Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Palästina / Jordanien Palästinenser*innen finden zu kollektiver Macht zurück

Gedanken zum «Aufstand der Einheit»

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Das Stadtviertel Sheikh Jarrah. Im Hintergrund: das Stadtzentrum von Jerusalem. CC BY 3.0, Foto: David Shankbone

Die palästinensischen Massenmobilisierungen auf beiden Seiten der «Grünen Linie» im April und Mai 2021 wurden durch verschiedene, miteinander verbundene Ebenen der Unterdrückung in Jerusalem ausgelöst. Im Stadtteil Sheikh Jarrah drohte einigen palästinensischen Familien die Zwangsräumung. Diese Enteignungserfahrung erinnerte an das, was Palästinenser*innen als die ethnische Säuberung Palästinas im Jahr 1948 und als Nakba («Katastrophe») beschreiben, als 75 Prozent der Bewohner*innen aus ihren Häusern vertrieben wurden, um Platz für jüdische Einwander*innen zu schaffen. Angesichts der auch nach der Gründung des Staates Israel nicht enden wollenden Unterdrückung bildete dieser Mikrokosmos jahrzehntelanger Vertreibung eine Art Katalysator für den Zusammenschluss. Im Frühjahr 2021 mündete dies in ein kollektives Aufbegehren, einen «Aufstand der Einheit». Das hat nicht nur einen bedeutenden Wandel in Bezug auf einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Narrativ bewirkt, sondern auch in Bezug auf die Rückgewinnung der palästinensischen Handlungsfähigkeit und der kollektiven Macht.

Vor dem Hintergrund der eingeschränkten palästinensischen Selbstbestimmung, der anhaltenden israelischen Kolonisierung und einer Reihe von Normalisierungsabkommen arabischer Staaten mit Israel, um nur einige Punkte zu nennen, haben der Widerstand und das Aufbegehren dem palästinensischen Volk seitdem einen neuen Horizont politischer Möglichkeiten eröffnet.

Shatha Abdulsamad ist palästinensische Forscherin und politische Analystin. Sie ist wissenschaftliches Mitglied beim palästinensischen Think Tank Al-Shabaka. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind internationales Recht, Menschenrechte und palästinensische Geflüchtete. Neben einem Master in Human Rights Law der American University in Kairo hat sie einen Bachelor in Public Administration der Birzeit University absolviert.

Der durch die Osloer Abkommen von 1993 in Gang gesetzte Friedensprozess führte zu einer Schwächung des einzigen legitimen Gremiums, das die Gesamtheit des palästinensischen Volkes vertritt, der PLO, die für den palästinensischen Kampf um Befreiung und Selbstbestimmung weitgehend irrelevant wurde. Der Konflikt zwischen den beiden großen palästinensischen Parteien, Fatah und Hamas, unterminierte die politische Vertretung der Palästinenser*innen zusätzlich. Da erstere die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland und letztere den Gazastreifen kontrolliert, entstand ein Machtvakuum, das eine Lähmung und Zersplitterung der Nationalbewegung zur Folge hatte und eine wachsende Kluft zwischen der Bevölkerung und ihrer Führung hinterließ.

Die politische Spaltung der Palästinenser*innen wird durch den israelischen Siedler*innenkolonialismus und die Apartheid aufrechterhalten und vertieft. Die schleichend voranschreitende israelische Besatzung stützt sich dabei auf einen systematischen Prozess der räumlichen, politischen und sozialen Fragmentierung der Palästinenser*innen. Im Westjordanland haben Israels illegale Siedlungen sowie der Ausbau von Umgehungsstraßen für Siedler*innen und die «Apartheid-Mauer» die dort lebenden drei Millionen Palästinenser*innen in isolierte Inseln und Enklaven aufgespalten. Seit 2007 belagert Israel den Gazastreifen mit einer Land-, Luft- und Seeblockade, die fast zwei Millionen Einwohner*innen vom Rest der Welt abschneidet. Darüber hinaus behindert Israel die Familienzusammenführung von Palästinenser*innen auf beiden Seiten der «Grünen Linie» und verweigert den über 5,6 Millionen palästinensischen Geflüchteten noch immer die Rückkehr. Jeglicher Widerstand wird durch israelische Kontrolle und Gewalt unterdrückt.

Die arabische Unterstützung der nationalen Rechte von Palästinenser*innen geriet mit der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und dem Sudan in den Hintergrund. Diese «Abraham-Abkommen» brachen mit dem arabischen Konsens, normalisierte Beziehungen zu Israel von einem israelischen Rückzug aus den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten abhängig zu machen. Aufgrund geopolitischer Interessenlagen wurde Israel infolge dieser Verschiebung regionaler Allianzen nicht weiter zu Zugeständnissen ermutigt und die Palästinenser*innen in ihrem Streben nach Selbstbestimmung im Stich gelassen.

Ausgelöst durch die drohende Vertreibung von Familien in Sheikh Jarrah mobilisierten sich die Palästinenser*innen, um sich kollektiv gegen ihre Zersplitterung, Auslöschung und Isolation zu wehren.

Sheikh Jarrah als Sinnbild fortschreitender Enteignung

Die drohende Zwangsräumung von acht palästinensischen Familien (mehr als 75 Personen), aus ihren lange bewohnten Häusern im besetzten und annektierten Ostjerusalem zugunsten einer israelischen Siedler*innenorganisation wurde durch ein israelisches Gericht beschlossen. Den Hintergrund für diesen seit Jahren anhängigen Fall bildet das systematisch verfolgte politische Ziel, die demografischen Verhältnisse zugunsten einer jüdischen Mehrheit in der Stadt zu verändern. Zurzeit[1] sind die angefochtenen Räumungsbefehle noch nicht rechtskräftig. Sollte die Zwangsräumung der Palästinenser*innen jedoch angeordnet und durchgeführt werden, würde dies gegen Israels völkerrechtliche Pflichten verstoßen.

Die Betroffenen gehören zu einer Gemeinschaft von 28 Familien, die sich 1956 in Sheikh Jarrah niedergelassen haben, nachdem sie acht Jahre zuvor aus ihren Häusern in den Küstenstädten Jaffa und Haifa vertrieben und enteignet worden waren. Im Rahmen eines Abkommens zwischen Jordanien und dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) sollten diese Familien auf ihren Flüchtlingsstatus verzichten und im Gegenzug nach dreijährigem Aufenthalt Eigentumstitel für das bewohnte Land erhalten. Obwohl die Familien sich an die Vereinbarung hielten, wurden aufgrund von Verfahrens- und Verwaltungsproblemen lediglich die Ansprüche auf ihre Häuser verlängert, bis die jordanischen Herrschaft mit der israelischen Besetzung der gesamten Stadt im Jahr 1967 endete. Seit 2002 wurden in Sheikh Jarrah über fünfzig Palästinenser*innen zum zweiten Mal in ihrer Geschichte gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Die verbliebenen Familien erinnert die Gefahr einer erneuten Zwangsumsiedlung an ihre Enteignung im Jahr 1948 und einer Fortsetzung der Nakba. Diese Zwangsumsiedlungsverfahren beschränken sich nicht auf die Familien in Sheikh Jarrah. Viele weitere palästinensische Familien wurden in Jerusalem entweder gewaltsam vertrieben oder sind derzeit, wie beispielsweise auch im Jerusalemer Stadtteil Silwan, von einer ähnlichen Zwangsvertreibung bedroht. Die Verfahren beruhen dabei auf strukturell diskriminierenden Gesetzen. Abgesehen von der planmäßigen staatlichen Beschlagnahme und Enteignung palästinensischen Landes für israelische Siedlungen greifen Siedler*innengruppen mit Unterstützung von Regierungsbeamt*innen auf diskriminierende Gesetze zurück, um Land und Immobilien zu enteignen und dort Siedlungen zu errichten, womit sich der Kreis der Vernichtung palästinensischer Gemeinschaften in der Stadt schließt.

In Sheikh Jarrah und anderen Stadtteilen Jerusalems, darunter Silwan, nutzen Siedler*innengruppen das Gesetz über rechtliche und administrative Angelegenheiten aus dem Jahr 1970, um Räumungsklagen einzureichen. Dieses sich ausschließlich auf die Nationalität oder Herkunft der Eigentümer*innen stützende Gesetz gibt Juden und Jüdinnen das Recht, von Palästinenser*innen bewohnte Immobilien in Ostjerusalem mit der Begründung zu beanspruchen, dass sie sich vor 1948 in jüdischem Besitz befanden. Das Gesetz setzt keinerlei familiäre, kommunale oder berufliche Beziehung zu den angeblichen ursprünglichen Eigentümer*innen voraus und ermöglicht den zumeist von US-Spenden finanzierten Siedler*innenorganisationen eine erbarmungslose Kampagne zur Enteignung von Palästinenser*innen. Im Gegensatz dazu wird Palästinenser*innen durch das Gesetz über das Eigentum von Abwesenden von 1950 dasselbe Recht auf Rückgabe ihrer Häuser und Grundstücke verweigert, von denen sie 1948 vertrieben wurden oder fliehen mussten. Dies sind nur zwei Beispiele für mehr als 65 israelische Gesetze, die Palästinenser*innen direkt oder indirekt aufgrund ihrer Nationalität diskriminieren. Ein ausführlicher Bericht von Human Rights Watch von Anfang 2021 und ein Bericht der israelischen NGO B'Tselem bestätigen, was Palästinenser*innen immer wieder sagen: Israel begeht mit dieser Politik das Verbrechen der Apartheid gegen Palästinenser*innen.

Mit der Anwendung dieser Gesetze arbeiten israelische Behörden und Siedler*innenorganisationen formal und legal Hand in Hand, um palästinensische Gemeinden zu enteignen und ihre Häuser und ihr Land für die Errichtung ausschließlich jüdischer israelischer Siedlungen zu übernehmen. Das Zusammenspiel von Regierung, Gerichten und Siedler*innengruppen zugunsten einer jüdischen demografischen Mehrheit ist nicht nur in Sheikh Jarrah und Silwan, sondern auch in anderen Stadtteilen Jerusalems zu beobachten.

Es ist alarmierend, dass gegen mindestens 218 palästinensische Haushalte in Ostjerusalem «Räumungsklagen» eingereicht wurden, wodurch fast tausend Palästinenser*innen, darunter 432 Kinder, von Zwangsumsiedlung unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht bedroht sind.

Jerusalem: Mikrokosmos von Verdrängung und Widerstand

Israels Maßnahmen und Praktiken zur Verringerung der palästinensischen Präsenz in Jerusalem beschränken sich nicht auf die genannten Stadtteile, sondern sind wesentlicher Bestandteil der Kolonisierung und Annexion der Stadt.

Als die Nakba 1948 bereits im Gange war, eroberten und entvölkerten die zionistischen Streitkräfte die wohlhabenden palästinensischen Stadtteile Talbiyya, die Deutsche Kolonie, die Griechische Kolonie, Qatamon und Baqá, in denen 28.000 Palästinenser*innen lebten, bevor dieser Teil der Stadt als Westjerusalem bekannt wurde. Viele Palästinenser*innen flohen in den Ostteil der Stadt und durften nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren, wo sich stattdessen jüdische Einwander*innen ansiedelten.

1967 besetzte Israel widerrechtlich den Rest der Stadt sowie das Westjordanland, den Gazastreifen und die syrischen Golanhöhen. Israel annektierte Jerusalem 1980 und wandte das israelische Recht und die israelische Gerichtsbarkeit auf die Stadt, nicht aber auf ihre palästinensischen Einwohner*innen an. Die Palästinenser*innen erhielten einen für ausländische Personen vorgesehenen «dauerhaften Aufenthaltsstatus», der sie in einer politischen Struktur, die ihr Land beansprucht, ihre Anwesenheit jedoch ablehnt, effektiv staatenlos macht. Dieses Aufenthaltsrechtssystem stellt hohe Anforderungen an die palästinensischen Jerusalemer*innen. Eine automatische Übertragung des Status auf die eigenen Kinder oder nicht vor Ort ansässige Ehepartner*innen ist nicht vorgesehen. Der Widerruf von Aufenthaltsgenehmigungen ist eine der zahlreichen diskriminierenden Maßnahmen, die auf eine völkerrechtswidrige Zwangsumsiedlung hinauslaufen. Dazu gehören auch der Abriss von Häusern, Zwangsräumungen und Baubeschränkungen, durch die viele palästinensische Jerusalemer*innen aus ihrer Heimatstadt vertrieben werden.

Darüber hinaus zielen strukturelle Gewalt und repressive Maßnahmen darauf ab, die Präsenz von Palästinenser*innen in Jerusalem zu verleugnen und jegliche politische, soziale oder kulturelle Manifestation ihrer nationalen Identität zu kontrollieren. Dies reicht bis hin zu Angriffen auf politische, soziale oder kulturelle Einrichtungen und Aktivitäten in der Stadt. Ein krasses Beispiel ist die Schließung des Orient-Hauses seit August 2001, das als Jerusalemer Hauptquartier der PLO und des offiziellen palästinensischen Gremiums für die Aushandlung des endgültigen Status von Jerusalem die offizielle politische Adresse der Palästinenser*innen in Jerusalem darstellte. Auch die religiösen Feiern der christlichen und muslimischen Palästinenser*innen in der Stadt bleiben von israelischer Unterdrückung nicht verschont.

Vor dem Hintergrund dieses repressiven Umfelds nutzte im Frühjahr 2021eine Kampagne vor allem junger Bewohner*innen von Sheikh Jarrah unter dem Hashtag #SaveSheikhJarrah die sozialen Medien, um gegen ihre Zwangsumsiedlung zu kämpfen und auf ihre Notlage aufmerksam zu machen. Der Fall Sheikh Jarrah löste einen Aufschrei aus, der internationale Unterstützung und Solidarität wachrief, während in der Stadt zeitgleich die Schikanen gegen Palästinenser*innen anlässlich des muslimischen Fastenmonats Ramadan zunahmen.

Im Zuge der Ausweitung der israelischen Kontrolle über die Stadt errichtete die israelische Polizei Metallbarrikaden vor dem Damaskustor, einem der Hauptzugänge zur ummauerten Altstadt, und versperrte so den Zugang zu diesem Gebiet. Das Stadttor ist ein kulturell, gemeinschaftlich und politisch bedeutsamer Versammlungsort der Palästinenser*innen. Die Sperren wurden als weitere Einschränkung der palästinensischen Präsenz in der Stadt empfunden und lösten nächtliche Proteste aus. Bereits 2017 kam es zu Gewaltausbrüchen, nachdem die israelischen Behörden Metalldetektoren und Zugangsbeschränkungen für den Tempelberg eingeführt hatten. Die Proteste gegen die Metallbarrikaden vor dem Damaskustor wurden bald zum Schauplatz zunehmender Gewalt gegen Palästinenser*innen.

Ende April 2021 gewährten die israelischen Sicherheitskräfte umfassenden Schutz für eine rassistische israelische Demonstration durch die Toranlage, auf der provoziert und «Tod den Arabern» skandiert wurde, was die tief verwurzelte institutionelle Gewalt und Diskriminierung gegenüber Palästinenser*innen in der Stadt noch deutlicher hervortreten ließ. Palästinenser*innen, die gegen die rassistische Demo und die Metallbarrikaden protestierten, wurden gewaltsam mit Tränengas, Blendgranaten, Skunk[2] und Gummigeschossen auseinandergetrieben.

Die Unterdrückung und die Schikanen erreichten ihren Höhepunkt, als die israelischen Besatzungstruppen am 8. Mai gewaltsam das Gelände der Al-Aqsa-Moschee stürmten. Bei den Angriffen auf friedliche Gläubige und medizinisches Personal in den letzten Nächten des heiligen Monats wurden Hunderte von Palästinenser*innen verletzt. Zusammen mit dem zeitgleichen, gewaltsamen Vorgehen am Damaskustor und den ständigen Angriffen auf Bewohner*innen des Viertels Sheikh Jarrah löste der Sturm auf die Al-Aqsa-Moschee Massenproteste aus.

Proteste der Palästinenser*innen in Israel

Auch Palästinenser*innen in Israel protestierten und schlossen sich den Sitzstreiks ihrer Mitbürger*innen in Sheikh Jarrah an. Heute machen Palästinenser*innen, die nach der Nakba und der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 in ihrer Heimat geblieben sind, bis zu 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Aufgrund ihrer nationalen Identität als Palästinenser*innen und ihrer nicht jüdischen religiösen Zugehörigkeit werden sie ausgegrenzt, diskriminiert und zunehmend als «fünfte Kolonne»[3] betrachtet. Zwischen 1948 und 1966 stand die palästinensische Minderheit unter israelischer Militärherrschaft und wurde auf Dutzende von Enklaven begrenzt. Obwohl diese Palästinenser*innen das israelische Wahlrecht haben, werden sie innerhalb Israels den jüdischen Israelis nicht gleichgestellt. Sie sind bis heute staatlicher Diskriminierung in Bezug auf ihren Rechtsstatus, die Bürgerrechte, die Landpolitik und den Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen ausgesetzt.

Als Palästinenser*innen in Haifa, Akka (Akko), Lidd (Lod), Jaffa, Ramla und Nazareth friedlich gegen die Angriffe auf Jerusalem und die drohende Zwangsumsiedlung der Familien aus Sheikh Jarrah protestierten, kam es zu repressiven Maßnahmen wie Verhaftungen durch die israelischen Sicherheitskräfte. Die Aufstachelung zu Rassismus, Gewalt und Angriffen gegen die protestierenden Palästinenser*innen gipfelte in brutalen Angriffen der Polizei und militanter  israelischer Banden.

Fanatisch griffen israelische Lynchmobs unter vollem Schutz der Polizei palästinensische Bürger*innen Israels an. Das Zusammenspiel zwischen der israelischen Polizei und bewaffneten israelischen Gruppen und Lynchmobs führte zu schrecklichen Szenen. Palästinenser*innen wurden gelyncht, überfahren oder mit klarer Tötungsabsicht beschossen. Ein Lynchmord südlich von Tel Aviv wurde sogar live im israelischen Fernsehen übertragen. In einem anderen Fall setzte der israelische Mob palästinensische Häuser und Geschäfte in Brand. Weitere Häuser wurden markiert, um sie später anzugreifen. Diese rassistischen Attacken auf die palästinensischen Bürger*innen Israels verdeutlichten deren untergeordneten gesetzlichen Status, der unter anderem in der zweigliedrigen Staatsbürgerschaft zutage tritt. Sie stellten damit offen die Idee der Koexistenz infrage.

Der bewaffnete Flügel der Hamas reagierte auf die Angriffe in Jerusalem mit Raketen. Trotz des «Abzugs» Israels im Jahr 2005 ist der Gazastreifen bis heute besetzt, da Israel ihn nach wie vor faktisch kontrolliert. Die Landübergänge, der Luftraum, die Gewässer und sogar die Kalorienzufuhr der Bewohner*innen des Gazastreifens stehen unter israelischer Kontrolle. Obwohl Israel nach einer Ansicht im internationalem Recht nicht über das Verteidigungsrecht gegenüber den besetzten palästinensischen Gebieten verfügt, griff Israel Gaza nach den Raketenangriffen an. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden nach dem elftägigen Bombardement von Wohngebieten 19 Familien im Gazastreifen aus dem Melderegister gestrichen. Eine Untersuchung der New York Times ergab, dass Israel bei einem Angriff, der drei Wohnhäuser zerstörte und 44 Menschen das Leben kostete, 2000-Pfund-Bomben ohne jegliche Vorwarnung und genauere Zielkenntnisse abwarf.

Als Israel seine Angriffe auf den Gazastreifen, Jerusalem und die palästinensische Minderheit in Israel verstärkte, kam das einer Mahnung gleich, dass die Nakba kein einmaliges Ereignis war, sondern immer noch andauert. Allen Widrigkeiten zum Trotz stärkte sich dadurch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem palästinensischen Nationalkollektiv, das Jahrzehnte der kolonialen Geografie und Zersplitterung überwunden hat.

Palästinenser*innen erobern ihre kollektiven Kräfte zurück

Nach Jahren der Enteignung und Entrechtung haben sich die Palästinenser*innen im Westjordanland, im Gazastreifen und in Israel zusammengeschlossen, um den Kampf für Gerechtigkeit, Würde und Befreiung wieder aufzunehmen. Angesichts eines Herrschaftssystems, das auf ihre Verdrängung und Unterdrückung abzielt, haben sie sich in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Initiativen organisiert, um neue politische Horizonte zu eröffnen.

Die von der Basis und der Jugend geführten Initiativen haben von Jerusalem über Haifa bis Ramallah traditionelle Führungsstrukturen umgangen und ihre kollektive Macht wiederhergestellt. Am 18. Mai 2021 demonstrierten die Palästinenser*innen in Form eines Generalstreiks, der von der neuen Generation ausgerufen und angeführt wurde, ihre Einheit gegen das System der Unterdrückung. Das «Manifest der Würde und Hoffnung» betont, dass das Ziel und die Vision der kollektiven und massenhaften Mobilisierung der Palästinenser*innen darin bestehe, «eine Geschichte der Gerechtigkeit und der Wahrheit [zu] schreiben, die kein Maß an israelischer kolonialer Unterdrückung auslöschen kann, wie grausam und brutal diese Unterdrückung auch sein mag [und] dass die Palästinenser*innen ein Volk, eine Gesellschaft sind».

Der Geist der Einheit zeigte sich auch in einer landesweiten Kampagne zur Förderung palästinensischer Produkte und Unternehmen. Die «Woche der palästinensischen Wirtschaft» zielte darauf ab, die koloniale ökonomische Vorherrschaft Israels in Frage zu stellen und die wirtschaftliche Befreiung als einen wesentlichen Bestandteil des Kampfes für die nationale Befreiung zu stärken. Damit wurde einerseits versucht, Raum für die Loslösung von kolonialen Produktionsweisen zugunsten eines palästinensischen Wirtschaftskollektivs zu schaffen, und andererseits der Kampf gegen die Kolonialisierung mit dem allgemeineren Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft.

Palästinenser*innen haben einen monumentalen Wandel in ihrem gemeinsamen Kampf vollzogen und trotz jahrzehntelanger kolonialer Zersplitterung ihre kollektiven Kräfte und ihre Handlungsfähigkeit zurückerobert. Durch kollektives Handeln im Angesicht des israelischen Unterdrückungssystems haben sie erkannt, dass ihre Stärke in Wirklichkeit in der Mobilisierung der Bevölkerung liegt.

Übersetzung aus dem Englischen: Camilla Elle und André Hansen für Gegensatz Translation Collective


[1] Der Text wurde im Oktober 2021 verfasst.

[2] Skunk, auch «Stinktierwasser» genannt, ist ein übel riechendes, nicht tödliches Kampfmittel, das von den israelischen Verteidigungsstreitkräften für «Crowd Control» eingesetzt wird. Mit Wasserwerfern abgeschossen verursacht es einen gelben Nebel, der bei Kontakt einen starken fäulnis- oder abwasserähnlichen Geruch hinterlässt. (Anm. d. Ü.)

[3] Als fünfte Kolonne werden der Subversion verdächtigte Gruppen bezeichnet, die tatsächlich oder vermeintlich mit den Interessen einer äußeren feindlichen Macht sympathisieren und kollaborieren. (Anm. d. Ü.)