebensversicherungen, der 2011 noch 2,25 Prozent betrug, ist Anfang 2022 auf 0,25 Prozent gesunken. Abzüglich Inflation ist die Durchschnittsrendite festverzinslicher Papiere in Deutschland seit 2019 negativ. Grund für die niedrigen Zinsen ist die seit 2009 latent anhaltende Krise. Sie zeigt, dass es Sicherheit an den Kapitalmärkten nicht gibt. Das soll nun aber nicht gegen die Kapitalmärkte sprechen, sondern für das Risiko: Aktien gelten als die neue Lösung.

Jetzt soll es der Kapitalmarkt für Aktien richten

Dass der Lohn zur Finanzierung der Sozialrente nicht reicht und seine angemessene Aufstockung nicht vorgesehen ist, weil dies die Unternehmensgewinne belasten würde – dieses Problem soll nun gelöst werden über eine Beteiligung der Rentner*innen an den Unternehmensgewinnen, auf deren Entwicklung an der Aktienbörse spekuliert wird. Durch die Einzahlung in einen staatlich verwalteten Aktienfonds «erwerben zukünftig alle Beitragszahlerinnen sowie Beitragszahler – insbesondere auch Geringverdiener – echtes Eigentum für ihre Altersvorsorge und erhalten höhere Altersrenten», wirbt die FDP. Worin besteht nun dieses «echte Eigentum»? Eben aus den Aktien und ihren Kurssteigerungen. Es lohnt sich ein Blick darauf, wie diese Kurse zustande kommen.

Der Preis (oder Kurs) eines Wertpapiers ergibt sich aus seiner ständigen Bewertung durch die Anbieter und Nachfrager an der Börse. Bei dieser Bewertung stellen die Börsenhändler einen permanenten Vergleich der Wertpapiere an gemäß zwei Kriterien: Sicherheit und Rendite. Die Rendite ergibt sich bei festverzinslichen Papieren aus dem Zins und bei Aktien zunächst aus der Dividende, also aus dem Anteil am Gewinn, den das Unternehmen an seine Aktionär*innen ausschüttet. Dieser Betrag steht und fällt mit den Konjunkturen des Unternehmens.

An der Börse werden die Wertpapiere aber nicht nur laufend miteinander verglichen auf Basis ihrer Zins- und Dividendenzahlungen. Dort geht es um künftige Zins- und Dividendenversprechen und deren Wirkungen auf den Aktienkurs. Viele Finanzinvestoren kaufen sich nicht eine VW-Aktie, um sie zu halten und die Dividende zu kassieren. Sondern sie kaufen die Aktie, weil sie erwarten, dass der Kurs steigen wird und sie die Aktie dann zu einem höheren Kurs verkaufen können. Oder aber sie verkaufen die Aktie, weil sie erwarten, dass ihr Kurs sinken oder sich schlechter entwickeln wird als der anderer Aktien. Die Wertpapierhändler treten also permanent mit gegensätzlichen Erwartungen auf dem Markt auf: Die einen erwarten einen relativ schlechten Kursverlauf und verkaufen die Aktie, die anderen erwarten einen relativ guten Kursverlauf und kaufen. Aus den entgegengesetzten Spekulationen ergibt sich ein steigender oder fallender Aktienkurs. Und das bedeutet: Aus bloßen Erwartungen resultieren Zu- oder Abnahme finanziellen Reichtums.

Börsianer*innen errechnen den sogenannten «inneren Wert» eines Wertpapiers aus dem Wert der antizipierten künftigen Erträge. Es geht also um die Zukunft. Die Börsianer*innen müssen daher prognostizieren, wie sich das Geschäft von VW entwickeln wird. Hier eröffnet sich das weite Betätigungsfeld für Aktienanalysten, die alle möglichen Daten zu Rate ziehen: die künftige Entwicklung der Konjunktur, der Zinsen, der Rohstoffpreise, der Steuerpolitik, der Arbeitslosigkeit oder der Wechselkurse. Mit diesen Indikatoren beschäftigen sich die Profis des Geschäfts, aus ihnen versuchen sie, die weitere Entwicklung des VW-Aktienkurses und damit ihre Kauf- oder Verkaufsentscheidung abzuleiten.

Doch die Sache wird noch komplizierter. Denn für eine Börsenhändlerin kommt es weniger auf ihre eigenen Erwartungen an, sondern auf die Erwartungen aller anderen Börsenhändler*innen. Denn erst wenn sich unter ihnen die Ansicht durchsetzt, dass zum Beispiel die sinkende Arbeitslosigkeit gut für Aktien ist, werden am Markt auch höhere Preise für Aktien gezahlt, und nur dann lohnt sich ein Investment. Die Aktienhändlerin muss aus den wirtschaftlichen Daten also herauslesen, wie die Mehrzahl der anderen Aktienhändler*innen diese Daten deuten wird. Bei dieser Operation stehen alle Marktteilnehmer einander gegenüber und belauern sich.

Der Ökonom John Maynard Keynes hat dies mit einem Schönheitswettbewerb verglichen, bei dem es nicht darum geht, «jene auszuwählen, die nach dem eigenen Urteil wirklich die hübschesten sind, ja sogar nicht einmal jene, welche die durchschnittliche Meinung wirklich als die hübscheste betrachtet. Wir haben den dritten Grad erreicht, wo wir unsere Intelligenz in der Vorwegnahme dessen widmen, was die durchschnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet.» (John Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money. London 1936, S. 156.).

Kommt zum Beispiel die Mehrheit der Börsenhändler zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Börsenhändler einen Anstieg der VW-Aktie erwartet, kaufen sie VW-Aktien in der Hoffnung steigender Kurse. Dadurch steigt der Aktienkurs tatsächlich, die Erwartung der Erwartung wird Realität und die Spekulation auf steigende Aktienkurse gibt sich selbst recht. Wie weit sich bei diesem Spiel der Aktienkurs von den ökonomischen Fundamentaldaten eines Unternehmens entfernen kann, zeigte der US-Elektroautobauer Tesla: An der Börse war Tesla Ende 2021 mit rund 970 Milliarden Dollar mehr wert als alle anderen großen Autokonzerne zusammen. Zwar waren Teslas Gewinne gering. Doch die Börse geht offenbar von einer glänzenden Zukunft aus.

Das «echte Eigentum» und seine Substanz

Eine Aktie ist also nur formell ein Anteil an einem Unternehmen. Tatsächlich repräsentiert sie nichts weiter als ein Anrecht auf einen Teil des Gewinns in Form einer Dividende. Der Preis dieses Anrechts ergibt sich aus dem Börsenhandel. Das «echte Eigentum», das Vorsorgesparer laut FDP über die Aktienanlage erwerben, besteht also aus Anrechten auf Auszahlungen aus einem Anlagefonds, der seinerseits Anrechte auf Anteile an Unternehmensgewinnen hält, deren künftige Entwicklung die Börse spekulativ bewertet, wobei das Vermögen des Fonds mit dieser Bewertung schwankt. Genau dieses Risiko - beziehungsweise seine Verwaltung durch geschickte Anlagestrategien - soll die Sicherheit stiften, die Sozialrente und Riester nicht bieten.

Man kann es auch anders ausdrücken: Aktien wie auch alle anderen Formen der Finanzanlage sind lediglich Ansprüche auf künftige Zahlungen. Darauf machte Ende 2021 das McKinsey Global Institute (MGI) aufmerksam. Die Tochter der gleichnamigen Unternehmensberatung stellte eine «Vermögensbilanz» der ganzen Welt auf. Die Finanzanlagen – zum Beispiel Anleihen, Bankeinlagen, Lebensversicherungen, Aktien, etc. – summierten sich dabei auf 1020 Billionen Dollar. Dieses Vermögen habe sich in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht und sich zunehmend von der globalen Wirtschaftsleistung entkoppelt. Dies hält MGI für eine bedenkliche Entwicklung. Zwar sei zum einen «die Welt so reich wie nie zuvor». Gleichzeitig aber sei dieser Reichtum prekär. Denn Finanzanlagen sind nichts weiter als Zahlungsansprüche an andere: Eine Anleihe hängt davon ab, dass der Schuldner Tilgung und Zins leisten kann. Und auch Aktien sind «Ansprüche an künftige Zahlungsströme wie Dividenden», also an künftige Unternehmensgewinne.

Daraus folgt erstens: Der Wert des globalen Finanzvermögens beläuft sich netto – also abzüglich Schulden – auf null US-Dollar, denn «Forderungen und Verbindlichkeiten gleichen sich aus», so MGI. Zweitens hängt der Wert all dieser Finanzanlagen davon ab, dass die Schuldner ihren Zahlungspflichten nachkommen und dass die erwarteten Zahlungsströme auch wirklich eintreten. Das ist laut MGI aber nicht sicher. Schließlich steht ein immer größeres Vermögen einer relativ kleineren Wirtschaftsleistung gegenüber, die die wachsenden Erträge liefern und darüber den Wert des Vermögens rechtfertigen soll. «Am Ende müssen die Einkommen den Wert der Anlagen unterlegen», so MGI. Anders gesagt: Das Vermögen ist nicht das, was die Menschheit hat, sondern ein gigantischer Anspruch auf künftiges Wachstum.

Vor diesem Hintergrund macht sich MGI Sorgen darüber, dass das Wachstum der Weltwirtschaftsleistung in den vergangenen Jahren eher schwächlich und von Krisen gekennzeichnet war, während das Vermögen sich immer weiter aufblähte. «Die in der Vergangenheit gültige Verbindung zwischen beiden ist gebrochen», so das Institut. Ursache dafür sei eine Geldschwemme gewesen, die die Preise der Vermögenswerte in die Höhe trieb.

Für die Zukunft zeichnet das Institut drei Szenarien. Im ersten könnte das Ungleichgewicht zwischen Vermögen und Wirtschaftsleistung schlicht bestehen bleiben. Im zweiten Szenario würde das Ungleichgewicht korrigiert durch eine Entwertung des Vermögens. Rein rechnerisch sei eine Entwertung – je nach Land – von 15 bis 50 Prozent vonnöten, damit Vermögen und Wirtschaftsleistung wieder in einem Verhältnis wie im Jahr 2000 stünden. Die angenehmere Variante wäre das dritte Szenario: Die Wirtschaftsleistung steigt wieder stärker und gibt so dem aufgeblähten Vermögen eine reale Basis. Dafür allerdings wären laut MGI massive Investitionen nötig, um neue Wachstumsfelder zu erschließen und um «die Produktivität der Arbeitnehmerschaft kontinuierlich zu steigern». Die Aufgabe, «unseren Wohlstand und das Finanzsystem zu schützen», bleibt also letztlich an den Beschäftigten hängen beziehungsweise an ihrer gelungenen Ausbeutung.

Der vergangene Aktienboom und seine brüchige Basis

Zwar sind die Aktienmärkte in den vergangenen Jahren tatsächlich stark gestiegen. Allerdings sprechen erstens genau diese Börsenrekorde nicht unbedingt dafür, dass es künftig weiter steil aufwärts geht. Zweitens hatten diese Rekorde einen zweifelhaften Motor: Niedrige Zinsen, die Aktien im Vergleich mit Anleihen attraktiver machten, was Abermilliarden an die Aktienmärkte spülte und dort die Notierungen in die Höhe trieb.

Treiber des Aktienbooms waren also niedrige Zinsen. Ursache der niedrigen Zinsen sind und waren jedoch eine Abfolge verschiedener Krisen seit 2008: Erst die US-Hypothekenkrise, dann die globale Finanzkrise, dann die Euro-Krise und schließlich die Corona-Krise. All diese Krisen wurden bekämpft, indem die Staaten massiv neue Schulden aufnahmen, was die Schuldenquoten auf Werte steigerte, die zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten waren. Um die Schulden finanzierbar, Unternehmen über Wasser und die Konjunktur am Laufen zu halten, drückten die Zentralbanken die Zinsen in Richtung null Prozent. Dies wiederum führte an den Finanzmärkten zu einer «Jagd auf Rendite», also zu massiven Mittelzuflüssen in Immobilien, Kryptowährungen wie Bitcoin und Aktien. Anders gesagt: Treiber des Finanzmarktbooms der vergangenen Jahre war eine latente Überakkumulation sowohl des realen wie auch des finanziellen Kapitals.

Es stellt sich die Frage, ob dies eine solide Grundlage für das System der Altersvorsorge darstellt. Klar ist allerdings: Wenn künftig frische Milliarden aus den Rentenkassen ihren Weg an die Aktienbörsen finden, werden sie dort die Kurse und Preise weiter in die Höhe treiben und die Blase weiter aufpumpen – was so manchem Profispekulanten dabei helfen dürfte, aus dem Markt auszusteigen, bevor der nächste große Krach kommt.