Nachricht | Sorgende Stadt «Ich rette dein Leben. Mehr ist nicht drin»

Auswirkungen der Fallpauschalen auf Arbeitsbedingungen und eine gute Versorgung in der Krankenpflege

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Seit das sogenannte DRG-System (Diagnosis Related Groups) im Jahr 2004 eingeführt wurde, sind Krankenhäuser unter Kostendruck geraten. Das hat in der Folge zu einem Abbau von Personal, vor allem in der Pflege, geführt. Dagegen organisiert sich seit einigen Jahren vermehrt Widerstand, zuletzt hat die von ver.di initiierte Berliner Krankenhausbewegung in den landeseigenen Kliniken Charité und Vivantes tarifliche Personalregelungen erstritten. Wir haben mit Dana Lützkendorf (Intensivpflegerin an der Charité, Vorsitzende im Gesamtpersonalrat), Lisa Schandl (Auszubildende in der Pflege bei Vivantes) und Anja Voigt (Intensivpflegerin im Klinikum Neukölln bei Vivantes, Mitglied im Betriebsrat) darüber gesprochen, wie sich Zeitdruck und Personalmangel auf die Pflege auswirken und welche Regelungen sie mit dem Eckpunktepapier für den Tarifvertrag Entlastung erstritten haben.

Wie machen sich die Veränderungen der letzten Jahre – also vor allem die Einführung der Fallpauschalen – im Alltag bemerkbar?

Anja: Die entscheidende Veränderung ist sicherlich der Faktor Zeit. Als ich angefangen habe, hatte ich Zeit für alles. Die Atmosphäre war relativ entspannt und die Aufgaben waren zu schaffen. Heute habe ich eigentlich nie Zeit, etwas in Ruhe zu machen oder alles zu schaffen. Wir haben heute mehr Patient*innen, mehr Durchlauf und die Dokumentation bedeutet einen enormen Aufwand.

Dana: Meine Beobachtungen sind ähnlich. Bei meiner Einarbeitung auf der Intensivstation in Berlin-Buch gab es viel Zeit. Ich konnte mir Zeit nehmen, die Vorgänge zu erklären und durchzusprechen. Ganz anders heute, wenn man von einem Arbeitsvorgang zum nächsten hetzt. Das hat Anfang der 2000er-Jahre begonnen. Ich bin 2001 an die Charité gewechselt und zwei, drei Jahre später begann die Entgrenzung. Wir haben immer mehr Patient*innen betreut. Das war ein Einschnitt, der sich mit der DRG-Einführung schon abzeichnete. Ab 2000 wurde kein Personal mehr eingestellt und Ausbildungsplätze wurden gestrichen.

Lisa, du bist seit fast drei Jahren Auszubildende an der Charité. Wie nimmst du das wahr?

Lisa: Die Verdichtung spüre ich genauso. Ich kenne nur Stress und wie es ist, keine Zeit zu haben und permanent überfordert zu sein. Heute hatte ich so einen Arbeitstag. Neben der generell schlechten Besetzung gab es Krankmeldungen, und ich habe allein genauso viele Patient*innen betreut wie alle anderen auch. Ich hatte keine Anleitung. Das heißt: Das Abschlussgespräch, das Einführungsgespräch, die Reflexion – das alles findet nicht statt.

Wie lernt ihr es in der Theorie?

Lisa: Der Grundsatz einer Ausbildung ist das Drei-Schritte-Modell: Eine Anleitungsperson macht im ersten Schritt eine Aufgabe vor, im zweiten Schritt wird sie zusammen durchgeführt und im dritten versucht man es allein unter Aufsicht. Das zeichnet Ausbildungen eigentlich aus. Tatsächlich findet das in der Praxis so gut wie nie statt. Ähnlich ist es im Umgang mit der Theorie. Pflegehintergründe werden inzwischen wissenschaftlich unterfüttert – die Pflegewissenschaft professionalisiert sich –, aber wir können es nicht umsetzen. Wir üben für Prüfungen, als wäre es für ein Theaterstück. Weil wir wissen, dass wir im Alltag nicht auf diese Weise pflegen können.

Dana Lützkendorf ist Intensivpflegerin an der Charité und Vorsitzende im Gesamtpersonalrat. Sie ist seit Jahren aktiv in den Auseinandersetzungen für Entlastung und mehr Personal im Krankenhaus, Mitglied bei ver.di und Vorsitzende im Bundesfachbereichsvorstand. Lisa Schandl macht aktuell eine Ausbildung zur Krankenpflegerin an der Charité. Als Auszubildende hat sie sich an den Auseinandersetzungen der Berliner Krankenhausbewegung aktiv beteiligt und für eine Verbesserung der Ausbildungsbedingungen gekämpft. Anja Voigt ist Intensivpflegerin im Vivantes-Klinikum Neukölln und im Betriebsrat. Sie war Teil der Tarifkommission während der Verhandlungen zum Tarifvertrag-Entlastung 2021 und ist seit Jahren aktiv für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, unter anderem im Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite.


Das Interview führten Julia Dück und Julia Garscha.

Wir danken Camilla Elle für die Transkription.

Was bedeutet der Zeitdruck im Alltag? Welche Tätigkeiten fallen hinten runter?

Anja: In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass jeder Patient, jede Patientin einmal am Tag grundpflegerisch betreut wird. Aber: Das mache ich so gut wie nie. Wenn ich es schaffe, mache ich mal das Gesicht ein bisschen frisch – und groben Dreck beseitige ich natürlich. Aber ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einem Patienten oder einer Patientin die Haare gewaschen habe. Fingernägel schneiden? Das sind eigentlich Grundlagen meines Berufs. Deswegen bin ich Krankenschwester geworden: weil ich pflegen wollte. Aber gerade die pflegerischen Aufgaben schaffe ich heute nicht mehr. So hart das klingt. Es geht nur noch um Medizin im klassischen Sinne, also um Behandlung. Ich arbeite auf einer Intensivstation, deshalb sind Medikamentenausgabe und die Betreuung der Geräte natürlich zentral. Mehr schaffe ich nicht.

Dana, wie sieht dein Alltag in der Charité aus?

Dana: Ähnlich. Ich habe meinen Beruf immer auch als eine Begleitung begriffen. Ich begleite Menschen auf einem Weg, vielleicht auf einem schweren Weg oder auf ihrem letzten Weg, jedenfalls in einer Ausnahmesituation. Deswegen war es mir immer wichtig, Zeit zu haben, mich ans Bett zu setzen, die Hand zu halten oder ein Gespräch zu führen. Die Nähe und das Persönliche spielen eine zentrale Rolle. Aber das wird mir immer mehr genommen. Ich habe diese Zeit nicht und es wird auch nicht wertgeschätzt. Wenn die Luft brennt und dann irgendjemand Zeit für ein Fußbad hat, dann wird das auch von Kolleg*innen komisch beäugt. Dabei ist das zum Beispiel etwas, was ich sehr gern bei Patient*innen mache, weil sie sich danach wirklich sehr wohlfühlen. Morgens ist das beispielsweise sehr belebend.

Anja: Genau. Wir arbeiten mit den Patient*innen nach dem Motto: «Du darfst keine Wünsche äußern. Es geht hier nicht um dich. Ich habe keine Zeit. Ich rette dein Leben, mehr ist nicht drin.»

Aber Leben zu retten ist doch eure primäre Aufgabe?

Anja: Wenn ich den Patienten von der Pflege her nicht richtig betreuen kann, dann entgeht mir etwas in der Krankenbeobachtung. Darin besteht die Gefahr. Der ganzheitliche Blick auf Patient*innen gehört zu unserem Ethos, zum Berufsbild und der Ausbildung. Nehmen wir mal als Beispiel den Positionswechsel von Patient*innen. Es ist wichtig, dabei etwa den Hautzustand zu beobachten. Man sieht schon sehr früh, wenn ein Dekubitus[1] entsteht. Wenn nun aber anstelle von Pflegekräften Hilfskräfte ohne entsprechende Ausbildung als billigere Arbeitskräfte eingesetzt werden, geht dieser Blick verloren. Ein Skillmix durch Hilfskräfte ist also nicht unproblematisch.

Dana: Und die Wertschätzung für das, was nach meiner Auffassung dazugehört und absolut wichtig ist in unserem Beruf, fehlt. In den letzten 15 Jahren hat ein Paradigmenwechsel in der Pflege stattgefunden: Wenn ich drei Schwerstkranke mit ECMO [künstlicher Lunge] überlebend durch eine Schicht bringe, dann gelte ich als erfolgreich und effektiv. Zwischenmenschliche Dinge fallen hinten runter und werden wenig gewertet.

Dieses Interview erscheint in der luxemburg beiträge Nr. 9 «Aus Sorge kämpfen»

Was ist mit den Patient*innen? Was macht der Zeitdruck mit ihren Bedürfnissen oder Sorgen?

Dana: Es kommt nicht selten vor, dass ein Patient von einem Arzt eine Diagnose bekommt und damit ganz alleingelassen wird. Er erfährt beispielsweise, dass er Krebs hat. Aber bei einer 44-Bettenstation und zwei bis drei Pflegekräften im Dienst hat niemand Zeit, sich um diese Person zu kümmern. Oder Patienten versterben allein. Ich kann mich an eine Situation erinnern, in der wir mal wieder schlecht besetzt waren. Bei der Einteilung des Dienstes war bereits klar, dass ein Patient im Sterben liegt und dass er in dieser Schicht nicht begleitet werden kann. Wir Kolleg*innen haben uns zwar versprochen, dass wir uns darum kümmern werden. Aber am Ende konnte sich keiner kümmern. Der Patient ist allein verstorben, weil es zeitgleich einen Notfall gab – was auf einer Intensivstation nicht selten ist.

Lisa: Ich habe den Eindruck, als Azubi ist es oft mein Job, diesen Mangel abzufangen, weil ich auf einer Station zusätzlich eingesetzt bin und dadurch ein bisschen mehr Zeit habe. Aber schon im ersten Lehrjahr passiert es dann oft: Kaum angeleitet, muss man auf die Sorgen und Ängste von Patient*innen eingehen, weil sonst niemand dafür Zeit hat. Eine wirkliche Beratung ist aber anspruchsvoll – zum Beispiel bei Frauen nach einer Brustamputation. Ich finde es wichtig, zusammen den Verband abzunehmen und darauf einzugehen, wie sich die Patientin mit dieser großen Veränderung fühlt. Dann sitze ich als Azubi da und soll die richtigen Worte finden, weil sonst niemand diese Zeit hat.

Was machen solche Erfahrungen mit euch?

Dana: Solche Erfahrungen belasten. Darunter leiden nicht nur die Patient*innen, darunter leiden auch die Kolleg*innen.

Lisa: Die Klingel auf Station erinnert immer wieder daran: Sie macht uns immer wieder bewusst, was man nicht schafft, was man gerne schaffen würde, aber nicht schafft. Das macht doppelt Stress, weil der Klang unmittelbar mit mehr Arbeit verbunden ist, aber auch mit schlechtem Gewissen. Ich habe Angst vor der Zeit nach dem Examen. Wir lernen jetzt, wie es ablaufen sollte, und wenn ich es Schritt für Schritt so mache, wie ich es gelernt habe, werde ich mit einem Patienten in der gegebenen Zeit nicht fertig. Von 18 Leuten aus meinem Kurs bleiben nur sechs in der Pflege.

Lassen die Patient*innen sich solche Situationen gefallen? Oder fordern sie beispielsweise nach einer Krebsdiagnose doch Zeit und Gespräche ein? Was macht ihr mit ihren Anforderungen?

Anja: Bei uns auf der Intensivstation ist das sehr krass. Der liebste Satz vieler meiner Kolleg*innen ist: «Ein Glück, der Patient ist beatmet.» Das heißt, er steht unter Narkose und wird künstlich beatmet. Wache Patient*innen sind furchtbar, denn sie haben Ansprüche, Fragen und Erwartungen. Das macht Arbeit. Kolleg*innen sind daher froh, wenn sie drei narkotisierte Patient*innen zu betreuen haben. Das ist ein Trauerspiel. Aber es beschreibt die Verhältnisse in einem Satz.

Dana: Wir haben viele Patient*innen mit ECMO – künstlicher Lunge. Wenn sie wach werden mit diesem Gerät, wird ihnen gesagt, dass sie sich nicht allein bewegen können. So ein Schlauch kann rausrutschen und dann ist der Patient innerhalb von zwei Minuten tot. Das wissen die Patient*innen und müssen es auch wissen. Aber es ist natürlich mit Angst verbunden. Wenn ich mir die Zeit nehmen könnte, sie dabei zu begleiten – dann kann man Patient*innen oft beruhigen. Andersherum nehmen ihre Ängste zu, wenn diese Zeit fehlt. Das sorgt dann dafür, dass Patient*innen mehr Medikamente bekommen. Sie bekommen etwa mehr Beruhigungsmittel. Das könnte mit mehr Personal, beispielsweise mit einer Eins-zu-eins-Betreuung solcher Patient*innen, vermieden werden.

Ist es angesichts knapper Zeitressourcen in einer solchen Situation nicht rational, sich mit Medikamenten auszuhelfen? Warum ist das problematisch?

Dana: Für mich bedeutet gute Pflege, wenn ich dafür sorgen kann, dass der Patient in einem guten Zustand ist, schneller entlassen werden kann oder weniger Medikamente benötigt. Jedes Medikament verursacht Schädigungen. Der Einsatz von Narkose-Medikamenten sorgt bei nicht wenigen Patient*innen für Verwirrtheitszustände nach dem Aufwachen. Diese Patient*innen brauchen sehr viel Aufmerksamkeit. Wenn wir das als Pflege nicht leisten können, werden sie wieder in Narkose gelegt, um sie besser steuern zu können. Wenn ich nach meiner Vorstellung arbeiten könnte, würde ich dafür sorgen, dass Patient*innen diese Medikamente nicht bekommen. Ich würde sie besser betreuen und sie könnten dadurch schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden. Das hat auch Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Umsetzung unserer Forderungen nach einer Eins-zu-eins- oder Eins-zu-zwei-Betreuung wäre auf lange Sicht auch ökonomisch sinnvoller.

Wenn ihr für mehr Personal kämpft, dann streitet ihr also für eine gute Pflege – weniger Medikamente und stattdessen ein Fußbad für alle?

Dana: Ich wäre froh, wenn ich nur darum kämpfen müsste. Gerade kämpfen wir aber darum, dass wir eine sichere Patientenversorgung bekommen. Ein Fußbad oder Gesprächszeit gehen darüber noch hinaus. Aber ja, genau das bewegt die Kolleg*innen. Vielleicht schaffen wir das in einem nächsten Schritt. Es gehört auch zu unserem Kampf, solche Themen zu besetzen. Aber wenn ich mich vor die Presse stelle, würde ich nicht als Erstes von Fußbädern sprechen.

Anja: Vor einem halben Jahr hätte ich das genauso gesehen. Wir haben aber in der Berliner Krankenhausbewegung häufig mit Erfahrungsberichten gearbeitet. Jeder hat seine schlimmste Geschichte erzählt. An diesem Punkt ist mir aufgefallen: Es haben nicht die Geschichten besonders bewegt, wo der Patient am Ende verblutet oder auf einer Rettungsstelle durch Personalmangel gestorben ist. Mitgenommen waren die Leute bei Berichten, wo die Gebärende nicht genug Beistand hatte, ihr niemand die Hand halten oder sie aufklären konnte, und sie ihr Kind allein bekommen hat. Dort hatten Leute Tränen in den Augen. Oder – eine Altenpflegerin erzählte mal eine Geschichte von einer alten Frau, die sich wünschte, die Haare gewaschen zu bekommen und geschminkt zu werden. Die Pflegerin hatte wochenlang keine Zeit dafür. Aber als sie das schließlich machen konnte, eines Nachmittags, da war die Frau so glücklich und hat so gelächelt. Das ist keine dramatische Geschichte, aber das hat die Leute bewegt. Mir ist in diesen Tarifauseinandersetzungen klar geworden: Es sind nicht die sensationellen Geschichten, auf die sich die Presse stürzt, die bewegen. Es sind die kleinen Dinge. Was ich sagen will: Vielleicht müssen wir nicht mit einem Fußbad anfangen bei der Erzählung. Aber warum nicht erzählen, wie die Menschenwürde in unseren Krankenhäusern leidet?

Was heißt das mit Blick auf eure Forderungen nach mehr Personal?

Anja: Ich will das Erreichte nicht abwerten. Aber in gewisser Weise ist es lediglich das Mindeste, was uns als Pflegekräften und auch den Patient*innen zusteht. Wir haben erreicht, dass wir uns und die Patient*innen nicht mehr gefährden. Aber wir brauchen mehr, als nur Gefährdungen zu verhindern. Das ist es ja, was uns am Beruf am meisten gefällt: Wenn man es mal schafft, die Wimpern zu tuschen oder die Haare zu waschen. Genau das – und nicht weniger – würde man sich auch für sich selbst wünschen. Oder wenn ich wüsste, meine Eltern würden so gepflegt werden. Dann hätte ich keine Angst um sie.

Dana: Ja, aber das ist noch ein weiter Weg.

Aber was habt ihr nun konkret erreicht? Dana, an der Charité hattet ihr schon 2015 Kämpfe für mehr Personal und einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz (TVGS). Wie siehst du den jetzt erkämpften Tarifvertrag im Vergleich zu dem alten?

Dana: Mit dem jetzigen Kampf und dem Ergebnis haben wir alle Hürden und roten Linien durchbrochen, die wir im alten TVGS noch hatten. Aus unserer Perspektive ist das ein wirklich großer Erfolg. Wir haben es geschafft, dass wir Ratios vereinbart haben, also verbindliche Quoten, die das Verhältnis von Patient*innen zu Pflegekräften festlegen. Das war 2015 noch ein rotes Tuch. Quoten gab es damals nur in der Intensivpflege und diese wurden in der Umsetzung nicht eingehalten. Jetzt haben wir das für alle Bereiche. Trotzdem mussten wir natürlich auch hier Kompromisse machen, besonders im Bereich der Normalpflege. Im Vergleich zu den Auseinandersetzungen 2015 konnten wir auch Regelungen für neue Bereiche treffen: Besetzungsregeln für die Radiologie und für die Hebammen und sogar für einen Teil der Ambulanzen.

Was passiert, wenn die Quoten nicht eingehalten werden?

Dana: Der alte Tarifvertrag hatte kein Individualrecht für Situationen, in denen die festgelegten Regelungen nicht eingehalten wurden. Dafür haben wir nun eine gute Regelung gefunden – nämlich eine Punktesystematik bei Belastungen. Kurz gesagt heißt das: Wenn Beschäftigte in einer Schicht arbeiten, die unterbesetzt – also unter den festgelegten Regelungen – ist, bekommen sie einen Belastungsausgleich gutgeschrieben, den sie sammeln können und dafür eine Freischicht bekommen.

Gibt es kritische Punkte im Tarifvertrag?

Dana: Ein Punkt könnte sein, dass Personal für Stellen gezählt wird, das gänzlich andere Aufgaben erfüllt, beispielsweise gar nicht am Bett arbeitet oder überhaupt nichts mit der Pflege zu tun hat. Im Diskussionsprozess der Verhandlung haben wir deshalb gesagt, dass wir nur die Kolleg*innen meinen, die auch wirklich am Bett arbeiten. Aber dieses Problem wird uns in Zukunft wahrscheinlich noch öfter beschäftigen: Wer wird für die Quote angerechnet? Je mehr pflegenahe Berufe eine Rolle spielen, umso undurchsichtiger wird die Umsetzung der Quote im Zweifelsfall. Wir müssen darauf achten, wer die tatsächliche Arbeit am Bett macht.

Was wurde für die Auszubildenden erreicht?

Lisa: Wir als Auszubildende bekommen jetzt auch Belastungspunkte, jedoch nur für unterbesetzte Schichten. Wir hatten eigentlich gefordert, dass wir einen Anspruch auf die Praxisanleitung oder Reflexionsgespräche bekommen. Das haben wir nicht geschafft. Aber auf unterbesetzten Schichten erhalten auch wir ein Drittel Belastungspunkt. Das ist auf jeden Fall ein Erfolg. Wir konnten auch die praktische Anleitungszeit steigern, das heißt, den praktischen Einsatz von zehn auf 15 Prozent. Das betrifft die Zeit, die wir von einer qualifizierten Person begleitet und angeleitet werden. Was wir vor allem erreicht haben, ist aber auch, dass wir auf Augenhöhe betrachtet werden. Vielen wurde bewusst, dass es wichtig ist, Auszubildende nicht zu verheizen, sondern zu behalten.

Bei Vivantes wurde das erste Mal für mehr Personal gekämpft. Anja, was habt ihr erreicht? In welchem Verhältnis steht das zum Tarifvertrag an der Charité?

Anja: Bei den Quoten für die Pflege sind die Eckpunktepapiere bis auf geringfügige Unterschiede in bestimmten Bereichen die gleichen wie bei der Charité. Es ist ein riesiger Erfolg, dass wir das bei Vivantes auch geschafft haben. Für die Azubis haben wir ebenfalls eine sehr ähnliche Regelung. Es ist also insgesamt ein sehr ähnliches Eckpunktepapier. Die Unterschiede werden voraussichtlich in der Umsetzung liegen.

Was meinst du damit?

Anja: Mein Arbeitgeber reduziert gerade überall massiv Betten. Im Moment sind es die Bereiche, die im DRG-System schlecht vergütet sind – also nicht lukrative Bereiche. Bei mir im Haus sind zum Beispiel zwei Stationen plötzlich geschlossen worden. Hier wird der Tarifvertrag argumentativ gegenüber der Politik und den Krankenkassen genutzt, um Betten abzubauen. Meine Vermutung ist aber: Es war von vornherein ein Ziel, diese Bereiche zu schließen, weil sie rote Zahlen schreiben. Die Schuld für die Schließung wird nun aber auf den Tarifvertrag geschoben.

Was bedeutet das nun für euch?

Anja: Wir haben für einen guten Tarifvertrag gekämpft – und gewonnen. Jetzt müssen wir für eine gute Umsetzung kämpfen. Das wird noch ein dickes Brett. Aber wir haben gute Voraussetzungen dafür geschaffen: Wir haben eine aktive Belegschaft, die gelernt hat zu kämpfen. Wir sind daher gut vorbereitet auf weitere Auseinandersetzungen.