Das Paradox besteht weiterhin: Der Überschuss, die «Rente», für den algerischen Staat aus Erdgas und -öl ist nicht groß genug, um ein Gesellschaftsmodell analog zu den Golfstaaten zu erlauben, bei dem die Masse der einheimischen Bevölkerung aus der Rente einen vergleichsweise hohen Lebensstandard erzielt. Sie ist aber so hoch, dass sie über günstige Exporte die Wettbewerbsfähigkeit der übrigen Produktionszweige nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern vor allem auf dem Binnenmarkt verhindert. Die algerischen Kohlenwasserstoffe - vor allem Erdgas - stellten nach dem letzten algerischen Statistischen Jahrbuch im Jahr 2017 95% der Exporte, 24% des Bruttosozialprodukts und 45% der Staatseinnahmen dar. Die Nutzung der Rente zur Überwindung von «Unterentwicklung» war und ist die Kernfrage der algerischen Gesellschaft praktisch seit der Unabhängigkeit.
Hartmut Elsenhans (geb. 1941) ist Emeritierter Professor in Leipzig. Feldforschung in Algerien, Bangladesch, Frankreich, Indien und Vietnam zu Nord-Süd-Beziehungen, Entwicklungspolitik, Kapitalistisches Weltsystem. Letzte Buchveröffentlichung: Capitalism, Development and the Empowerment of Labour. A Heterodox Political Economy. London: Routledge, 2022.
In ihrem Bestreben, durch wirtschaftliche Verbesserungen eine politische Basis bei der algerischen muslimischen Bevölkerung zu gewinnen, hatte die französische Politik während des Algerienkriegs ein Konzept wirtschaftlichen Wachstums entwickelt, das in der ganzen Entkolonisierungsdebatte beispiellos war. Aus der Projektion einer zu realisierenden Struktur der algerischen Wirtschaft wurde ein Drehbuch der Investitionen abgeleitet. Mit Subventionen an Investoren sollten schrittweise die interindustriellen Verflechtungen bis zur Verwirklichung der projektierten Industriestruktur verdichtet werden.
Mit der Unabhängigkeit 1962 wurden wesentliche Elemente der französischen Wirtschaftsplanung aus der Endphase des Algerienkriegs übernommen. An die Stelle des verwaltungstechnisch schwer weiterzuführenden Drehbuchs aufeinander abgestimmter Investitionen trat das Konzept der «Industrialisierungsindustrien». Wirtschaftliche Großprojekte wurden in den Mittelpunkt gestellt, die über die Nachfrage nach Vorprodukten und Dienstleistungen und die Produktion von Vorprodukten für andere Industrien, weitere Investitionen hervorrufen sollten. Für solche vor- und nachgelagerten Investitionen war nach Abkopplung vom französischen Exportmarkt der heimische Binnenmarkt entscheidend. Hier galt, dass gerade bei noch niedrigen technologischen Kompetenzen – und dies traf für den überwiegenden Teil der algerischen Wirtschaft zu – eine egalitäre Verteilung der Konsumnachfrage ein wichtiges Element der Gesamtstrategie sein musste.
Biographische Verflechtungen
In meiner über nunmehr 50 Jahre engen Beziehung zu Algerien war ich auf dreifache Weise mit dem Problem der Nutzung der Rente befasst. Ich habe frühzeitig die schrittweise Umstrukturierung der Nachfrage auf Massenkonsum befürwortet. Die Mehrheit meiner algerischen Kolleg*innen hatte auch unter dem Einfluss der marxistischen Theorie des nichtkapitalistischen Entwicklungswegs in der Beschränkung des Massenkonsums und einer Maximierung der Investitionen als den besten Weg für die Überwindung von Armut und Abhängigkeit gesehen. In diesem Vorrang für Akkumulation aller verfügbaren Ressourcen fanden sich die Marxist*innen in Übereinstimmung mit dem neoklassischen Mainstream in der Wirtschaftswissenschaft und den partiell dazu kritischen ökonomischen Modernisierungstheorien wieder.
Für industrielle Produktion gilt aber, dass Produktivität mit Seriengrößen zusammenhängt. Je gleicher die Einkommensverteilung, desto mehr Menschen fragen eine kleine Palette von Gütern nach. Die Nachfrage nach Luxusgütern, deren lokale Fertigung aufgrund geringer Seriengrößen hohe Stückkosten verursacht, wird reduziert. Die Masse der Konsumenten fragt im Regelfall weniger komplexe Güter nach, die mit einfacher Technologie hergestellt werden können. Einfache Technologie kann schrittweise lokal produziert werden und bietet den Einstieg in eine lokale Maschinenproduktion.
Gegen den erwähnten Vorrang der Akkumulation aller Ressourcen schlug ich dagegen eine auf lokale Produktion von Investitionsgütern abgestellte spezifische Akkumulation entgegen, die als Ergänzung Einkommensumverteilung zugunsten der breiten Bevölkerung und zur schrittweisen Steigerung des Massenkonsums erforderte.
Daraufhin entwickelte sich eine zweite Beziehung. Ich hatte das seltene Glück, mithilfe des algerischen Planungsministeriums meine Theorien in Algerien überprüfen zu können. Der algerische Botschafter in Deutschland in den siebziger Jahren, Ali Oubouzar, hatte meine Arbeiten wahrgenommen und Vertrauen in mich gefasst, sodass ich sogar die deutsche Übersetzung der algerischen Nationalcharta von 1976 begleiten und mit einem durchaus kritischen Vorwort zur algerischen Staatsklasse versehen durfte. Staatlich als Forscher akkreditiert habe ich mit algerischen und deutschen Mitarbeiter*innen 250 Klein-und Mittelbetriebe im Großraum Algier untersucht. Diese Daten ließen sich mit der Nachfrage der Haushalte abgleichen, für die die algerische offizielle Statistik regelmäßig Daten abfragte. Sobald die Endverbraucher*innennachfrage der verschiedenen Einkommensschichten bekannt waren, ließen sich aus dem Tableau der interindustriellen Beziehungen weitere Nachfragen nach Vorprodukten und Investitionsgütern ableiten, die mit unseren Daten über die Produktionskapazitäten, und die Ausrüstungen und Zukäufe unserer Klein-und Mittelbetriebe verknüpft werden konnten. Das Ergebnis zeigte, dass eine Verteilung wie in Norwegen vor allem Produkte wie verarbeitete Nahrungsmittel, Textilien, einfache Haushaltsgeräte, Gesundheit und Hygieneprodukte und öffentlichen Nahverkehr stärkte, während die Nachfrage nach elektrischen Haushaltsgeräten, Möbeln und Autos massiv sank. Auch wenn die algerischen Umfragen zu Konsumgütern der Haushalte nicht zwischen Qualitäten der Produkte unterschieden, zeigten die Branchen, bei denen Wachstum zu beobachten war, dass unsere Hypothese zutraf. Steigerung der Masseneinkommen förderte Wachstum.
Weitere Simulationen ergaben die erwartete Steigerung der Nachfrage nach Produkten der mechanischen und metallbearbeitenden Industrie, also im Kern des Maschinensektors. Im Fall einer Reduktion der Importe lagen hier die große Wachstumspotenziale. Sie zu nutzen hätte vorausgesetzt, auf lokal herstellbare Standardtechnologien wie Standarddrehbänke zu setzen, die von einer aufzubauenden lokalen Werkzeugmaschinenindustrie zu liefern waren.
Voraussetzung wäre eine umfassende staatliche Wirtschaftsplanung gewesen, die den Wert angepasster Technologie als Einstieg in die lokale Werkzeugmaschinenproduktion und die Expansion der Massennachfrage als deren ökonomische Grundlage akzeptiert hätte. Eine solche Aufwertung der Nachfrage war sowohl für marxistische als auch neoklassische Ansätze nicht darstellbar, weil dieses Wachstum als Funktion von Kapitalakkumulation modellierte.
Ohne lokale Kompetenzen in der Technologieproduktion blieben die Importe von Hochtechnologie «isoliert». Es entstanden schlüsselfertige Betriebe, die von den lokalen Arbeitskräften technisch nicht beherrscht werden konnten, so dass die Abhängigkeit von den ausländischen Lieferanten dieser Betriebe zunahm. Vorgesehene Verflechtungen mit anderen Produktionsanlagen konnten nicht verwirklicht werden, weil versprochene Produktionsziele nicht erreicht wurden. Ohne die erwarteten Zulieferungen blieb nur der Ausweg, verstärkt zu importieren.
Innerhalb der politischen dominanten Struktur, der algerischen Staatsklasse, wurde um die Bewertung von ökonomischen Misserfolgen und knappe Investitionsmittel zu deren Kompensation gekämpft. Ziele bei den Investitionsausgaben wurden erreicht, Produktionsziele aber massiv verfehlt. Der Planungsprozess endete in Chaos, auch weil die Kräfte des Marktes dort vernachlässigt worden waren, wo sie private Investitionen hätten hervorrufen können.
Liberalisierung … und deren Folgen
Die seit den frühen achtziger Jahren einsetzende Neuorientierung der algerischen Wirtschaftspolitik hat die in der Planungsphase aufgebauten Industriebetriebe zu einem großen Teil verfallen lassen. Die algerische Wirtschaftspolitik durchlief eine Reihe von Liberalisierungsmaßnahmen, an deren Ende eine außenwirtschaftliche Absicherung einer Reihe von Staatsunternehmen stand (hohe Zölle, Importmonopole), die aber nicht mehr in eine durch Planung zu erreichende industrielle Struktur eingepasst waren. Unzufriedenheit wurde über eine relativ große Streuung der Rente unter die breite Masse der Bevölkerung abgebogen.
Angesichts einer massiven Importabhängigkeit Algeriens entschied der Wechselkurs über die reale Kaufkraft der so verteilten Rente. Ein hoher Wechselkurs versprach zwar viel Konsum und wurde daher von der übergroßen Mehrheit der algerischen Bevölkerung geteilt. Nicht gesehen wurde, dass für den Rest der algerischen Wirtschaft außerhalb des Öl- und Gassektors ein hoher Wechselkurs bedeutete, dass sie auf dem algerischen Binnenmarkt gar nicht wettbewerbsfähig werden konnte. Das galt vor allem für die noch schwache algerische Industrie.
Im nunmehr letzten – und dritten - Dissens mit meinen algerischen Kolleg*innen und Freund*innen, ging es um die Frage des Außenwerts der algerischen Währung. Auf einer Konferenz 2009, zu welcher der algerische Parlamentspräsident insgesamt vier ausländische Wissenschaftler eingeladen hatte, trug ich zum Entsetzen der anwesenden Parlamentarier und Wirtschaftsführer vor, dass angesichts der offensichtlichen Schwäche der algerischen administrativen Planungskapazitäten und des durchaus zu beobachtenden moralischen Niedergangs der algerischen Staatsklasse (Korruption), die disziplinierende Wirkung des Markts unabweisbare Voraussetzung für eine wirtschaftliche Gesundung war. Diese disziplinierende Wirkung konnte der Markt nur entfalten, wenn der Wechselkurs der algerischen industriellen Produktivität entsprach. Dann verspräche eine staatliche Industriepolitik Erfolg beim Aufbau der in den früheren Planungen angestrebten Ziele einer eigenständigen und lokal vernetzten Industrie. Es geht nicht um Dominanz des Marktes, aber um seine Nutzung um begrenzte administrative Kapazitäten dann umso wirksamer einzusetzen
Bei einem hohen Wechselkurs versuchen viele Algerier ihre in internationaler Währung hohe Kaufkraft zu Importen zu nutzen, indem sie entgegenwirkende Zölle «umgehen». Algerien wurde zu einem Land, in dem viele im Betrug des Staats, ein hinnehmbares, ja berechtigtes Verfahren zur Wohlstandssteigerung sahen.
Eine realistische Abwertung hätte dagegen zur Folge gehabt, dass der Wohlstand gerade der mittleren Einkommensschicht zwar zurückgegangen wäre, auf dem Binnenmarkt aber Investitionsmöglichkeiten zu Substitution bisher importierter Produkte entstanden wären. Die Mittelschicht, die ja bislang keineswegs eine dynamische Bourgeoisie ist, hätte sich wohl gespalten. Ein Teil wäre angesichts der neuen Investitionsmöglichkeiten zu Klein-und Mittelunternehmern geworden, die den Binnenmarkt zurückerobert hätten, und bei realistischen Wechselkursen von dort aus auch den asiatischen Weg der Exportorientierung hätten gehen können, liegt doch einer der wichtigsten Absatzmärkte für verarbeitete Produkte aus dem Globalen Süden unmittelbar vor der Haustür. Wer unter der Mittelschicht diesen Weg nicht gewählt hätte, hätte damit rechnen müssen, zu verarmen.
Die Bestimmung der Produkte, deren lokale Herstellung zur Bekämpfung der auf Abwertung folgenden Inflation vorrangig ist, ließe sich aus den derzeitigen Nachfragestrukturen der ärmeren Haushalte in Algerien leicht ablesen. Schwieriger würde die Bestimmung der angepassten Technologien, die für mehr technologische Unabhängigkeit lokal produziert werden müssten. Schon bei unserer nunmehr Jahrzehnte zurückliegenden Untersuchung bei damals noch geringerer technologischer Abhängigkeit hatten die algerischen Klein-und Mittelbetriebe keine Vorstellung von auch nur geringfügig einfacheren Technologien, die lokal produziert werden konnten.
Zusammen mit dem Marburger Professor und Politikwissenschaftler Rachid Ouaissa konnte der Vorschlag der Abwertung der Währung als Voraussetzung für Wiedereroberung des Binnenmarkts in die Diskussionen im Zusammenhang mit dem Hirak eingebracht werden. Dessen Weigerung, eine Transformationsstrategie in Bezug auf die Wirtschaft zu entwickeln, hat allerdings die weitere Diskussion verhindert. Einer der wichtigsten Gründe des Scheiterns des Hirak ist dessen Unfähigkeit alternative, nicht Renten-basierte gesellschaftliche Zukunftsvisionen anzubieten.