Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Migration / Flucht - Gesellschaftstheorie - Reproduktive Gerechtigkeit Was ist reproduktiver Rassismus?

Im Gespräch mit Sophia Siddiqui

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Nicht allen wird das Recht auf Familie zugestanden. (Sticker am George Floyd Square in Minneapolis). CC BY 2.0, Foto: Flickr/Lorie Shaull

Dass die Geburtenraten steigen müssen, da sind sich Konservative und Rechte einig. Zugleich wird bestimmten Gruppen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und auf das Kinderkriegen und –großziehen systematisch abgesprochen. Diese Zusammenhänge betrachtet Sophia Sidiqqui in einem kürzlich erschienenen Artikel und beschreibt das Phänomen eines «Reproduktiven Rassismus». Ein Gespräch über Rassismus, Antifeminismus und die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit.

Sie benutzen den Begriff «reproduktiven Rassismus». Warum? Was verstehen Sie darunter?

Ich habe mir die Entwicklungen in Europa angeschaut und festgestellt, was für eine wichtige Rolle antifeministische Maßnahmen für die extreme Rechte spielen. Von Angriffen auf reproduktive Rechte über die Rücknahme von Gesetzen gegen häusliche Gewalt bis zur Abschaffung von Gender Studies. Am Institute of Race Relations, wo ich arbeite, wird ausführlich über den Rassismus als Nährboden des Faschismus geforscht. Ich habe bemerkt, dass auch der Antifeminismus ein integraler Bestandteil der extremen Rechten ist. Zugleich haben wir gesehen, wie die ganze Welt von einer Welle feministischer Streiks überrollt wurde und auch in Großbritannien eine feministische, antifaschistische Bewegung aufgeflammt ist. Diesen Moment wollte ich verstehen. Mit ist schnell klar geworden, dass hier nicht nur Frauen angegriffen werden, sondern auch trans* Personen, queere Menschen, Migrant*innen und Asylsuchende. Der Begriff «reproduktiver Rassismus» entspringt dieser Forschungsarbeit und ermöglicht es, diese Dinge als gemeinsames Phänomen zu begreifen und zusammenhängend zu verstehen.

Als ein Beispiel für «reproduktiven Rassismus» nennen Sie die finanziellen Anreize fürs Kinderkriegen, die von rechten Regierungen mit einer offen nationalistischen und pronatalistischen [1] Agenda eingeführt wurden, etwa in Ungarn, Polen und Italien. Solche Leistungen galten andernorts und zu anderen Zeiten aber als «normaler» Teil des Sozialstaats. Ist diese «Agenda der Geburtenraten» ein Bindeglied zwischen der extremen Rechten und Mainstream-Konservativen? Und inwieweit unterscheiden sich die Ziele ihrer reproduktiven Politik?

Die Agenda der Geburtenraten ist ein Kontinuum, das die Absichten der extremen Rechten und des Mainstreams mit einschließt. Einerseits gibt es eine Politik des Zwangs, die die Möglichkeiten, Kinder zu bekommen, einschränkt. Auf der anderen Seite gibt es für bestimmte Frauen* finanzielle Anreize, zu gebären. Darüber hinaus gibt es weitere Politiken, die die Möglichkeit, Kinder zu bekommen und großzuziehen, einschränken, von Austeritätspolitik bis zur Inhaftierung von Menschen oder rigiden Migrationsregimen, die in Großbritannien, in Deutschland, in Frankreich und vielen anderen Ländern tief verankert sind. Doch es gibt auch die Verschwörungstheorien der extremen Rechten, wie etwa die Idee des «großen Austauschs», auf die sich europäische Politiker*innen beziehen: die Idee, dass weiße Bevölkerungsgruppen in Gefahr sind, von Migrant*innen ausgelöscht zu werden. Alle diese Dinge sollten wir als ein Kontinuum betrachten, denn was sie in ganz Europa verbindet, ist der tief im Mainstream verankerte Nativismus. Hier in Großbritannien haben wir ein feindseliges Umfeld, das für schwangere Frauen* einer Kultur der Angst erzeugt: Angst vor Abschiebung, Angst, für die Behandlung im Krankenhaus bezahlen zu müssen, Angst, den Behörden gemeldet zu werden.

All dies hat tödliche Auswirkungen.

Sophia Siddiqui schreibt über antirassistischen Feminismus am Institute of Race Relations (IRR) in London, einer Organisation, die sich für antirassistische Kämpfe in Großbritannien, Europa und weltweit einsetzt. Sie ist leitende Redakteurin des IRR-Journals Race & Class. 

Das Gespräch führte Conni Schwaerzer-Dutta.

Auf einer antirassistischen Kundgebung in Großbritannien wurde drei verstorbenen Schwangeren gedacht, die aus Angst vor Abschiebung keine medizinische Hilfe suchten. Ist durch die Corona-Krise dieser Zusammenhang deutlicher geworden, dass der mangelnde Zugang und Rassismus im Gesundheitssystem entscheidend zu gesellschaftlicher und reproduktiver Ungerechtigkeit beiträgt?

Corona hat ein Schlaglicht auf diese Probleme geworfen und die systemischen Ungleichheiten von Rassismus und Klassenherrschaft auf der ganzen Welt sichtbar gemacht. Es wurde deutlich, dass bestimmte Communities durch diese systemischen Ungleichheiten wesentlich stärker mit dem Tode bedroht sind als andere. Die antirassistische Kundgebung in Großbritannien stand im Kontext der Pandemie. Dort kamen Gruppen von Hausarbeiter*innen, Gruppen, die sich für die Rechte von Einwander*innen einsetzen, LGBTQ-Gruppen und Beschäftigte im Gesundheitswesen zusammen – ein eindrückliches Beispiel von Solidarität. Doch wir müssen noch weiter gehen. Diese Solidarität muss grenzüberschreitend sein, unser Widerstand muss antiimperialistisch und antikolonial werden, um die tiefen Wurzeln der globalen Ungleichheit in Gesundheitsfragen zu verstehen.

Sie haben darauf hingewiesen, wie das Bild des unschuldigen schutzbedürftigen Kindes, symbolisch von der Rechten benutzt wird. Zugleich gibt es viele Kinder, die von Rassismus, Klassismus und Ableismus betroffen sind und die keinen Schutz erhalten.

Es ist wirklich erschreckend, wie die Figur des unschuldigen und gefährdeten Kindes für politische Zwecke missbraucht werden kann, besonders als Teil einer Anti-LGBT-Rhetorik. Damit hängt die Frage zusammen, wem eine Kindheit eigentlich zusteht, wer als schützenswert und wer als Bedrohung wahrgenommen wird. Gegenwärtig erreichen uns die Berichte von vielen Todesfällen an der Grenze zwischen Polen und Belarus, darunter auch Kinder. Es zeigt, dass manche Kinder als «lebensunwürdiges Leben» angesehen werden und das müssen wir in den Mittelpunkt unseres Widerstands stellen. Wir müssen für die Rechte von Kindern und die Rechte jeden Lebens kämpfen, zu jeder Zeit.

Die Instrumentalisierung von Kindern erscheint als ein Widerhall der Instrumentalisierung von Frauen in rassistischen nationalistischen Diskursen.

Ja, darin spiegelt sich wider, wie die extreme Rechte Frauen und Frauenrechte instrumentalisiert. Etwa indem behauptet wird, dass sexuelle Gewalt ausschließlich von muslimischen Männern gegen weiße Frauen ausgeübt wird. In meinem ersten Forschungsprojekt am Institut for Race Relations habe ich mir sexuelle Gewalt in Rotherham im Norden von Großbritannien und den medialen Diskurs über sogenannte «[süd]asiatische Grooming-Gangs» in einem fürchterlichen Fall von Kindesmissbrauch angesehen. Diese rassifizierte Form der moralischen Panik hat die nichtweißen Opfer dieser Sexualverbrechen unsichtbar gemacht – jene Opfer, die nicht in das Narrativ passten, dass [süd]asiatischer Gangs sich an vulnerablen weißen Mädchen vergreifen.

Dieses rassifizierte Narrativ können wir in Europa wieder und wieder beobachten. Es spielt eine wichtige Rolle in dem Prozess, wie bestimmte Kinder als «gefährlich» konstruiert werden, der Idee, dass sie zu einer Bedrohung heranwachsen: Ein unbegleiteter geflüchteter Junge wird zu einem migrantischen Mann, der eine Gefahr für Frauen* und für die Nation darstellt, diese beiden Vorstellungen sind eng miteinander verknüpft. Deshalb brauchen wir einen antirassistischen, feministischen Ansatz, der Rassismus und sexuelle Gewalt zugleich adressiert.

Sie weisen darauf hin, dass das Ideal der westlichen Kernfamilien im Neoliberalismus nur durch die Überausbeutung von migrantischen Arbeiter*innen aufrechterhalten werden kann, denen wiederum das Recht auf Reproduktion und Familienleben verwehrt wird. Warum wird dieses Problem bislang kaum anerkannt? Was wären die politischen Folgen, wenn sich das endlich ändern würde?

Dieser Zusammenhang ist für mich ganz ein offensichtlicher: Die Arbeit von Migrant*innen wird überausgebeutet, was ihnen die Chance nimmt, sich um ihre eigene Familie zu kümmern. Das geschieht vor allem im Care-Sektor, und vor allem im häuslichen Arbeitsumfeld. Migrantische Arbeiter*innen werden immer noch als Arbeitseinheiten statt als Menschen betrachtet; die Tatsache, dass sie soziale Bedürfnisse, Familien und ein Privatleben haben wird oft ignoriert. Das ist so entmenschlichend. Wir müssen den Zusammenhang dieser Probleme begreifen und verstehen, dass Migrant*innen nicht nur als Arbeiter*innen, sondern auch als Mütter* Rechte brauchen und dass diese beiden Rollen zusammenhängen. Wenn wir uns die Gesamtheit ihrer Erfahrungen anschauen, dann wird die Idee, dass sich das Öffentliche und das Private so einfach trennen lassen, schnell fragwürdig - eine Einsicht, die den feministischen Aktivismus schon seit Jahrzehnten prägt.

Ihrer Ansicht nach reichen Intersektionalitätstheorien nicht aus, um die Ursachen des reproduktiven Rassismus und seine Rolle in der kapitalistischen Gesellschaft zu erklären. Welche Theorie bietet hier einen besseren Ansatz?

Die Theorie der Intersektionalität ist vor allem wichtig, um aufzuzeigen, wie verschiedene Unterdrückungsformen auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene zusammenwirken. Wir müssen aber noch einen Schritt weiter gehen, denn sie sagt nichts darüber aus, warum diese Unterdrückungsformen überhaupt existieren, vor allem unter der heutigen neoliberalen Weltordnung. Ich glaube nicht unbedingt, dass wir eine andere Theorie brauchen, sondern eher, dass wir unsere bestehenden Theorien erweitern und ihr kreatives Potential entfalten sollten. Was würde es heißen, weniger über die Intersektionalität im Leben einer einzelnen Person und mehr über eine Intersektionalität der Kämpfe nachzudenken? Als eine kollektive Theorie, in der wir darüber reflektieren, was uns beeinflusst, aber auch, wie wir andere beeinflussen. Wir können sehen, wie sich diese Art von Widerstand formiert, zum Beispiel haben polnische Mütter*Asylsuchende an der Grenze zwischen Polen und Belarus unterstützt, und streikende Frauen* haben gegen einen Gesetzentwurf des Parlaments protestiert, der die Pride Parades in Polen verbieten würde. Menschen, die davon betroffen sind, sehen einen Zusammenhang zwischen all diesen Kämpfen. Entscheidend ist aber, dass wir von der

lokalen auf die transnationale Ebene übergehen und verstehen, dass diese Anliegen wirklich alle zusammenhängen. Um wieder auf die Krise in Polen und Belarus einzugehen: letzte Woche wurden Einheiten des britischen Militärs an die Grenze entsendet. Wenn das britische Militär in die Ereignisse in Polen involviert ist, sollte unsere Solidarität ebenfalls dort gelten.

Sie schreiben, dass Sie die feministische Streikbewegung inspiriert hat, als «Bewegung, die erkennt, dass antirassistische, ökonomische und Gendergerechtigkeit unteilbar sind». Könnte dies die Basis für weitere Bündnisprozesse sein oder brauchen wir eine Bewegung für reproduktive Rechte in Europa ähnlich wie die der Black Feminists in den USA?

Die feministische Streikbewegung und die Forderungen nach einem Feminismus für die 99 Prozent sind eindrückliche Beispiele eines intersektionalen Feminismus. Die Stärke dieser Bewegungen liegt darin, dass sie die Kämpfe gegen männliche Gewalt mit Kämpfen gegen andere Formen der Gewalt, wie Transphobie, Homophobie, Rassismus und der Gewalt am Arbeitsmarkt verbinden. Eine andere Bewegung in diesem Zusammenhang ist die abolitionistische[2] Bewegung. Ihre Wurzeln reichen historisch sehr weit zurück und im Zuge der Protestbewegung Black Lives Matter ist sie in den letzten zwei Jahren in den Vordergrund gerückt. Ich sehe in dieser Bewegung eine große Stärke, denn Abolitionist*innen argumentieren, dass Gewalt nicht unausweichlich ist und dass die tieferen Ursachen der Gewalt adressiert werden können, bevor sie überhaupt geschieht. Was ich von abolitionisitischen Feministinnen gelernt habe ist, dass wir Gewalt in all ihren Formen sehen müssen: zwischenmenschliche Gewalt, staatliche Gewalt, die Gewalt des Marktes und des Kapitalismus. Dieses Verständnis ist für den Aktivismus für reproduktive Rechte in den USA entscheidend. Statt neuer Bewegungen brauchen wir eine Fusion aller verschiedenen Bewegungen, die zusammenfinden sollten.

Was müssen wir beachten, wenn wir Begriffe wie reproduktive Gerechtigkeit oder Abolitionismus, die aus dem US-Kontext der Schwarzen und Schwarzen feministischen Bewegung stammen, auf europäische Kontexte und Bewegungen übertragen?

Man kann diese Konzepte nicht einfach so importieren, so einfach ist es nicht. Wir müssen uns fragen, wie eine zukünftige, abolitionistische Welt aussehen könnte. Es gibt viele Unterschiede im Vorgehen des US-Staates gegenüber vielen europäischen Ländern. Es gibt spezifische Strukturen von Gefängnissen hier in Europa, für die wir ein abolitionistisches Verständnis entwickeln müssen, das betrifft insbesondere Grenzregime. Und wir müssen auch danach auch fragen, was uns der Abolitionismus in Bezug auf psychische Gesundheitsversorgung, auf einen gerechten Umgang mit Behinderungen und auf die Organisation des Bildungswesens lehren kann. Abolitionismus bedeutet nicht nur, dass man Dinge einreißt, er bedeutet auch Alternativen aufzubauen, um uns und einander zu beschützen. Dazu zählt der kreative Akt, uns eine Zukunft vorzustellen, in der wir leben wollen.

Wo sind solche Ansätze bereits vorhanden?

Ich glaube es geschieht viel auf der Graswurzel-Ebene, von dem wir nicht viel mitbekommen. Vor allem die

Bewegung gegen Gefängnisse ist in Großbritannien stark. Gerade nach dem Mord an Sarah Everard durch einen Polizisten regt sich viel Widerstand. Seitdem haben abolitionistische Feminist*innen wichtige Arbeit geleistet und aufgezeit, wie Polizeigewalt und geschlechtsspezifische Gewalt zusammenhängen. Letzten Monat hat die Gruppe namens Sisters Uncut eine Reihe von Trainings durchgeführt und Menschen beigebracht, wie sie interventieren können, wenn sie eine Polizeikontrolle und Personendurchsuchungen beobachten. Auch im Bildungsbereich haben wir eine starke aktivistische Bewegung, die sich zum Beispiel gegen Polizist*innen an Schulen einsetzt und auf die Bedeutung von Bildung für die Entwicklung von Kindern aufmerksam macht.

Das sind Bereiche, wo es viele konkrete Anstrengungen gibt.

Sie haben den reproduktiven Rassismus als «neuen rassistischen Avatar» bezeichnet. Wie und wo möchten sie mit dem Begriff des «reproduktiven Rassismus» intervenieren?

Ich wende mich sowohl an Feminist*innen als auch an Antirassist*innen. Eine feministische Bewegung, die sich allein auf das Recht auf Abtreibungen konzentriert, hat einen sehr verengten Zugang und ich wollte den feministische Blick erweitern und aufzeigen, dass Antirassismus ein integraler Bestandteil des Feminismus sein sollte. Gleichzeitig wollte ich diejenigen Antirassist*innen adressieren, die Gender und Feminismus für eine zweitrangige Angelegenheit halten. Antirassismus und Feminismus müssen Hand in Hand gehen. Debatten um Rassismus, die sich nicht mit dem Thema Gender beschäftigen, sind unvollständig, genauso wie feministische Debatten, die Rassismus ausklammern. Ich wollte beide Seiten ansprechen und betonen, dass wir einen antirassistischen Feminismus brauchen, wenn wir die Welt, in der wir leben, verstehen und Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung leisten wollen.


[1] Der (Pro)Natalismus (lateinisch pro «für» und natalis für «Geburt») setzt kinderreiche Familien als soziale und moralische Norm und forciert politische Maßnahmen, um das Bevölkerungswachstum zu fördern.

[2]Abolitionismus war historisch die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert. Heute fordern Abolitionist*innen auch die Abschaffung und Überwindung von staatlichen Institutionen wie Gefängnissen, die Gewalt ausüben und von Rassismus, Geschlecher- und Klassenherrschaft geprägt sind. Neue abolitionistische Bewegungen kritisieren Polizeigewalt, fordern eine Dekriminalisierung von z.B. Drogendelikten und Sexarbeit und den Aufbau alternativer Präventions- und Unterstützungsstrukturen, die die sozialen Ursachen von Gewalt adressieren.