Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Südostasien - Demokratischer Sozialismus - Commons / Soziale Infrastruktur - Ja zur Vergesellschaftung Von der Übervergesellschaftung zur sozialistischen Marktwirtschaft

Wie die Doi-Moi-Reformen die Rolle des öffentlichen Eigentums in der Wirtschaftsentwicklung Vietnams neudefinierten

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Autor*innen

Tran Dac Loi, Loren Balhorn,

Wenn von sozialistischen Erfolgsgeschichten nach 1989 die Rede ist, wird oft zunächst die Volksrepublik China mit ihrem rasanten Wirtschaftswachstum und ihrem zunehmenden politischen Einfluss genannt. In der Tat sind Chinas halsbrecherische Entwicklung, die gezielten Programme zur Armutsbekämpfung und immensen Investitionen in die globale Infrastruktur durchaus beeindruckend und werfen grundlegende Fragen zur Zukunft der USA-dominierten Weltordnung auf.

Tran Doc Loi ist der Vizepräsident der Vietnam Peace and Development Foundation.

Doch gleich südlich von China liegt ein weiteres Land, das eine vielleicht sogar noch bemerkenswertere sozialistische Erfolgsgeschichte vorweisen kann: die Sozialistische Republik Vietnam. Nachdem das Land siegreich aus über 30 Jahren antiimperialistischen Kämpfen (zuerst gegen die französische Kolonialisierung, später gegen die Besetzung durch die USA) hervorgegangen ist, musste sich die wiedervereinte Nation zuerst der völligen Verwüstung infolge dieser Konflikte stellen. Das Land hatte über drei Millionen Bürger*innen verloren, und die sieben Millionen Tonnen Sprengstoff und 388.000 Tonnen Napalm, die die Amerikaner*innen vor ihrer Kapitulation über Südostasien abgeworfen hatten, belasteten die Infrastruktur schwer. Über zwei Drittel der vietnamesischen Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze. Lebensmittelknappheit war keine Ausnahme.

Zunächst schlug der Staat den Weg der Zentralisierung und Industrialisierung nach dem Vorbild seiner osteuropäischen Verbündeten ein, doch Mitte der 1980er Jahre wurde deutlich, dass diese Politik mehr Schaden als Nutzen anrichtete und zu massiven Engpässen geführt hatte. Um diese zukünftig zu vermeiden, beschloss der Sechste Nationalkongress der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) im Dezember 1986 neue Reformen, die unter ihrem vietnamesischen Namen Doi Moi bekannt sind. Sie ermöglichten neue Mischformen von Eigentum und Besitz. So förderten sie individuelle wirtschaftliche Initiativen, die die Grundlage der «sozialistischen Marktwirtschaft», wie sie die Regierung nennt, bereiten sollten.

Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen: In den vergangenen 30 Jahren hat sich Vietnam von einem der am wenigsten entwickelten Länder der Welt zu einer florierenden Wirtschaft mit einem starken Mittelstand und enormen Wachstumsaussichten entwickelt, während die Armutsrate drastisch zurückgegangen ist. Was also beinhalten die Doi-Moi-Reformen? Wo waren sie erfolgreich, welche Herausforderungen mussten gemeistert werden? Tran Doc Loi, der Vizepräsident der Vietnam Peace and Development Foundation, hat sich mit Loren Balhorn von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über diese und weitere Fragen unterhalten.

Vietnams Weg in die Unabhängigkeit als sozialistische Republik war, um es vorsichtig auszudrücken, lang und beschwerlich. Welches Wirtschaftsmodell herrschte vor, nachdem die USA 1975 endgültig vertrieben worden waren, und welche Pläne gab es für die zukünftige Entwicklung des Landes?

Während des Krieges gegen die amerikanische Aggression spaltete sich das Land in den Norden, die Demokratische Republik Vietnam, und den Süden, die Republik Vietnam. Im Norden bestimmten Verstaatlichung und Kollektivierung die bedeutendsten wirtschaftlichen Sphären, im Süden beruhte die Wirtschaft vor allem auf Privateigentum und den Prinzipien der freien Marktwirtschaft, war aber zugleich stark abhängig von Hilfen aus den USA. 1956 war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Süden 4,4-mal so hoch wie das im Norden, der noch stark unter den Folgen des Befreiungskampfs gegen Frankreich litt. Doch nach dem Ende des Krieges überholte die Wirtschaftsleistung des Nordens den Süden, den eine anhaltende Rezession und die allmählichen Kürzungen der amerikanischen Unterstützung schwer trafen.

1976 wurden der Norden und der Süden als Sozialistische Republik Vietnam wiedervereint, und im Dezember desselben Jahres beschloss der Vierte Nationalkongress der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV), das Wirtschaftsmodell des Nordens auf das gesamte Land anzuwenden.

Die Einführung des Sozialismus in Vietnam beruhte auf drei Schlüsselmomenten: Erstens sollten auf Grundlage übergeordneter, staatlicher Wirtschaftseinheiten sozialistische Produktionsweisen entwickelt werden, nicht nur in der Industrie, sondern auch im Handel und in den übergeordneten landwirtschaftlichen Genossenschaften. Dazu wurden drei «Revolutionen» eingeleitet: die Revolution der Produktionsverhältnisse, von Wissenschaft und Technologie sowie von Ideologie und Kultur. Dabei wurden alle privaten oder in individuellem Besitz befindlichen Wirtschaftseinheiten verstaatlicht und in Gemeinschaftseigentum überführt.

Zweitens wurde eine zentralisierte Planwirtschaft zur wirtschaftlichen Entwicklung eingesetzt: Die Pläne des Vierten Nationalkongresses sahen ein jährliches Durchschnittswachstum der gesellschaftlichen Produktion von 14-15 Prozent vor, während das BIP jährlich um 13-14 Prozent und die landwirtschaftliche Produktion um 8-10 Prozent gesteigert werden sollten.

Drittens sollten Förderprogramme Beschäftigung, kostenlose Bildung und kostenlose Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten. Der Staat legte die Preise aller verfügbaren Waren fest und zeichnete ebenfalls für die Verteilung von grundlegenden Gütern wie Lebensmitteln, Kleidung und Fahrrädern verantwortlich.

In der Realität sah es jedoch ganz anders aus: Die Produktivität war in allen Bereichen sehr gering. Obwohl Vietnam ein landwirtschaftlich geprägtes Land ist, herrschte chronische Lebensmittelknappheit. Die Regierung musste jährlich über eine Million Tonnen Lebensmittel importieren, um die Bevölkerung zu ernähren. Doch der Mangel betraf nicht nur die Lebensmittelversorgung, sondern auch alle anderen lebenswichtigen Güter. Die Lebensumstände der Bevölkerung verschlechterten sich drastisch. Mitte der 1980er Jahre betrug die Inflation jährlich über 700 Prozent und Vietnam stürzte in eine schwere sozioökonomische Krise.

Was ist schiefgelaufen?

Abgesehen von den Spätfolgen des Krieges und einigen ungünstigen objektiven Gegebenheiten, waren vor allem die subjektiven Fehlentscheidungen der Kommunistischen Partei verantwortlich für diese Entwicklung. Unser erster Fehler bestand darin, den Ausgangspunkt mit dem Ziel zu verwechseln. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ohne Ausbeutung und mit einem umfassenden Wohlfahrtssystem ist ein hehres Ziel – aber er ist auch ein langer wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Prozess. Vietnam war erst in eine frühe Phase des Übergangs zum Sozialismus eingetreten, und schon drängten wir uns ein Entwicklungsmodell auf, das nicht zu den im Land vorherrschenden Bedingungen passte.

Zum Beispiel wurde der Großteil der landwirtschaftlichen Tätigkeiten noch immer von einzelnen Haushalten und per Hand verrichtet – unter diesen Bedingungen konnte man die Arbeit nicht kollektivieren. Dennoch trieben wir die Vergesellschaftung voran und setzten übergeordnete Genossenschaften ein. In der marxistischen Terminologie: Wir haben eine Übervergesellschaftung der Produktionsverhältnisse angestrebt, obwohl die Produktivkräfte im Land noch nicht sehr stark ausgebildet waren. Dies stand im Widerspruch zu den Lehren von Marx und wirkte sich negativ auf die Produktivität aus.

Der Einsatz der zentralisierten, bürokratischen Planung schränkte die Dynamik und Kreativität auf lokaler Ebene drastisch ein. Da der Staatshaushalt sehr klein war, konnte die Subventionierung von Wohnraum, Lebensmitteln, Gesundheitsversorgung und Bildung höchstens Grundbedürfnisse sichern, wobei allerdings kein Geld für Investitionen in die Entwicklung übrigblieb. Die Wirtschaftsentwicklung wurde gebremst, weil für Investitionen einzig der Staat zuständig war. Es entstand zwar eine nahezu gleichberechtigte Gesellschaft, in der aber alle mehr oder weniger gleich arm waren und keine Aussichten hatten, ihre Lebensumstände zu verbessern. So sollte Sozialismus in der Praxis nicht aussehen.

Vietnam war eng mit der Sowjetunion verbündet und das einzige südostasiatische Mitglied im RGW, dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Wie sehr war Vietnam in das von der UdSSR dominierte sozialistische Wirtschaftsmodell integriert?

Hier müssen wir den Zusammenhang, in dem Vietnam 1978 dem RGW beitrat, genauer erläutern. Der Krieg gegen die französische und amerikanische Aggression hatte verheerende Auswirkungen für das Land. 1975 hatten die USA ein Wirtschaftsembargo verhängt und sabotierten alle Bemühungen, das Land wiederaufzubauen. Die Roten Khmer begingen mit der Unterstützung Chinas einen Genozid in Kambodscha und griffen nun ihrerseits Vietnam an. Vietnams Beziehungen zu China hatten sich seit der Annäherung Chinas an die USA ab 1972 zunehmend verschlechtert, und so blieben nur noch die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten in Osteuropa als Verbündete. Unter diesen Umständen schloss sich Vietnam dem RGW an, um das Erbe des Krieges zu überwinden und die Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaftsweise voranzutreiben.           

Als Mitglied des RGW musste Vietnam den Regeln und Empfehlungen der Blockstaaten folgen. Dabei ist zu beachten, dass die vietnamesische Wirtschaft am wenigsten in den RGW integriert war. Die Ausgangslage des Landes war die schlechteste und lag weit hinter der Entwicklung der anderen RGW-Mitgliedsstaaten zurück. Vietnam war nicht nur das ärmste Mitglied des RGW, sondern hatte auch die rückständigste Wirtschaft, die von nicht-maschinierter Landwirtschaft und kleinen, handwerklichen Produktionsstätten geprägt war, während andere RGW-Mitgliedsstaaten schon lange industrialisiert waren.    

Zweitens war Vietnam das letzte Land, das dem RGW beitrat, und zwar zu einer Zeit, in dem die Wirtschaft der Sowjetunion und der anderen Mitgliedsstaaten bereits stark stagnierte, was die Hilfs- und Kooperationsmöglichkeiten mit dem neuen Mitgliedsstaat stark einschränkte. Die Hilfsleistungen der RGW-Mitglieder an Vietnam, ein Land mit 40 Millionen Einwohner*innen, beliefen sich in der Zeitspanne von 1978 bis 1987 auf 2 Milliarden US-Dollar; während Kuba, ein Land mit 9 Millionen Einwohner*innen, 4 Milliarden erhielt.

Dennoch war die Hilfe der UdSSR und der anderen RGW-Staaten für Vietnam in dieser kritischen Periode sehr wichtig und wertvoll. Sie ermöglichte den Bau der ersten Kraftwerke, Fabriken, Schulen und Krankenhäuser; ihr war es zu verdanken, dass sich das Land mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern versorgen konnte und Tausende junge vietnamesische Intellektuelle einen Zugang zu Stipendien und Bildung erhielten.       

Doi Moi – der vietnamesische Name der 1986 eingeführten Wirtschaftsreformen – gilt als Auslöser des rasanten Wirtschaftswachstums und der ebenso schnellen Verbesserung des Lebensstandards. Doch für viele linke Kritiker*innen waren die Reformen nichts anderes als ein Bruch mit dem Sozialismus und eine Rückkehr zum Kapitalismus. Ist das eine treffende Darstellung?

Nein, das ist nicht richtig. Vielmehr beruhte die Doi-Moi-Politik auf der Einsicht der KPV über frühere Fehler beim Aufbau des Sozialismus.

Oberflächlich mag es so wirken, als hätte sich Vietnam vom «sozialistischen Modell», das in der UdSSR und den osteuropäischen Staaten bestand, «abgewandt». Aber dieses beruhte vor allem auf zentralisierter Planwirtschaft, staatlichem und kollektivem Besitz der Produktivkräfte und einer gleichmäßigen, subventionierten Verteilung an alle. Dabei dürfen wir jedoch nicht den Entwicklungsunterschied zwischen Vietnam und den anderen RGW-Mitgliedsstaaten vergessen. Vietnam hatte gerade die erste Entwicklungsstufe zum Sozialismus eingeläutet, der in den sozialistischen Staaten Europas schon lange Alltag war.

Hier lohnt sich ein Blick auf Marx‘ Lehre von der Bedingtheit der Produktionsverhältnisse durch die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Anwendung des europäischen «sozialistischen Modells», obwohl sich die Wirtschaft Vietnams noch auf einem niedrigen Entwicklungsniveau befand, führte zu einer Übervergesellschaftung der Produktionsverhältnisse, die nicht mehr im Verhältnis zu den Produktivkräften standen. Das steht im Widerspruch mit den Lehren von Marx und war unser Hauptfehler, der zu der großen Krise der 1980er Jahre geführt hatte.     

Der Kern der Doi-Moi-Politik war also, die Produktionsverhältnisse wieder mit dem tatsächlichen Entwicklungsstand der Produktivkräfte Vietnams in Einklang zu bringen. Gleichzeitig sollten alle verfügbaren Ressourcen zur Förderung des sozioökonomischen Wachstums und zum Aufbau der materiellen und technischen Grundlage für den Sozialismus mobilisiert werden. In diesem Sinne ähnelt die Doi-Moi-Politik der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), die von Lenin und den Bolschewiki in den 1920er Jahren in Russland durchgesetzt wurde. Während der Übergangsphase koexistieren sozialistische und nicht-sozialistische, also auch kapitalistische Faktoren. Die Entwicklung zum Sozialismus führt zu einer allmählichen Stärkung und Festigung der sozialistischen Faktoren, die ab einem gewissen Zeitpunkt dominieren und zu unwiderruflichen Grundlagen werden.

Ein Arbeiter am Fließband in einer Coca-Cola-Fabrik in Ho-Chi-Minh-Stadt, April 2000. Coca-Cola eröffnete 1995 seine erste Abfüllanlage in Vietnam, nachdem die USA endlich ihr langjähriges Embargo gegen das Land aufgehoben hatten. Foto: picture-alliance / dpa | epa afp Hoang Dinh Nam

Welche Veränderungen im Zuge von Doi Moi halten Sie für besonders wichtig?

Die Doi-Moi-Reformen haben vier Schlüsselaspekte: Erstens soll die zentrale Planwirtschaft in eine sozialistische Marktwirtschaft umgewandelt werden, die die Marktdynamik nutzt, um die materielle Grundlage für den Sozialismus zu schaffen. Zweitens soll das staatliche und genossenschaftliche Wirtschaftsmodell als multisektorale Wirtschaft weitergeführt werden, damit alle verfügbaren Ressourcen zur sozioökonomischen Entwicklung mobilisiert werden können. Drittens soll die gleichmäßige Verteilung durch eine Verteilung nach Arbeitsaufwand und investiertem Kapital ersetzt werden, um Anreize für Investitionen und produktive Initiativen zu schaffen. Und viertens soll die geschlossene und isolierte Wirtschaft geöffnet und international vernetzt werden, auf der Suche nach neuen Märkten für einheimische Produkte, nach ausländischen Investitionen, Technologien und Know-how.           
Die Doi-Moi-Reformen haben viele positive Veränderungen herbeigeführt. Die Wirtschaft wächst weiterhin: Im Jahr 2000 betrug das BIP 31 Milliarden US-Dollar, 2019 war es auf 266 Milliarden gestiegen. 2019 verzeichnete Vietnam ein Wirtschaftswachstum von 7,02 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, und verfügte damit über eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Auch die Lebensmittelproduktion hat sich gesteigert. 1980 produzierte Vietnam noch 12 Millionen Tonnen Lebensmittel, 2016 waren es 43,6 Tonnen. Vietnam, das früher unter Hungersnöten gelitten hatte, ist heute der zweitgrößte Reis-Exporteur und der führende Exporteur zahlreicher anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Die Industrie, die 1986 nur für 29 Prozent des BIP ausmachte, wuchs 2019 auf 34,49 Prozent des BIP an, während die Landwirtschaft nur mehr 13,49 Prozent des BIP ausmacht. Die Inflation wurde eingedämmt und beläuft sich in den vergangenen Jahren auf etwa 4 Prozent, während die Währungsreserven ein Rekordhoch erreicht haben.          

Das Wirtschaftswachstum hat das Image des Landes verändert und, was viel wichtiger ist, die Lebensqualität der Menschen deutlich verbessert. Seit 2008 gilt Vietnam nicht mehr als Entwicklungsland. Das Durchschnittseinkommen ist von 98 US-Dollar im Jahr 1990 auf fast 2.800 US-Dollar im Jahr 2019 gestiegen – zwischen 2016 und 2018 im Schnitt sogar jährlich um 10,8 Prozent, schneller als das Wirtschaftswachstum.

Welche Rolle spielt das staatliche bzw. öffentliche Eigentum in Vietnam? Bleiben die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft (Energie, Gesundheit, Verkehr usw.) in öffentlicher Hand? Oder können auch sie privatisiert werden?

Die KPV hat dem öffentlichen Sektor eine Schlüsselrolle in der Diversifizierung des Eigentums an den Produktionsmitteln eingeräumt. Grund und Boden sowie die natürlichen Ressourcen gehören weiterhin der gesamten Landesbevölkerung und werden vom Staat verwaltet. Staatliche Unternehmen stehen nicht im Wettbewerb mit nicht-staatlichen Unternehmen, sondern sind vielmehr ein Wirtschaftsinstrument, mit dessen Hilfe der Staat direkt am Markt teilnehmen und wichtige Aufgaben wahrnehmen kann, die andere Unternehmen nicht übernehmen wollen oder können.

Staatliche Unternehmen haben zum Beispiel ein Monopol in den Bereichen, die unmittelbar mit der nationalen Sicherheit zusammenhängen, wie etwa in Rüstung und Stromversorgung. Auch in Bereichen, die für die Stabilität der Makroökonomie entscheidend sind – Finanzen, Energie, Post, Telekommunikation und öffentliche Verkehrsmittel – beherrschen sie nach wie vor den Markt und sind in wichtigen gemeinnützigen Bereichen aktiv (z. B. Infrastruktur, Lebensmittel, Arzneien und Wasser). Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der staatlichen sozioökonomischen Entwicklungsprogramme und der Stabilisierung des Marktes und der Volkswirtschaft.

Während der Staat die meisten sozioökonomischen Bereiche für private Investitionen geöffnet hat, dominiert er weiterhin in Sektoren wie Gesundheit, Bildung und Massenmedien. 2018 kam der Staat für 33,3 Prozent aller Investitionen auf, während 43,3 Prozent auf den nicht-staatlichen Sektor und 23,4 Prozent auf ausländische Investitionen zurückgingen. Wären wir auf Staatsmittel beschränkt, stünde uns nur ein Drittel der insgesamt mobilisierten Ressourcen zur Verfügung. Indem wir gleichzeitig dem staatlichen Sektor eine Schlüsselrolle zukommen lassen, können wir jedoch die Funktionsweisen des Marktes und die sozioökonomische Entwicklung auf sozialistische Ziele ausrichten.

Welche Rolle spielt die Planwirtschaft in der «sozialistischen Marktwirtschaft» Vietnams?

Die sozialistische Marktwirtschaft zielt darauf ab, den Wohlstand der Menschen zu fördern und das Land zu stärken. Somit ist die wirtschaftliche Entwicklung ein Instrument zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen – nicht nur die Wirtschaft soll wachsen, auch der soziale Fortschritt, Gerechtigkeit, Kultur, Moral und Umweltschutz sollen vorangebracht werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Markt in erster Linie mit den übergeordneten Plänen in Einklang gebracht werden. Der Staat und die lokalen Behörden erarbeiten kurz-, mittel- und langfristige Pläne, wie die übergeordneten Entwicklungsziele erreicht werden können.

Da sich die Marktressourcen jedoch oft auf bestimmte Bereiche mit hohen Gewinnmargen konzentrieren, werden staatliche Investitionsprogramme in einer sozialistischen Marktwirtschaft gezielt zur Entwicklung der Landwirtschaft, der städtischen und ländlichen Infrastruktur sowie zur Armutsbekämpfung eingesetzt. Darüber hinaus nutzt die sozialistische Regierung die Marktdynamik, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und gleichzeitig negative Auswirkungen einzudämmen, indem die Marktaktivitäten reguliert und gelenkt werden.

Welche sozialen Rechte haben die Arbeiter*innen und Bürger*innen?

Auf Ebene der Sozialpolitik ermutigen die KPV und der Staat die Menschen einerseits, legal Vermögen aufzubauen, und konzentrieren sich andererseits auf Programme zur Armutsbekämpfung, die Arme unterstützen und zu selbstverantwortlichem Handeln befähigen sollen, auf den Ausbau des landwirtschaftlichen, ländlichen Raums, den Bau von Wohnraum für Arbeiter*innen und weitere Projekte. Jedes Jahr wird der Mindestlohn angehoben, oft noch stärker als das Wirtschaftswachstum und die Inflationsrate.

Mehr als 20 Prozent des Staatshaushalts fließen in Bildung, und es ist dem Staat ein wichtiges Anliegen, Studierenden aus ärmeren Haushalten oder ethnischen Minderheiten vergünstigte oder kostenlose Studiengebühren zuzusichern. Arme Menschen, Kinder unter sechs Jahren und ältere Menschen haben Zugang zu einer kostenlosen Krankenversicherung, und das Gesundheitssystem in den ländlichen oder entlegenen Gegenden wird auf lokaler Ebene weiter ausgebaut und gestärkt. Die KPV und die Regierung haben ebenfalls eine Reihe von Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zum Schutz von Menschen mit Behinderung und anderen benachteiligten Gruppen erlassen.

Im Schnitt halbiert sich die Armutsrate in Vietnam alle zehn Jahre. Das Land wurde von den Vereinten Nationen als eines der wenigen Länder gewürdigt, das die Entwicklungsziele zur Armutsbekämpfung zur Jahrtausendwende frühzeitig erreicht hatte. Vietnam gehörte, mit einem Index der menschlichen Entwicklung (HDI) von 0,472 im Jahr 1990, zu den Ländern mit dem niedrigsten HDI. Mittlerweile steht es an der Spitze des Mittelfelds. Vietnam wurde vom UN-Entwicklungsprogramm als eines der Länder mit dem höchsten HDI-Wachstum von 1990 bis 2018 anerkannt, mit einer Verbesserung um 1,36 Prozent pro Jahr. 2019 erreichte Vietnam 0,63 Prozent – es fehlen nur noch 0,007 Prozent, damit das Land in die Gruppe der Länder mit dem höchsten HDI aufsteigt.

In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland und auch in anderen Ländern verstärkt über die Notwendigkeit der Vergesellschaftung einiger grundlegender Wirtschaftsgüter wie zum Beispiel des Wohnraums diskutiert, wodurch allen Bürger*innen ein sicheres und gesundes Leben ermöglicht werden soll. Gibt es auch in Vietnam aktuell eine wirtschaftliche und politische Auseinandersetzung zu Vergesellschaftungen? 

Die Frage der Vergesellschaftung war eines der Hauptthemen, die in den über 30 Jahren diskutiert wurden, während derer die Doi-Moi-Reformen umgesetzt wurden. Allgemein gibt es einen Konsens darüber, dass die Vergesellschaftung ausgeweitet werden muss, um Ressourcen zu mobilisieren und die Mitbestimmung der Menschen in den Betrieben zu fördern, damit die wesentlichen Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllt werden können. Der genaue Weg, Umfang und die Methode dieser Vergesellschaftung sind jedoch noch zu konkretisieren.

In Vietnam wird anders über Vergesellschaftungen gesprochen als in Europa, da wir uns vor allem von der Übervergesellschaftung des Staatseigentums und der staatlichen Kontrolle zu einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung hin entwickeln, indem öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden.

Wie erklärt die vietnamesische Regierung den scheinbaren Widerspruch zwischen der zunehmenden Einbindung des Landes in das globale Finanzsystem und dem gleichzeitigen Ziel, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen?

Vietnam hat seinen Übergang zum Sozialismus eingeläutet, als das Land noch sehr arm und die Produktivkräfte noch sehr wenig entwickelt waren, während das sozialistische Lager in Europa zusammenbrach. Dementsprechend schlug Vietnam eine neue Politik der internationalen Öffnung und Integration ein, um neue Märkte für vietnamesische Produkte zu erschließen und ausländische Investitionen, Technologie und fortschrittliche Managementerfahrungen zur Entwicklung des Landes anzuziehen. Vietnam ist seit 2006 Mitglied der Welthandelsorganisation und hat 17 Handelsabkommen mit den meisten der größten Wirtschaftsnationen der Welt unterzeichnet.

Dieser politische Kurs hat zu einer kontinuierlichen Steigerung der vietnamesischen Exporte beigetragen. 1990 beliefen sich die Exporte noch auf insgesamt 2,4 Milliarden US-Dollar, 2019 waren es bereits 263,5 Milliarden. Auch die ausländischen Investitionen haben zugenommen und machen gegenwärtig 23,4 Prozent der Gesamtinvestitionen aus. Diese Einflüsse haben in den letzten Jahrzehnten erheblich zur globalen Entwicklung des Landes beigetragen.

Vietnam legt in dieser Entwicklung einen Schwerpunkt auf die Maximierung der eigenen Ressourcen und festigt seine Eigenständigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft. Außerdem erweitert und diversifiziert das Land seine internationalen wirtschaftlichen Beziehungen, um eine einseitige Abhängigkeit zu vermeiden. Die Nationalversammlung und die Regierung deckeln die Staats- und Auslandsverschuldung strikt, und die Regierung ergreift zudem Maßnahmen, um bevorzugt ausländische Investitionen in den High-Tech-Sektor sowie sozial- und umweltfreundliche Bereiche zu fördern.

Gleichzeitig schützen die KPV und die Regierung die politische Unabhängigkeit des Landes gegen die Einflüsse des Marktes oder ausländischer Mächte. Auf diese Weise gewährleistet die Kommunistische Partei neben der internationalen Integration Vietnams auch die sozialistische Entwicklung des Landes.

Übersetzung von Claire Schmartz & André Hansen für Gegensatz Translation Collective.