Nachricht | Krieg / Frieden - Westasien - Ukraine Syrien, Russland und die Ukraine

Entwicklungen in Europa und Westasien sind weder geografisch noch politisch voneinander zu trennen

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Autorin

Charlotte Tinawi,

Russisches Militärfahrzeug vor komplett zerstörten Gebäuden.
Russische Truppen im September 2021 in Daraa al-Balad, im Süden von Syrien. IMAGO / Xinhua

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich mit unvorhergesehenem Tempo entwickelt, es gibt wohl kaum jemanden, der von sich behaupten kann, die Eskalation in dieser Form kommen gesehen zu haben. Die Dramatik in der Ukraine und die Aufrüstungsdynamik lässt fassungslos zurück und produziert auch in Deutschland ein Gefühl von näherkommender, surrealer Kriegsbedrohung. Mit diesem Angriffskrieg hat Putin den entscheidenden Bruch im Verhältnis zum Westen und auch der deutschen Linken herbeigeführt. Die meisten jener, die vorher stets Erklärungsmuster für Russlands Agieren gefunden haben, scheinen mit ihrem Verständnis am Ende, nichts ist mehr wie zuvor, Putin hat den Bogen überspannt.

Russische Kriegsführung

Wer das Geschehen in Syrien in den letzten Jahren verfolgt hat oder selbst betroffen war, kann sich im derzeitigen Diskurs allerdings nur die Augen reiben. Russland hat sich 2015 auf Einladung Assads in den Syrienkrieg eingeschaltet – so weit, so völkerrechtsgemäß. Was danach kam, war kriegsentscheidend: die Beteiligung an und Unterstützung der – needless to say – völkerrechtswidrigen Kriegsführung des Assad-Regimes gegen die syrische Bevölkerung, den Kriegsverbrechen und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Russland hat konsequent humanitäres Völkerrecht gebrochen, systematisch Krankenhäuser und Schulen bombardiert und durchweg zivile Infrastruktur vernichtet. Gerahmt wurde dieses Vorgehen von der Verbreitung von Fake News und einer Desinformationspolitik, die der völligen Verharmlosung der Kriegsführung und der internationalen Verunsicherung über Wahrheit und Unwahrheit diente – mit Erfolg.

Das Mantra-haft wiederholte Argument, dass die Einladung Russlands seitens des Assad-Regimes durchaus völkerrechtsgemäß war, fungierte über Jahre als erfolgreiches Ablenkungsmanöver und Mittel, der syrischen Realität nicht ins Auge schauen geschweige denn Konsequenzen daraus ziehen zu müssen. Die Argumentation, Putin sei ein Akteur, der aus der Defensive heraus und mit legitimen nationalen Sicherheitsbedürfnissen agiert, erschien aus syrischer Perspektive seither zynisch und menschenverachtend. Die Quittung dafür bekommen nun die in der Ukraine lebenden Menschen. Zusammenhänge und Kontinuitäten werden nichtsdestotrotz weiterhin kaum gesehen.

In Syrien konnte Putin über Jahre hinweg austesten, wie weit er gehen kann, ohne dass der Westen ihn spürbar gehindert hätte, mit demselben Ergebnis wie im Fall von Assad: so weit, wie er möchte. Eine völkerrechtliche Legitimation gibt es in der Ukraine diesmal nicht, aber schon in Syrien schien dieses Framing Putins Apologeten oft wichtiger zu sein als ihm selbst. Und auch jetzt ist man wieder relativ hilflos darauf zurückgeworfen, Putin dabei zu zuschauen, wie er Wohnblöcke bombardiert und in kürzester Zeit eine Millionen Menschen vertrieben wurden. Dem etwas Wirksames entgegen zu setzen scheint kaum möglich, zu eskaliert ist die Situation.

Die Option von deutschen Waffenlieferungen an die syrische Zivilbevölkerung stand (jenseits der Kurd:innen im Kampf gegen den IS) nie ernsthaft im Raum, im Fall der Ukraine ist dies seit Beginn des Angriffs anders. Ob dieser Diskurs ein Fortschritt oder ein Rückschritt ist, darüber lässt sich allerdings streiten, ändern sie im Kampf von David gegen Goliath doch kaum etwas und produzieren in jedem Fall noch mehr Tote.

Neben umstrittenen Sanktionen soll die einzige Antwort, die nun im Zuge eines unvermittelten militaristischen Backlashs stark gemacht wird und die nicht nur nach der jahrelangen westlichen Passivität in Syrien völlig skurril erscheint, nun massives Aufrüsten sein – in absurden Dimensionen. Der Schwenk ist, trotz großem sozialdemokratischen Engagement, diesen Weg mit gesundem Menschenverstand als den einzig richtigen zu begründen, rational kaum nachvollziehbar, aber die systematische und hoch gefährliche Unterschätzung Putins scheint noch immer kein Ende gefunden zu haben. Welchen Szenarien hier Tür und Tor geöffnet werden könnte, ist schlicht nicht auszudenken.

Syrische Community in Deutschland und der Krieg in der Ukraine

Währenddessen lebt seit 2015 eine große Community von über 800.000 syrischen Geflüchteten in Deutschland, viele von ihnen arbeiten hier, wurden mittlerweile eingebürgert, sprechen Deutsch.
Eine Mehrheit von ihnen ist vor Assads und seit 2015 auch Putins Bomben auf syrische Städte nach Europa geflohen, nicht wenige von ihnen dürften angesichts der derzeitigen Bilder aus der Ukraine eine Re-Traumatisierung durchleben. Kürzlich ging ein Strafprozess von historischer Bedeutung in Koblenz zu Ende, der einem ehemaligen syrischen Geheimdienstmitarbeiter dank diverser Zeug:innenaussagen die Ausübung von Staatsfolter nachweisen konnte, er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Es zeigt: die Entwicklungen in Deutschland, Europa und einem westasiatischen Land wie Syrien sind weder geografisch noch politisch voneinander zu trennen. Syrer:innen schreiben ihre Geschichte in Deutschland weiter, das Geschehen in Syrien hat längst seinen Eingang in die deutsche Geschichte gefunden.

Flucht und Rassismus

Was eine eurozentrische Haltung, die all das nicht sehen will, in der Konsequenz heißen kann, bekommt in internationalen Mainstream Medien eine Bühne: unverhohlen rassistisch werden die Misere und die vielen zur Flucht gezwungenen Menschen aus der Ukraine beschrieben und bewertet. Berichterstatter Charlie D’Agata sagte in den CBS news «But this isn’t a place, with all due respect, like Iraq or Afghanistan that has seen conflict raging for decades. This is a relatively civilized, relatively European – I have to choose those words carefully too – city where you wouldn’t expect that or hope that it’s going to happen». Eine Journalistin in einem NBC Video antwortet auf die Frage, warum die europäische Aufnahmebereitschaft für die Flüchtenden derzeit so viel höher sei als noch 2015: «To put it bluntly, these are not refugees from Syria, these are refugees from Ukraine...They're Christians, they're white. They're very similar». Und der ukrainische Politiker David Sakvarelidze sagt in der BBC: «It’s very emotional for me because I see European people with blue eyes and blonde hair being killed». Wer dieses Bild von ukrainischen Flüchtenden nicht erfüllt, bekommt den Rassismus an den Grenzen zu Polen und auf dem Weg Richtung Westen mit aller Gewalt und Brutalität zu spüren.

Der wiederholte mediale Rassismus hat in sozialen Medien empörte Reaktionen und Diskussionen ausgelöst. Unter vielen User:innen aus Ländern wir Syrien, Irak oder Libanon bleibt im Umgang damit nur noch Zynismus und Sarkasmus – zu verletzend ist die unverhohlene Ignoranz, zu tief sitzt der Schmerz und das Trauma über jahrelange Heuchelei, völlige Empathielosigkeit und westliche Doppelstandards.

Handlungswege?

Die Frage, wo die Menschen in der Ukraine heute stünden, wäre Putins Vorgehen in Syrien in den letzten Jahren nicht komplett ohne Konsequenzen geblieben, sondern ernst genommen worden und hätte beispielweise zu zielgerichteten und koordinierten Listenbasierten Sanktionen geführt, ist mit dem Blick in die Vergangenheit müßig und nicht zielführend. Mit dem Blick in die Zukunft ist jedoch nun die vielleicht letzte Gelegenheit, den langjährigen Umgang, auch und besonders von links mit dem Kriegsakteur Putin zu überdenken, Widersprüche zu reflektieren und aus Fehlern zu lernen, anstatt sie zu reproduzieren, auch und besonders mit Blick auf die syrische Community als Teil der deutschen Gesellschaft. Es ist an der Zeit, neben den eigenen auch syrischen Narrativen in deutschem Diskurs Platz einzuräumen, sie anzuerkennen und die vermeintliche Deutungshoheit über weltpolitische Ereignisse und deren Relevanz zu hinterfragen.

Als gesellschaftliche Linke ist es angesichts der aktuellen verfahrenen Situation praktisch nicht möglich, sich dem militarisierten Diskurs zu entziehen, auch das erinnert stark an die extrem binär aufgeladenen Diskussionen zu Syrien, die bis heute ergebnislos bleiben. Auch wenn es andere waren, die diese Entwicklung über Jahre forciert und in die Sackgasse geführt haben – ein Weg für Linke, wieder in die Handlungsunfähigkeit zu kommen, kann auch im Fall der Ukraine nur der diskursive Ausstieg aus dieser binären Logik sein. Und auch Linke tragen eine nicht triviale Verantwortung für Narrative, Erklärungen und Rechtfertigungen, die jahrelang nicht nur mitgetragen, sondern proaktiv vorangetrieben wurden und im Kleinen ihren Beitrag dazu geleistet haben, wo wir jetzt stehen. Wir sind es den Überlebenden aus Ukraine und Syrien gleichermaßen schuldig, uns radikal der Frage zu stellen, auf wessen Rücken wir eigentlich Politik machen und warum wir dafür über Leichen gehen.