Interview | Migration / Flucht - Corona-Krise «Man muss immerzu klopfen, wie ein Specht»

Über den Alltag in der Flüchtlingsunterkunft Bargkoppelstieg in Hamburg

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Autor

Nikolai Huke,

Ein selbstgeschriebenes Plakat macht auf die Situation der Geflüchteten im Erstaufnahmeeinrichtung im Bargkoppelstieg in Hamburg aufmerksam. 7-12 Familien, eine Toilette, eine Dusche, eine Küche steht auf dem Plakat.
Ein selbstgeschriebenes Plakat macht auf die Situation der Geflüchteten im Erstaufnahmeeinrichtung im Bargkoppelstieg in Hamburg aufmerksam. «Die Menschen in der Unterkunft sind kurz vor dem Verrücktwerden, weil keiner in irgendeiner Art und Weise Ruhe hat. Du bekommst alles mit, was in deiner Nachbarschaft passiert. Kinder schreien, Familien telefonieren sehr laut, hören Musik. Das ist gruselig. Das ist furchteinflößend. Und deshalb werden viele psychisch krank.» Nikola Huke

Shahriar Sabazad erzählt vom Alltag in der Flüchtlingsunterkunft Bargkoppelstieg in Hamburg. Ein Gespräch über kurze Hosen, Kakerlaken, gestresste Familien und Kinder. (Gespräch vom 19.11.2020)

Nikolai Huke: Wie haben Sie Ihre erste Nacht in einer Flüchtlingsunterkunft erlebt?

Shahriar Sabazad: Das war sehr merkwürdig, sehr neu für mich. Wir waren nur eine Nacht in dieser Unterkunft. Ich hatte also nicht so viel Zeit, das Ganze zu erkunden. Aber das war ziemlich anders, so was kannte ich noch nicht. Die Räume waren nur durch die Wände getrennt und man hatte kein Dach über dem Kopf. Als ich dort war und nachgedacht habe, kam mir das wie eine Haftanstalt vor. Es kam mir so vor, als ob ich in einer Zelle bin, weil da kein Dach war, das war alles offen. Sehr merkwürdig. Was mich oder uns in dieser Nacht gestört hat, war, dass die Securities abends sehr laut über Lautsprecher Koran gehört haben. Ich habe höflich gefragt: «Wir sind erschöpft und wollen uns erholen mit meiner Familie, wäre es möglich, dass Sie Kopfhörer benutzen?» Dann kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen uns, weil er sagte: «Aber bist du nicht Muslim? Warum sollte dich das stören?» Aber in dieser Unterkunft sind wir nur einen Tag geblieben, während dem wir unseren Corona-Test abgewartet haben. Am nächsten Tag ging es dann mit der Anmeldung los. Das heißt: Erstinterview, Fingerabdrücke, was so alles üblich ist.

Dieses Interview ist Teil einer Interview-Reihe von Nikolai Huke.
Im Jahr 2020 führte er im Rahmen des Forschungsprojekts «Gefährdetes Leben. Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften im Zuge der Corona-Pandemie» an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) 16 qualitative Interviews mit Geflüchteten in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, um Einblick in ihre Situation während der Corona-Pandemie zu bekommen. Alle Gespräche auf einen Blick: www.rosalux.de/corona/corona-gefluechtete

Wohin wurden Sie danach verlegt und wie waren dort die Bedingungen?

Nachdem wir übergangsweise in noch einer anderen Unterkunft waren, lebten wir in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung im Bargkoppelstieg. Alleinstehende Männer haben dort zwei Räume mit einem Eingang. Pro Raum sind es sechs Personen. Kein Zimmer hat eine Decke. Das heißt, die Wände der Zimmer sind oben offen. Die Familien haben einen Raum. Beim Ankommen landet man erst mal in einem provisorischen Bereich, bis man die medizinischen Untersuchungen hatte, bürokratische Fragen erledigt sind, all das muss abschlossen werden, bevor man überhaupt in die permanenten Abteilungen verlegt wird. Dort werden Alleinstehende und Familien getrennt. Die Menschen in der Unterkunft sind kurz vor dem Verrücktwerden, weil keiner in irgendeiner Art und Weise Ruhe hat. Du bekommst alles mit, was in deiner Nachbarschaft passiert. Kinder schreien, Familien telefonieren sehr laut, hören Musik. Das ist gruselig. Das ist furchteinflößend. Und deshalb werden viele psychisch krank. Ich habe die Einrichtung deshalb immer einen höflichen Knast genannt. Es gibt dadurch Konflikte zwischen Bewohnern. Zum Beispiel hören manche Familien morgens um vier sehr laut den Muezzin. Obwohl die weder aufstehen noch um diese Uhrzeit beten. Sie machen das aus Gewohnheit oder warum auch immer. Das bedeutet, du musst dann um vier Uhr morgens aufstehen, zum Sozialmanagement hingehen und die darum bitten, da zu klopfen und zu sagen: «Kannst du das bitte ausmachen?» Letztendlich habe ich das aufgegeben. Ich habe mir meine Ohren zugehalten und jetzt habe ich Ohropax.

Die Sanitäreinrichtungen sind ein anderes Problem. Die Duschkabinen für die Damen waren in einer Abteilung, wo nur alleinstehende Männer leben. Alleinstehende Frauen lebten in der Familienabteilung. Das bedeutet, wenn eine Frau duschen wollte, musste sie durch die ganze Männerabteilung durch, duschen und wieder zurück. In den Duschkabinen fließt alles Wasser aus den unterschiedlichen Duschen am Boden zusammen. Das ist eine flache Ebene, die mit Wänden getrennt wurde. Das Wasser der Leute, die neben dir duschen, fließt also immer zu deinen Füßen. Sehr hygienisch ist das nicht, wenn du im Restshampoo von deinen Nachbarn stehst. Vor allem für kleine Kinder ist das fatal. Jeder sucht sich deshalb eine Duschkabine, in der niemand neben einem duscht. Weder die Toiletten noch die Duschen sind für kleine Kinder ausgelegt.

Die Mini-Küche ist auch in der Abteilung, wo alleinstehende Männer leben. Das heißt, Wasserkocher und so ganz, ganz banale kleine Sachen, die man auch für kleine Kinder braucht, die sind alle dort. Das bedeutet, man muss auch dafür durch den ganzen Flur durch und dann auch wieder zurück. Weil wenn man kleine Kinder hat, braucht man häufig heißes Wasser. Ich habe dem Sozialmanagement vorgeschlagen, dass es gut wäre, bei den Securities einen Tisch hinzustellen. Natürlich unter Aufsicht, mit einem Wasserkocher und einer Mikrowelle. Die Kinder bekommen plötzlich Hunger, man kann was Kleines besorgen und aufwärmen und dem Kind geben. Nur ein Tisch, habe ich betont, der wirklich klein ist und mit einer Mikrowelle, und unter Aufsicht, nicht unbeaufsichtigt. Die Antwort war, es sei zu kostspielig, es sei aufwendig. Solche Ausreden haben wir zu hören bekommen. Was das Sozialmanagement betrifft, das Gefühl habe nicht nur ich, sondern viele Bewohner hier, beziehungsweise alle, da gilt: Man muss wie ein Specht sein. Immer wieder klopfen ohne Ende, ohne Pause, bis das überhaupt ankommt und ob dann überhaupt etwas erreicht wird, das ist dann die zweite Frage.

Haben Sie dafür noch ein anderes Beispiel?

Es gab das Problem mit den Kakerlaken. Wir hatten sehr viele Kakerlaken im Zimmer. Ich erwähnte das mehrfach beim Sozialmanagement. Letztendlich war die Aussage: «Na ja, aber warum beschweren nur Sie sich? Keiner sonst kommt mit der Beschwerde.» Ich fragte in der Nachbarschaft, die haben gesagt: «Ja, haben wir auch, aber das stört uns nicht.» Viele der Bewohner haben die Einstellung: Beschwer dich nicht, sonst wirst du mit einem negativen Stempel gebrandmarkt. Und deshalb bloß nicht vom Fleck bewegen oder sich beschweren. Und ich musste das dann irgendwie beweisen, dass sich viele Kakerlaken bei mir im Zimmer befinden. Letztendlich haben die gesagt: «Okay, wir geben Ihnen so eine Kakerlakenfalle.» Da habe ich ein paar gefangen und habe sie ihnen gezeigt. Sie haben gesagt: «Okay, wir kümmern uns darum, wir machen da irgendein Mittel rein.» Da wir in Teheran sehr viele Probleme mit Kakerlaken hatten, kenne ich mich damit aus, ich habe sehr lange mit Kakerlaken gekämpft. Man muss immer herausfinden, woher das kommt, die Ausgangsquelle. Und das habe ich dann herausgefunden und habe das dem Sozialmanagement auch gezeigt. Dort hatten wir auch so was wie eine Falle und da waren tausende von Kakerlaken. Und erst dann waren die bereit, dagegen etwas zu unternehmen und einen Kammerjäger zu rufen.

Ein anderes Problem war das Thema Waschmaschine, Wäsche waschen. Im Bargkoppelstieg darf man die Waschmaschinen nicht selbst bedienen. Es gibt einen Security, der oder die deine Wäsche wäscht. Um es einfacher zu haben, machen die es so: Alles, was die in die Hand bekommen, waschen die auf höchster Temperatur. Bunt und weiß, alles wird zusammengeschmissen und dann höchste Temperatur. Alle Menschen tragen hier zu kurze und zu kleine Sachen, weil alles heiß gewaschen wurde. Ich habe die Größe M, aber meine Sachen sind jetzt alle S. Man sieht das sehr deutlich, wenn die Menschen in der Unterkunft herumgehen, dass die Hosen immer kurz und knapp sind.

Wie ist die Essensversorgung in der Unterkunft?

Ich finde vor allem die Essenszeiten problematisch. Zwischen Mittag- und Abendessen liegen fünf Stunden, da habe ich vorher immer schon Hunger. Das Abendbrot besteht immer aus Wurst. Nur zwei Mal in der Woche haben wir Suppe. Mit zwei Scheiben Brot ist man bis elf Uhr abends auf jeden Fall wieder hungrig. Das führt dazu, dass man immer so um 23 Uhr hört, dass in jedem Zimmer Leute Kekse knabbern. Man hört das Knabbern von Keksen. Außerdem ist das Essen für kleine Kinder schlecht geeignet. Das heißt, entweder das Essen ist scharf oder es gibt Wurst, die für ein Kleinkind nicht gut verdaulich ist. Um dem Kind selbst essen zu kaufen, dafür reicht das Geld nicht. Um Essen für unser Kind zuzubereiten, gibt es außerdem keine Kochmöglichkeiten.

Wie lange leben die Menschen in dieser Unterkunft?

Ältere Menschen und Menschen, die krank sind, die werden sofort verlegt. Für die anderen ist dieses Camp eigentlich nur für sechs Monate vorgesehen. Die meisten landen dort mit einem Dublin-Verfahren, während dessen sie greifbar sein müssen, bis das Verfahren endgültig vorbei ist. Das ist der Sinn der Sache. Menschen, die in der Unterkunft leben, haben das Gefühl, dass die Bedingungen bewusst unbequem gemacht werden. Damit du irgendwann freiwillig sagst: «Ich kann nicht mehr.» Das ist so deren Theorie. Aus diesem Grund gibt es sehr wenige Bewohner, die sich beschweren, ihre Stimme erheben und irgendwas sagen.

Bei Konflikten zwischen Familien gibt es hier zwei Kategorien: leise Familien und laute Familien, sehr auffallende Familien und eher zurückhaltende. Und wenn die Familien einen Konflikt miteinander haben, dann werden die Familien verlegt, die laut waren. Aber die Familien, die leise sind, müssen in der Unterkunft bleiben. Das ist paradox. Familien, die laut sind, die werden verlegt nach Altona oder in die Sportallee, wo es wesentlich bequemer und besser ist. In Altona haben sie sogar separate sanitäre Räume. Das ist nicht nachvollziehbar für uns und sehr belastend. Warum machen die solche Unterschiede? Warum werden die Familien, die laut sind, verlegt an bessere Orte? Meine Familie, die leise ist und die niemanden stört, warum müssen wir hierbleiben?

Wie hat sich das Leben in der Unterkunft auf Sie und Ihre Familie ausgewirkt?

Die Situation hat dazu geführt, dass unsere Tochter, die wirklich immer sehr entspannt und ruhig war, durch das, was sie alles mitbekommt an Streitereien, an Beleidigungen untereinander in den Familien, sehr unruhig geworden ist. Sie ist nachts sehr schreckhaft und wacht auf, schreit laut. Sie ist auch aggressiv geworden. So war unser Kind vorher definitiv nicht. Ich habe dann eine deutschsprachige Therapeutin für sie gesucht und ein Beratungsgespräch gehabt. Die Therapeutin meinte: «Ihr Kind muss zwölf Stunden täglich schlafen.» Da habe ich gesagt: «Versuchen Sie mal, hier auch nur für eine Stunde einzuschlafen.»

Wie hat sich Ihr Leben durch Corona verändert?

Momentan befinden wir uns in einem Zirkel, der kein Ende nimmt. Wenn jemand positiv getestet wird, werden wir in die Quarantäneunterkunft verlegt. Dann werden wir alle mehrfach getestet, bis unsere Testergebnisse wieder negativ sind und zurück in den Bargkoppelstieg verlegt. Dann passiert wieder das Gleiche, jemand ist infiziert, wir werden wieder hierher verlegt. Der Umzug ist immer sehr stressig und anstrengend. Letztendlich sind wir auch nur Menschen und wieviel Geduld und Kraft muss ein Mensch haben, um all das zu überstehen? Es sollte ein Alarmsignal sein, dass 280 Menschen hier in der Quarantäne sind. In anderen Camps sind die Fälle wesentlich, wesentlich geringer.
Es gibt hier zwei Abteilungen, einmal für Leute, die Corona-positiv sind und dann für die, die Corona-negativ sind. Für die, die Corona-negativ sind, sind die Bedingungen ein bisschen besser, es gibt Ausgangsmöglichkeiten, die Kinder können auch draußen spielen. Wir haben zwar einen Indoor-Spielplatz für die Kinder, aber das ist nicht so wie draußen. Die Bedingungen sind schon sehr schwierig, weil man quasi eingesperrt ist. Alle Menschen, die hier sind, müssen sich irgendwie beschäftigen. Beschäftigung heißt immer Internet, was lesen, was gucken. Wir haben Glück, dass bei uns im Raum bis früh morgens WLAN vorhanden ist. Es gibt Familien, die kein Internet haben. Die gehen um die Gebäude rum und alle stehen vor der Fensterbank und versuchen, einen Film downzuloaden, und gucken, dass sie sich irgendwie beschäftigen.

Ich wurde positiv auf Corona getestet, aber ich habe keinerlei Symptome. Das heißt: weder Kopfschmerzen noch Fieber, noch irgendwas. Wir sind seitdem jetzt seit 25 Tagen hier in Quarantäne. Die Bedingungen hier sind besser als im Bargkoppelstieg. Das Personal, das hier arbeitet, ist sehr gut. Das Gebäude an sich ist gut. Wie hier Menschlichkeit gilt und Verantwortung übernommen wird, das ist großartig. Zum Beispiel ein Mitarbeiter, der als Arzt in dem Camp arbeitet, wenn er sieht, dass du schwere Taschen hast, nimmt er sie mit und hilft dir bis zum Zimmer. Die Menschen sind hier sehr zuvorkommend. Jeder hat ein Zimmer für sich mit Decke über dem Kopf. Die Zimmer sind klein, kompakt und nicht offen. Im Speisesaal dürfen wir momentan nicht speisen wegen Corona. Das bedeutet, jeder nimmt sein Essen mit und geht ins Zimmer. Und dort kann man dann essen.

Trotzdem ist die lange Zeit der Quarantäne sehr anstrengend. Wir sorgen uns sehr, dass das Kleinkind krank wird. Der Stress belastet uns psychisch massiv, was auch innerhalb der Familie zu Konflikten führt. Ich habe mehrmals die Woche Konflikte mit meiner Frau, weil wir die ganze Zeit in einem Zimmer leben und beide besorgt sind und gestresst. Wir sind hier jetzt seit 25 Tagen und meine Frau und meine Tochter wurden schon mehrfach getestet, jedes Mal negativ. Und heute war ihr Ergebnis auch negativ, aber sie müssen in fünf Tagen noch einmal getestet werden. Wir werden jetzt provisorisch nochmal woanders hin verlegt, bis das Testergebnis von meiner Familie wieder negativ ist.

Nachtrag: Was ist passiert, nachdem Sie zurück in den Bargkoppelstieg verlegt wurden?

Als wir in das Quarantänelager verlegt wurden, sagten sie, es sei nur für zwei Wochen, also nahmen wir nur unser Gepäck für zwei Wochen mit und nicht unser ganzes Gepäck und unsere gesamte Ausrüstung und alles Zubehör. Am Ende blieben wir einen Monat im Quarantänelager. Als wir in die Unterkunft im Bargkoppelstieg zurückkehrten, hatten sie die Schlösser unseres Kleiderschranks aufgebrochen. Durch Missmanagement hatten sie unsere Habseligkeiten verloren und nicht mehr wiedergefunden.