Feature | Migration / Flucht - Zentralasien Missing Member - Kirgistan, ein Land in Sehnsucht

Eine Fotoreportage von Louise Amelie und Darja Nesterowa

Information

In Kirgistan werden schätzungsweise 277.000 Kinder bei Verwandten oder in Betreuungsinstitutionen zurückgelassen. Oft wissen die Kinder nicht, was ihre Eltern im Ausland tun, weshalb sie gegangen sind, wann sie wiederkommen oder ob sie überhaupt jemals wieder zusammenleben werden. Bei den Kindern entsteht ein «emotionales Loch», über das nicht gesprochen wird. Foto: Louise Amelie

Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 kam es in ganz Zentralasien zu einem schweren wirtschaftlichen Zusammenbruch. In den letzten 30 Jahren entwickelten sich die nun unabhängigen Nationen sehr unterschiedlich. Gerade in Kirgistan, einem gebirgigen, dünn besiedelten Land mit ca. 6,5 Millionen Einwohner*innen, fehlt es an Arbeitsplätzen und sozialen Aufstiegschancen. Das monatliche Gehalt selbst einer Lehrer*in oder Ärzt*in reicht kaum aus, um die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten einer Familie abzudecken. Dies hat zur Folge, dass für viele Menschen die Ausreise als Arbeitsmigrant*in unausweichlich ist. Moskau als ehemaliges Zentrum der Sowjetunion und Russland als wirtschaftlich starkes Land sind die begehrtesten Ziele.

Louise Amelie ist als freie Fotografin in Berlin und international tätig. Ihre Arbeit wurde mehrfach mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet.

Darja Nesterowa ist Sozialpädagogin und war in Bischkek und Berlin in der Kinder- und Familienhilfe tätig.
 

Knapp eine Million Kirgis*innen leben und arbeiten in Russland

Damit hat jede Familie mindestens eine*n Angehörige*n, der oder die sich als Arbeitsmigrant*in im Ausland aufhält. In Russland angekommen, arbeiten die Menschen hart und viel, meist als Taxifahrer*in, in Fabriken, auf dem Bau oder als Putzkraft, weit entfernt von der Familie und kämpfen täglich mit Hindernissen. Die sprachliche Barriere, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse führen dazu, dass Menschen gesellschaftlich isoliert und unter prekären Umständen leben müssen. Das erwirtschaftete Geld schicken sie in die Heimat zu ihren Familien nach Kirgistan. Nicht selten, um ihre Kinder finanziell abzusichern, die sie bei ihren Verwandten auf unbestimmte Zeit untergebracht haben. Die jährlichen Rücküberweisungen machen erstaunliche 30 Prozent des kirgisischen Bruttoinlandsprodukts aus, was deutlich macht, wie stark kirgisische Haushalte auf die Migration angewiesen sind.

Doch was bedeutet die Migration für die Zurückgebliebenen? Die Bilderstrecke der Fotografin Louise Amelie, die in Zusammenarbeit mit der Sozialarbeiterin Darja Nesterowa im Sommer 2021 entstanden ist, gibt Einblicke in das Land und in die Familien, die in Kirgistan auf ihre Familienangehörigen warten.

Das Dilemma der fehlenden Arbeitsplätze für ausgebildete Fachkräfte und Akademiker*innen beschäftigt das ganze Land. Durch die instabile Situation des Staates ist die Korruption bis in den Bildungsbereich gedrungen. Viele können ihre eigene Bildung oder die ihrer Kinder nicht bezahlen oder sehen in hohen Investitionen in die Bildung keine Zukunft. Die Angst ist zu groß, später keinen der Ausbildung entsprechenden Job zu finden. Menschen im berufsfähigen Alter brechen ihre Schulausbildung ab, um in Bischkek oder Moskau zu arbeiten. Die Verwandten stehen oft unter Druck, ihre Familien finanziell zu unterstützen.

Patriarchale Gesellschaftsstrukturen mit wenig Entscheidungsfreiheiten

Aufgrund tief verwurzelter gesellschaftlicher und innerfamiliärer Hierarchien verfügen viele junge Männer über wenige Entscheidungsfreiheiten. Sie werden innerhalb der Familien erst als mündige Individuen anerkannt, wenn sie genug Geld in die Familien bringen oder einen hohen gesellschaftlichen Status erlangen. Gerade für Frauen ist der Aspekt der Emanzipation durch die Migration gravierend und in vielen Fällen eine Möglichkeit, sich aus patriarchalen Gesellschaftsstrukturen zu befreien. In Russland haben die Männer und Frauen trotz der oft schwierigen Lebensverhältnisse vor Ort, mehr Wahl zu entscheiden, wie sie ihr Leben führen wollen.

Nurik, der mit privaten Taxifahrten in der kirgisischen Stadt Osch das Einkommen seiner Frau aufstockt, musste sein Jurastudium aufgrund finanzieller Not abbrechen und arbeitete vier Jahre in Russland als Bauarbeiter. Auf dem Arbeitsmarkt in Kirgistan bekommt der Dreißigjährige ohne Abschluss keine Anstellung. Viele seiner Klassenkameraden teilen dieses Schicksal. Er kenne viele Ehepaare, die sich durch die Entfernung voneinander distanziert haben. Zu unterschiedlich seien die Lebensrealitäten geworden und erschweren das Zusammenleben. Gerade für geschiedene Mütter ist das Leben in Kirgistan schwer, da es keine Unterstützung für Alleinerziehende gibt. In traditionellen Familien wird die Schuld an der Trennung oft der Frau zugesprochen und sie verliert an Ansehen. Für die Angehörigen bedeutet eine geschiedene Frau in der Familie oft Scham, selbst wenn sich die Frau aufgrund von Gewalttätigkeit ihres Partners getrennt hat. Merim, die mit Nurik verheiratet ist, arbeitet trotz des abgeschlossenen Medizinstudiums als Lehrerin an der medizinischen Fakultät in Osch. Um ihren Beruf als Ärztin auszuüben, müsste sie ein mit monatlich 2500 Som - umgerechnet etwa 25€ - vergütetes Vorbereitungsjahr absolvieren, was sich die Familie nicht leisten kann. Merim und Nurik träumen davon, im Ausland eine Arbeit zu finden, am liebsten in Österreich oder Tschechien. Sie wollen als Familie das Land verlassen, was aufgrund der strengen europäischen Einreisebestimmungen für Kirgis*innen sehr kompliziert ist. Merim wäre bereit, allein auszureisen, möchte ihrem Mann die Versorgung der drei Kinder jedoch nicht allein überlassen. Gerade ihr jüngster Sohn sei noch sehr auf seine Mutter angewiesen und würde ihre Abwesenheit nicht verkraften. Überlegungen, die Kinder bei ihrer Schwester unterzubringen, hegt sie dennoch.

Gut ausgebildete Menschen bleiben nur selten im Land

Für Kinder aus wohlsituierten Familien besteht die seltene Chance, eine Arbeit in Europa oder in den USA zu finden. Nur die wenigsten gut ausgebildeten Menschen bleiben im Land. Vor allem in den Dörfern der trockenen und heißen Regionen wie Batken und Osch gibt es kaum attraktive Lebensperspektiven. Häufig verlassen die Jugendlichen schon mit 16 Jahren ihre Familien. So wie die 24-jährige kirgisische Mutter, die wir im Tschong-Kemin-Tal trafen. Sie lebt seit fünf Jahren in Russland und hat dort ihren ersten Sohn geboren. Zum ersten Mal konnte sie sich einen Urlaub in Kirgistan leisten, um ihre Eltern und ihre Schwestern wiederzusehen. Der baldige Abschied stimmt die Schwestern traurig. Auch wenn sie sich in Russland oft einsam fühlt und ihre Familie vermisst, plant sie, dort zu bleiben, um ihrem Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Wann sie das nächste Mal wiederkommen kann, ist nicht gewiss. Viele Eltern entscheiden sich dafür, ihre Kinder bei Geschwistern oder Großeltern im Heimatland zurückzulassen.

Am nördlichen Ufer des Yssykköl-Sees, in einem kleinen Dorf, wohnt und arbeitet eine junge Mutter mit vier Kindern über den Sommer. Sie verkauft in einem kleinen Laden vor dem Wohnhaus ihrer Eltern selbst hergestellte Milchprodukte. Eigentlich lebt sie mit den Kindern in einer kleinen Wohnung in Bischkek. Um der Hitze im Sommer zu entfliehen, verbringt sie den Sommer bei ihren Eltern im Haus am berühmten Bergsee. Zwei der Kinder hat sie von ihrem Bruder in Betreuung genommen, der mit seiner Frau nach Russland gegangen ist. Wann sie das nächste Mal wiederkommen, ist unklar. Ihre Lebensverhältnisse in Russland seien noch zu schlecht, um die Kinder nachzuholen, der Verdienst sei gering. Die Mutter ist mit der Erziehung der vier Kinder, die im selben Alter sind, oft überfordert und freut sich über die Unterstützung ihrer Eltern. Die Kinder skypen manchmal mit ihren Eltern, diese hätten allerdings wenig Zeit. Ihre ältere Schwester ist vor 10 Jahren nach Deutschland gegangen, um als Nanny zu arbeiten. Inzwischen hat sie in Bayern einen Job am Flughafen gefunden, geheiratet und einen Sohn bekommen. Sie vermisse ihre Schwester sehr, sie telefonieren daher oft.

Verlust der zwischenmenschlichen Verbindung

In Kirgistan werden schätzungsweise 277.000 Kinder bei Verwandten oder in Betreuungsinstitutionen zurückgelassen. Die Kommunikation zwischen den Verwandten und den Kindern ist oft schwierig. Dabei ist das Verhältnis zwischen den Großeltern und den Enkelkindern besonders anfällig für Konflikte, wenn sie die emotionalen Bedürfnisse der Kinder nicht mehr erfüllen oder nachvollziehen können. Aber auch die Kommunikation zwischen den im Ausland lebenden Eltern und ihren Kindern ist in vielen Fällen nicht einfach. Über mehrere Jahre haben Kinder nur über das Smartphone Kontakt zu ihren Eltern, wodurch oft die Qualität und Tiefe der Kommunikation leidet. Viele Eltern wissen nicht, was ihre Kinder brauchen und verlieren die zwischenmenschliche Verbindung zu ihnen. Aus der Entfernung schaffen sie es nicht, auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Fragen wie «Geht's dir gut? Passt du gut auf deine Schwester auf? Wie geht es deiner Großmutter? Gehst du auch immer fleißig in die Schule?» sind alles, was Kinder von ihnen hören. Die Eltern können sich meist keine Zeit für die Gefühle, persönliche Anliegen oder Probleme der Kinder nehmen. Oft wissen die Kinder nicht, was ihre Eltern im Ausland tun, weshalb sie gegangen sind, wann sie wiederkommen oder ob sie überhaupt jemals wieder zusammenleben werden. Bei den Kindern entsteht ein «emotionales Loch», über das nicht gesprochen wird. Mit materiellen Aufmerksamkeiten versuchen Eltern die Kinder zu trösten. In der Schule fehlen Kinder von Eltern, die sich im Ausland befinden, besonders häufig. Auch problematisches Verhalten wird von Lehrer*innen beobachtet. Außerdem sind in den letzten Jahren erschreckend viele Fälle verzeichnet worden, in denen Kinder von Verwandten körperliche sowie psychische Gewalt erfuhren. Gerade Mädchen sind, ohne den elterlichen Schutz, der Gefahr sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Sind die Verwandten nicht in der Lage, die Kinder materiell zu versorgen, werden Kinder temporär in staatlichen oder privaten Kinderheimen oder Internaten untergebracht. Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten und die Gewalt von Verwandten erfahren haben, leben öfter auf der Straße und werden von den Behörden in den Institutionen untergebracht. Die meisten Kinder in den Kinderheimen sind sogenannte Sozialwaisen, Kinder deren Eltern aufgrund ihrer schwachen sozioökonomischen Verhältnisse nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu versorgen. In Heimen oder Internaten ist das Risiko noch höher, allen Formen von Gewalt ausgesetzt zu sein. Die Kinder leben gesellschaftlich isoliert und haben meist ihren Geburtsort nie verlassen. In privaten wie in staatlichen Kinderheimen reichen die finanziellen Mittel nicht aus, um die Kinder angemessen zu beschäftigen oder zu versorgen. Machabat, Direktorin des Kinderheims der Stadt Karakol, fühlt sich vom Staat im Stich gelassen, dem das Schicksal der Kinder gleichgültig zu sein scheint. Zu wenig Personal und zu wenig materielle Ressourcen belasten die psychische Entwicklung der Kinder. Die Leiterin selbst überlegt, Kirgistan zu verlassen und zu ihren Kindern nach Russland zu ziehen. Sie könne keine Verbesserung der ökonomischen Situation in den vergangenen Jahren beobachten und habe daher wenig Vertrauen in die Regierung.

Für einige Familien ist eine langfristige Trennung undenkbar. Durch harte Arbeit auf dem Feld oder in den Bergen als Hirten versuchen die Eltern den täglichen Bedarf zu decken. So teilt auch die Arbeitsmigration innerhalb des Landes viele Familien. Die Möglichkeit, im Notfall nach Russland gehen zu können, gibt ihnen dennoch etwas Sicherheit. Inzwischen ist es für viele Familien in Kirgistan normal, sich auf kurze oder unbestimmte Zeit zu trennen, denn oft kann nur so der familiäre Alltag gemeistert werden. Das Warten auf die Mutter, den Vater, den Sohn oder die Tochter wird zu einer anstrengenden und anspruchsvollen Aufgabe, die die zurückgebliebenen Familien allgegenwärtig zu leisten haben. Die getrennten Familienmitglieder kämpfen sowohl in Russland als auch in Kirgistan um das Wohl ihrer Familien.