Nachricht | Klimagerechtigkeit - COP27 Carola Rackete im Gespräch

«Die Klimakrise ist wie die Situation an den EU-Außengrenzen ein Verbrechen, das auch Verantwortliche hat.»

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Carola Rackete wurde als Kapitänin des Rettungsschiffs Sea-Watch 3 bekannt, das Flüchtlinge auf dem Mittelmeer rettet. Ihr eigentliches Thema ist aber der Naturschutz – und die Frage, wie dieser gerecht gestaltet werden kann. In ihrem Buch Time to act, das jetzt auch auf Englisch erschienen ist, geht es daher auch nicht (nur) um Migration, sondern darum, wie dringend entschlossenes Handeln in der Klimakrise nötig ist. Ein Gespräch über die Rolle von Handlungsmacht, die Unplanbarkeit von Aufständen, und die Gemeinsamkeiten der Flüchtlings- und Klimapolitik.

Carola, vor Kurzem ist Dein Buch Handeln statt Hoffnung auf Englisch erschienen – es beginnt mit den dramatischen Tagen, als Ihr 2019 mit geretteten Flüchtlingen vor Lampedusa darauf wartet, in Italien an Land gehen zu können. Heute bist Du nicht mehr im Mittelmeer unterwegs, sondern in Norwegen und Schweden.

Die letzten Wochen haben wir in Nordschweden eine Gruppe von Sami unterstützt. Sie haben massive Probleme mit Sveaskog, der staatlichen Forstverwaltung, die Rodungen angemeldet hat – ohne dass die Sami dabei konsultiert worden sind, also die Mitspracherechte erhalten haben, die ihnen als indigene Gemeinschaften eigentlich zustehen. Schweden hat auch die ILO-Konvention 169 zu den Rechten indigener Völker nie unterschrieben. Wenn dort tatsächlich gerodet wird, wollen wir dort sein, um die Gruppe mit Aktionen zu unterstützen.

Du hast Dich nach dem Thema Migration dem Umweltschutz zugewandt?

Nein, genau umgkehrt. 2016 war die Situation auf dem Mittelmeer sehr dramatisch, ich habe eine starke Notwendigkeit gesehen, dort zu helfen, etwas zu unternehmen. Besonders da ich eben diesen Schiffsführerschein habe – es gibt nicht so viele Menschen, die diese Aufgabe übernehmen können. Aber Migration ist an sich kein Thema, in dem ich mich besonders gut auskenne oder wo ich zuvor engagiert war. Ich habe mich auch nicht wirklich als Teil dieser Bewegung gesehen. Ich habe seit 2011 in Polargebieten gearbeitet, war auf Forschungsreisen in der Arktis und im Nordpolarmeer, habe in Großbritannien Naturschutz und Schutzgebietsmanagement studiert. Mein Herzensthema war immer der Naturschutz. Und vor allem die Frage: Wie kann man Naturschutz gerecht gestalten? Wir reden heute – zum Glück – viel über Klimagerechtigkeit, über die Frage, darüber, wie Klimaschutz gerecht umgesetzt werden kann und muss. Und das ist eine Frage, die wir in Bezug auf Natur- und Artenschutz auch ganz dringend beantworten müssen.

Deshalb geht es in Deinem Buch gar nicht so viel um Migration – dafür um den Klimawandel und andere ökologische Krisen.

Wir haben das Buch 2019 geschrieben. Das war die Zeit, als Friday for Future gerade explodiert ist, Extinction Rebellion in Großbritannien groß wurde, es gab eine große Dynamik. Die Idee war, dieses Momentum zu nutzen – diese Thematik auch den Menschen nahe zu bringen, die das Buch kaufen mit der Erwartung, dass sie jetzt ein Buch lesen werden, bei dem es hauptsächlich um Migration geht. Wir wollten klar machen, dass es nicht um eine humanitäre Hilfsaktion geht, sondern um eine systemische Frage, die viel größer ist als eine einzelne Rettungsaktion im Mittelmeer. Deshalb haben wir all die anderen Themen mit aufgenommen, die mit Migration zusammenhängen: die Klimakrise, die Kritik am Wirtschaftssystem, die Notwendigkeit, sich in Bewegungen zu engagieren.

Waren die Menschen, die erwartet hatten, ein Buch über Migration zu lesen, denn überrascht, dass der Fokus auf ganz anderen Themen lag?

Am Anfang gab es auf Plattformen wie Amazon und Youtube sehr viele negative Kommentare zu dem Buch, weil Leute aus der rechten Szene alle Veröffentlichungen von mir über ihre Kanäle schicken und ihre Follower sie dann entsprechend kommentieren. Aber diese Kommentare bezogen sich auf das Thema Migration, und daran konnte man schon sehen, dass sie das Buch gar nicht gelesen hatten. Und von den Menschen, die es gelesen hatten, gab es tatsächlich viele Leute, die gesagt haben: Ich dachte, da kommt jetzt ein Buch über Migration, und dann kamen da diese ganzen Umweltthemen. Aber die fanden das gut. Es gab auch Mitstreiter*innen von Sea Watch, die zuerst skeptisch waren, weil es in dem Buch gar nicht um das Kernthema der Kampagne ging. Und die dann meinten: Ich habe richtig viel Neues gelernt, Zusammenhänge verstanden, die mir davor nicht klar waren. Die es gut fanden, dass die Rettungsaktionen damit nochmal in ein anderes Licht gerückt wurden. Das hat mich gefreut, dass der Ansatz, soziale und ökologische Themen zu verbinden, dann doch Zuspruch gefunden hat. Denn beides ist ja verknüpft, wir können das nicht getrennt voneinander bearbeiten.

Weil es bei beidem im Grunde um Machtfragen geht?

Die Debatten um Migration und die Klimakrise scheinen sich auf den ersten Blick zu unterscheiden, aber sie haben vieles gemeinsam. Die Rettung von Flüchtlingen erscheint erst einmal viel dringlicher: Wenn die Menschen in Seenot geraten und keine Hilfe kommt, ist klar, die werden sicher sterben. Was mich häufig stört in diesem öffentlichen Diskurs um die Klimakrise ist, wenn von der jungen Generation, von den europäischen Kindern gesprochen wird. Einerseits mag das Sinn machen, weil das Eltern und Großeltern anspricht, und die sich dann vielleicht mehr engagieren. Aber mich ärgert das, weil ich denke: Warum reden wir nur von den Weißen Kindern? Es sterben schon jetzt die ganze Zeit Schwarze Menschen, Kinder und Erwachsene, auf der Flucht, durch Hunger, Krieg. Und genau wie bei der Klimakrise sterben sie eben nicht durch Unfälle, aus Versehen. Sondern durch eine Politik, die die reichen Staaten, auch beeinflusst durch großen Konzerne, ganz bewusst umsetzen. Die Klimakrise ist wie die desaströse Situation an den EU-Außengrenzen ein Verbrechen, das auch Verantwortliche hat.

Die aber bisher keine Konsequenzen fürchten müssen.

Die Verträge, die die EU mit autoritären Staaten schließt, teils auch mit Milizen, sind bekannt, da fließen Millionen rein. Die Menschenrechtsverletzungen, die dort passieren, sind bekannt. Und bei der Klimakrise ist es ähnlich: Die Konsequenzen der fossilen Politik können wir sehen und erleben. Dennoch ändert sich nichts. Daran kann man sehen, wie systematisch das ist – und auch, in was für einem kolonialen System wir weiterhin leben, einem System der weißen Vorherrschaft, in dem das Leben von manchen Menschen mehr zählt als das anderer. Und in dem viele Stimmen im Diskurs immer und immer wieder ausgeblendet werden. Das lässt sich auch aktuell sehen: In Libyen haben sich in den letzten Monaten zum ersten Mal Migrant*innen organisiert, in einer Art Protestcamp vor dem Sitz dem UN-Flüchtlingshilfswerks, des UNHCR, in Tripolis. Das hat hier kaum Gehör gefunden.

Du hast auch deine Verhaftung als Beispiel genannt dafür, wie rassistisch die Berichterstattung ist.

Natürlich – eine Weiße wird verhaftet und es gibt einen Riesenskandal in den Medien. Die Debatte hatte auch positive Auswirkungen. In der Folge ist die Regierungskoalition in Italien zerbrochen, und die neue Regierung hat das umstrittene Sicherheitsgesetz zurückgenommen. Das war der Haupterfolg unserer Aktion: Nicht, dass am Ende 40 Menschen gerettet wurden, sondern dass dieses Sicherheitsgesetz gekippt wurde, und sich damit die Lebenssituation für sehr viele Migrant*innen verbessert hat. Und dass es entsprechende Gerichtsurteile gab, die klargemacht haben: Libyen ist kein sicherer Hafen, ein Schiff ist kein sicherer Aufenthaltsort, ich hätte nie verhaftet werden dürfen. Das sind bleibende Erfolge dieser Mission. Aber dennoch sprechen wir fast nie über die Menschen, die auf der Flucht verurteilt werden, die ganze Zeit. In Griechenland werden Geflüchtete zu über 100 Jahren Gefängnis verurteilt, weil behauptet wird, sie seien Schmuggler.

Weil sie etwa das Ruder eines Bootes gehalten haben.

Genau. Pro andere Person im Boot 15 Jahre Gefängnis, so kommt man auf diese absurden Urteile. Solche Fälle gibt es auch in Malta oder in Italien, und die Beschuldigten sind kaum öffentlich bekannt. Es gibt die Pushbacks in Weißrussland, Griechenland, Kroatien, die gut dokumentiert sind, von denen es Videos gibt. Das ist alles öffentlich. Aber die Menschen, die betroffen sind, werden nicht gesehen. In Libyen haben die Protestierenden auch bei den NGOs keine Unterstützung gefunden. Die Reaktion des UNHCR war es, nach über 100 Tagen einfach das Zentrum, vor dem protestiert wurde, zu schließen und an einen anderen Ort zu verlegen. Zehn Tage später gab das Ministerium für Illegale Migration, das DCIM, den Befehl, das Protestcamp zu räumen. Die Protestierenden wurden gewaltsam in ein Detention Center [Haftanstalte] gebracht.

Siehst Du das als Gefahr: Dass all das bekannt ist, und trotzdem nichts geschieht? Dass die Menschen sich daran gewöhnen?

Ich sehe es als eine große gesellschaftliche Gefahr, dass das alltäglich wird, dass die Menschen sich an das Sterben und das Leid, das hätte vermieden werden können, gewöhnen. Sie stumpfen ab. Viele Menschen sind nicht einverstanden mit dem was passiert – dass zum Beispiel Wirtschaftsinteressen den Interessen von Arbeitnehmer*innen vorangestellt werden. Dass große Konzerne während der Corona-Krise viel Geld gemacht haben, während kleine Selbstständige und Angestellte in prekäre Situationen geraten. Das Problem ist das Gefühl der Machtlosigkeit. Die Menschen haben das Gefühl, ohnehin nichts ändern zu können. Und deshalb regen sie sich nicht, selbst wenn sie eigentlich mit vielem nicht einverstanden sind. Ich glaube deshalb ist es auch falsch, den Leuten immer wieder zu sagen, wie schlimm alles ist. Die Leute wissen das eigentlich. Was sie nicht wissen ist, was sie tun können. Wie sie es ändern können.

Heißt Dein Buch deshalb «Handeln statt Hoffen» oder auf Englisch: «The time to act is now». Weil Handeln ein Ausweg aus diesem Gefühl der Machtlosigkeit ist?

Um tatsächlich etwas zu erreichen, braucht es eine breite Masse an engagierten Menschen. Das Buch richtet sich auch an die Menschen,  die wissen, dass es Probleme gibt, und die etwas tun wollen, aber nicht wissen, wie sie anfangen sollen. Es soll zeigen, wie die Lage ist, aber vor allem soll es Menschen motivieren, sich kollektiv sich für politische Veränderungen zu engagieren. Das Wichtigste, das die Menschen zurückbekommen müssten, ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Das war auch bei Fridays for Future zu beobachten: Da wurden es immer mehr Leute, es wurde viel darüber gesprochen, das war für alle, die dabei waren, unheimlich motivierend. Und es wurde schwieriger für die Bewegung, als diese Dynamik schwächer wurde, nach drei Jahren immer noch nichts wirklich passiert war.

Was sagst du Menschen, wenn fragen, was genau sie tun sollen?

Ich finde es gar nicht so wichtig, zu welchem Thema Menschen politisch aktiv sind. Eines der größten Probleme ist, dass Menschen das Gefühl von Ohnmacht haben, dass sie nicht gehört werden, nicht mitentscheiden dürfen. Alles, was hilft, dieses Machtungleichgewicht zu verringern, ist richtig, ob das nun eine Kampagne für das Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass ist, oder eine Klimainitiative. Die Leute wissen selbst, was sie persönlich am dringendsten finden. Wichtig ist, dass sie das finden, was sie bewegt, sich einer bestehenden Gruppe anschließen oder eine neue gründen, wenn es noch keine gibt. Und sich Hilfe und Unterstützung holen, wie man eine Bürgerinitiative oder eine Organisation aufbaut und strukturiert. Denn das sind Erfahrungen, die vielen Menschen fehlen.

Und daraus entsteht im besten Fall eine große Mobilisierung?

Große Mobilisierungen lassen sich nicht planen, sie entstehen oft völlig unvorhergesehen. Das hat man Anfang des Jahres in Kasachstan gesehen. Oder in Chile 2019 – da hätte auch niemand gedacht, dass der Widerstand gegen die Erhöhung der Metropreise dazu führt, dass eine neue Verfassung geschrieben und ein Sozialdemokrat zum Präsidenten gewählt wird. Wichtig ist, dass eine große Menge an Menschen eine Basispolitisierung hat, ein Grundverständnis von zivilem Ungehorsam. Damit dann, wenn durch irgendetwas eine Mobilisierung entsteht, eine Struktur da ist, Gruppen existieren, die sich zusammenschließen können.

Und inhaltlich? Was würde «handeln» angesichts der Klimakrise tatsächlich bedeuten?

Es bedeutet auf jeden Fall, das Narrativ des Ökomodernismus zu brechen: Es gibt kein grünes Wachstum. Wenn die Klimakrise in Europa mit technischen Mitteln überwunden werden soll, dann geschieht das auf Kosten ärmerer Länder anderswo. Und dann müssen wir wirkliche Alternativen benennen: Wir brauchen eine Deckelung für die Nutzung von Ressourcen, und eine stufenweise Reduktion. Eine Reduktion der Arbeitszeit – wir müssen weniger produzieren und mehr Freizeit haben. Wir brauchen ein anderes Steuersystem und finanzielle Umverteilung. Ein Ende der Militärindustrie, die nicht nur für unzählige Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen mitverantwortlich ist, sondern auch für hohe und sinnlose Emissionen. Schließlich ist es eine Frage der Eigentumsverhältnisse: Fossile Konzerne müssen wir vergesellschaften und die fossile Produktion auf Null bringen. Umfragen aus der Ölindustrie Schottlands zeigen, dass 80 Prozent der Mitarbeiter*innen dort bereit sind, auch im Bereich Erneuerbare Energien zu arbeiten, wenn die Umschulung gezahlt wird und sie vergleichbare Arbeitsbedingungen, Bezahlung und Sicherheiten haben. Arbeiter*innen werden derzeit gern als Aushängeschild genommen gegen den ökologischen Wandel. Dabei glaube ich, dass sie durchaus gut zu überzeugen sind – wenn man ihnen etwas anbietet, und der Umbau der Produktion gesellschaftlich gestaltet wird.

Das Interview führte Juliane Schumacher im Januar 2022.