Nach nur zwei Wochen, sind knapp zwei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Der UNHCR spricht von der größten Fluchtbewegung in diesem Jahrhundert. An den Grenzen scheint die Situation anfangs trotzdem zu funktionieren. Das liegt auch daran, dass Flüchtende die Ukraine im Moment in die Nachbarländer verlassen können
Vor einer Woche machte ich mich auf den Weg von der Insel Lesbos, nach Ungarn. Auf dem Weg zum kleinen Flughafen in der Hafenstadt Mytilini, zieht sich dort der dünne Küstenstreifen entlang, an dem Tausende fliehende Menschen aus Kriegsregionen der ganzen Welt in den Jahren zuvor Europa erreichten. Mit dem Wunsch, in Sicherheit zu gelangen oder ein neues Leben zu beginnen. An diesem Morgen war seit vier Tagen Krieg in der Ukraine. Mittlerweile haben über eine Millionen Menschen das Land verlassen. Ein Freund, der am Bahnhof von Lwiw stand, sagte am Telefon: «Es ist wie 2015. Ich kann kaum in Worte fassen, welcher Schmerz sich hier am Bahnhof abspielt. Gerade reißen so viele Familien entzwei. Keiner weiß, wann man sich wiedersieht.» An den Grenzen zu Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn stehen in diesen Tagen vor allem Frauen, Kinder, Großeltern mit ihren Enkeln. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nach Ausrufung des Kriegszustands in der Ukraine das Land nicht mehr verlassen.
Der Vergleich zur Situation von 2015, dem Höhepunkt der Fluchtbewegung nach Europa im letzten Jahrzehnt, zeigt, dass in diesen Tagen eine neue Zäsur stattfindet. Sie legt offen, was sich in Europa in den vergangenen sieben Jahren verändert hat und bleibt doch allem voran die Erfahrung jener, die von der Flucht und einer brutalen Entwurzelung betroffen sind.
Während die Bäume an der griechischen Küste am Taxifenster vorbeizogen, dachte ich an das Zeugnis eines kubanischen Paares, das ich noch einen Tag zuvor für einen Bericht über illegale Zurückweisungen am Grenzfluss Evros gelesen hatte. Sie berichteten, wie die meisten Betroffenen, von illegalen Pushbacks an den Europäischen Außengrenzen, von dem Einsatz von Elektroschocks und Pfefferspray, von der Abnahme persönlicher Gegenstände und systematischer Misshandlung und Einschüchterung durch erzwungenes Ausziehen durch maskierte Grenzbeamte, bevor sie auf einem Schlauchboot ausgesetzt, zurück über den Fluss in die Türkei gedrängt wurden.
Franziska Grillmeier, lebt als freie Journalistin auf der griechischen Insel Lesbos und berichtet seit vielen Jahren u.a. für die ZEIT, Spiegel, WOZ, WDR, Guardian und BBC über Migration und die Folgen von Vertreibung. Für die Rosa Luxemburg Stiftung hat sie zuletzt über die Kriminalisierung der Berichterstattung über Flüchtende gesprochen.
Ein Echo von Berichten systematischer Pushbacks, von denen Menschen zu Tausenden auch an der Polnisch-Belarussischen Grenze, in Bosnien und Herzegowina und in Griechenland berichtet hatten. Sieben Jahren nach dem Höhepunkt der sogenannten Europäischen Fluchtkrise ist durch investigative Recherchen und die Zeugenaussagen Tausender Betroffener mit Gewissheit zu sagen, dass sich an Europas Grenzen eine rechtliche Parallelwelt aufgetan hat.
Nicht nur Medien wie der Spiegel, die New York Times oder der Guardian, berichten seit Jahren in investigativen Recherchen davon, auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das sich normalerweise sehr zurückhaltend äußert, machte mehrmals auf die alarmierende Menschenrechtssituation an den Grenzen aufmerksam.
Erst in der vergangenen Woche betonte der Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi in einer ungewöhnlich klaren Aussage: «Wir sind beunruhigt über wiederkehrende und übereinstimmende Berichte von den Land- und Seegrenzen Griechenlands zur Türkei, wo der UNHCR seit Anfang 2020 fast 540 gemeldete informelle Rückführungen durch Griechenland registriert hat. Auch in Zentral- und Südosteuropa werden verstörende Vorfälle an den Grenzen zu den EU-Mitgliedstaaten gemeldet.»
Flüchtende aus Ländern wie Afghanistan, Somalia oder Syrien, genauso wie Migrant*innen mit anderen Beweggründen, die keine legale Möglichkeit haben, nach Europa zu gelangen werden mittlerweile mit systematischen Zurückweisungen an den Griechischen Grenzen aufgehalten, stecken in langatmigen Asylverfahren in Hochsicherheitslagern fest oder landen zum Teil, auch mit anerkanntem Asylstatus in der Obdachlosigkeit, einfach, weil es keine Möglichkeit der Weiterbildung oder einer Anstellung in Athen oder Thessaloniki gibt.
Mittlerweile sind knapp zwei Millionen Menschen aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen. «Keiner weiß, ob heute noch ein Zug abfährt,» sagte der Freund, an der Grenze. «Alle Familien versuchen einen Platz zu bekommen. Studierende aus Nigeria oder Indien, wissen nicht, was für sie an der Grenze passiert. Es fehlt allen an Informationen.»
An den Grenzen von Polen, der Slowakei, Rumänien und Ungarn läuft die humanitäre Unterstützung auf Hochtouren. Sie ist meist von zivilgesellschaftlichen Bemühungen gestützt. Doch auch auf Regierungsebene einigen sich die Europäischen Länder zum ersten Mal auf die «Massenzustrom»-Richtlinie von 2001, die in den 90er Jahren, während der Jugoslawienkriege entstand und Flüchtende ohne aufwendige Asylverfahren unkompliziert Schutz in Europa garantieren soll. Dafür müssen 15 Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen. Sogar Ungarn, das sich in den vergangenen Jahren immer wieder für die Fluchtverhinderung in Europa stark machte, stimmte den Mindeststandards der Regelung zu, die eine Arbeitserlaubnis für die Vertriebenen, den Zugang zu Sozialhilfe, medizinische Versorgung und die Möglichkeit zur Familienzusammenführung miteinschließt.
«Wir haben heute erstmals einen Schulterschluss aller Staaten der Europäischen Union zur gemeinsamen, schnellen und unbürokratischen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen erreicht», sagte die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faser nach der Einigung. Die Richtlinie wurde bislang noch nie genutzt. Ein Zeichen der Hoffnung, dass sich die rechtlose Situation an den Außengrenzen ändern könnte? Eine vielleicht irrationale Hoffnung. Doch sie ist da.
Zu sehen, wie alle 27 EU-Länder, darunter auch Ungarn, sich bereit erklären, die vor dem Krieg fliehenden Ukrainerinnen aufzunehmen, beeindruckt mich, trotz ihrer Komplexität, zutiefst. Es ist die wohl beste Nachricht in diesem Wust an schlechten Nachrichten seit Beginn des Ukrainekrieges. Denn es zeigt, dass es möglich ist, das Recht auf Asyl zu gewähren und nach internationalem Recht und demokratischen Werten, schnell und fair zu handeln. Es zeigt, dass es funktionieren kann, dass Menschen auf sicherem und legalem Weg Europa erreichen und sich weiterbewegen können. Dass all das Geld, das in den vergangenen Jahren in immer höher entwickelten Grenzschutztechnologien gesteckt wurde, auch in würdevolle Unterbringungen an den Grenzen und faire und legale Asylverfahren investiert werden könnte, die Menschen nicht auf immer tödlichere Wege zwingt.
Dabei entwickelte sich der Trend in Europa in den letzten Jahren vor allem zugunsten der High-Tech-Überwachungsindustrie, die Menschen von der Flucht nach Europa abschrecken soll.
Griechenland baute nach der Eskalation mit der Türkei vor zwei Jahren an der Landesgrenze zum Evros eine Mauer für über 60 Millionen Euro und die Europäische Union zahlte 276 Millionen Euro für die Errichtung von 5 Hochsicherheitslagern für Asylantragssteller*innen auf den Ägäischen Inseln, die zu jeder Tages- und Nachtzeit von privatem Sicherheitspersonal, Polizeibeamten, Kameras, Bewegungsmeldern und teilweise Drohnen überwacht wird. Die polnische Grenze zu Belarus wurde in der Eskalation der Grenzsituation im letzten Herbst zu einem weiteren Schauplatz der neuen Überwachungstechnologie: die polnische Regierung genehmigte eine 350 Millionen Euro teure Mauer mit modernen Kameras und Bewegungssensoren.
Auch das Budget der Grenzschutzagentur Frontex wurde seit 2019, von 333 Millionen Euro auf 543 Millionen Euro im letzten Jahr erhöht. Bis 2027 soll ihr jährliches Budget auf 5,6 Milliarden Euro steigen. Die neuesten Formen der Grenzsicherung boomen.
Natürlich ist klar, dass die Visegrád-Staaten heute nicht auf einmal eine rosarote Brille im weltweiten «Migrationsmanagement» aufsetzen. Als direkte Nachbarländer fühlen sich die Regierungen in Ungarn oder Polen, die zuvor eine restriktive Fluchtpolitik forderten, heute in der direkten Verantwortung Fliehenden aus den Nachbarländern aufzunehmen. Auch, weil sie sich nicht gegen die Angst vor einem übergreifenden Krieg und die starke Solidaritätsbewegung, die sich durch eine enge Definition eines plötzlichen «Wir»-Gefühls für Ukrainische Geflüchtete an den Grenzen ausdrückt.
Die tiefen Wurzeln der Ungleichbehandlung von Menschen an den Europäischen Grenzen, werden auch in den jüngsten Berichten der Roma-Gemeinde deutlich, die gerade versucht, aus der Ukraine zu fliehen und einer diskrimierenden Behandlung ausgsetzt ist, auch weil sie zum Teil keine biometrischen Pässe besitzen. Oder den Berichten der nigerianischen Studierenden, die berichteten, aus Zügen gestoßen und von der Grenze abgewiesen worden zu sein. Viele der ausländischen Staatsangehörigen, die vor den russischen Angriffen fliehen, sind Studierende. Davon allein kommen etwa 16.000 Afrikaner*innen, die vor dem Krieg in der Ukraine studierten, laut Südafrikanischer Botschaft.
Ein Student aus Nigeria, der drei Jahre lang an der Universität von Kharkiv, die inzwischen zerstört ist, Medizin studierte, erzählte mir an meinem ersten Tag am ungarischen Bahnhof von Záhony, an dem Hunderte Menschen jeden Tag aus der Ukraine ankommen, dass er nach Ungarn gekommen sei, da er von Freunden zuvor erfahren hatte, dass sie in Polen von Grenzbeamten angeschrien worden seien, wieder «in ihre Länder» zurückzukehren. «Wohin zurück?» sagt er. «Ich habe meinen Schlüssel von meiner Wohnung in Kharkiv noch in der Hosentasche,» und zieht ihn heraus, «ich musste alles zurücklassen.»
Das europäische Grenzmanagement, wenn es jetzt um die Ukraine geht, ist nicht zu verklären, aber es ist eine Chance. Es zeigt, dass es auch durch gemeinsame Koordination möglich ist, Menschen Sicherheit in Europa zu gewähren.
An diesem Morgen erreichen weitere hundert Flüchtende die Grenzstadt Záhony, im Nordosten Ungarns. Langsam steigen die Familien aus. Über 200.000 Menschen sind bis jetzt nach Ungarn geflohen. Sie werden von Duzenden Helfenden mit Wasserflaschen, verpackten Schokoladencroissants und Hipp-Babynahrung empfangen. «Nichts ist mehr wie zuvor,» sagt eine Frau in der beheizten Eingangshalle. «Es ist, als hätte sich ein Vorhang geschlossen.» Für Hunderte Menschen, die an diesem Tag aus dem Zug aussteigen, kann das Erfahrene nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Während sich die Menschen am Bahnhof von Záhony einfinden, berichten die lokale Presse auf Lesbos, dass an diesem Morgen eine weitere Leiche an der Küste von Lesbos gefunden wurde. Am Tag bestätigten die griechischen Behörden, dass drei Männer und drei Frauen an der Burg bei der Hafenstadt Mytilini angespült worden waren. An dem gleichen Morgen, an dem das Taxi zum Flughafen fuhr. Die Ursachen des Bootunglücks blieben ungeklärt.
Die Fluchtbewegung aus der Ukraine zeigt in diesen Tagen vor allem eines: dass jede «Fluchtkrise» zuallererst eine Krise jener ist, die ihre Heimat verlassen müssen und nicht jener Länder, die Schutz gewähren können.