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Es ist höchste Zeit, dass wir erkennen, dass das russische Volk mehr ist als sein autoritärer Präsident.

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Jeremy Morris,

Eine Frau nimmt an einer Anti-Kriegs-Demonstration in St. Petersburg teil.
Trotz der Gefahr, verhaftet zu werden, demonstrieren Menschen in Russland auf der Straße gegen den Krieg. Foto: picture alliance / AA | Sergei Mihailicenko

Es ist höchste Zeit, dass wir erkennen, dass das russische Volk mehr ist als sein autoritärer Präsident

Die Analyse der russischen Aggression und der Invasion in der Ukraine konzentriert sich verständlicherweise auf den chauvinistischen Revanchismus und die Großmachtansprüche innerhalb der russischen Elite, die offenbar von einem Großteil der russischen Gesellschaft geteilt werden. Während die konstruktivistischen und neorealistischen Ansätze der politischen und geopolitischen Wissenschaft ihre Berechtigung haben, möchte ich die Aufmerksamkeit auf ein «größeres» und gleichzeitig «kleineres» Bild lenken. Dies ist das Thema Russland, das in Europa seit 1989 fehl am Platze ist, sowie das beunruhigende Desinteresse der Europäer und der europäischen Gelehrten an den Russen selbst.

Die wesentlichen Punkte sind wie folgt: Die russische Gesellschaft ist vielfältig, die Einstellungen zum Krieg sind komplex und kaum revanchistisch oder neoimperialistisch. Außerdem zeigt die Ungläubigkeit des Westens über das «Fehlen» von Widerstand gegen den Krieg in Russland unsere eigene Unkenntnis über das Wesen des autoritären Staates. Schließlich sollten wir dem Drang widerstehen, eine Kollektivschuld zuzuweisen und eine Kollektivstrafe zu verhängen; wir sollten vulgäre soziologische Schlussfolgerungen über «schlecht informierte», ungebildete Befürworter von Putins Handeln in Russland vermeiden.

Jeremy Morris ist Wissenschaftler an der Universität Aarhus, Dänemark, und beschäftigt sich mit Arbeitsbeziehungen, politischer Wirtschaft und dem Leben in der ehemaligen Sowjetunion. Er ist der Autor von Everyday Postsocialism (Palgrave, 2016) und bloggt unter www.postsocialism.org.

Definieren, wer «Europäer» ist (und wer nicht)

Es ist verständlich, dass sich die Menschen auf den Kampf des ukrainischen Volkes gegen die Invasion konzentrieren, aber der Konflikt selbst beweist, dass «Russland die Ukraine verloren hat» (eine beliebte Phrase im russischen geopolitischen Denken), und zwar schon vor langer Zeit – 2004 oder sogar 1989, als die Sowjets zuließen, dass sich in der Ukraine eine zivil-politische Opposition, Narodyni Rukh («Volksbewegung»), bildete.

Die Ukraine ist eine europäische Nation und bald auch ein europäischer Staat. Aber das ist Russland auch. Und nur wenige sind bereit, darüber nachzudenken. Es liegt an unserer tief verwurzelten Mentalität des Kalten Krieges, dass wir es für richtig und selbstverständlich halten, dass das bevölkerungs- und flächenmäßig größte Land Europas für das «europäische Projekt» nicht relevant ist.

Ohne im Detail auf das Scheitern der Östlichen Partnerschaft mit der schrittweisen Integration einiger ehemaliger Sowjetstaaten einzugehen – die ihrerseits den (Selbst-)Ausschluss Russlands aus der Betrachtung widerspiegelt – kam es der EU gelegen, die 110 Millionen Russen (wenn wir Sibirien und den Fernen Osten ausklammern) zu ignorieren. Sie war durchaus bereit, den Zehntausenden von russischen Millionären goldene Visa auszustellen, aber die Tatsache, dass es nur vereinzelte Stipendien und bilaterale Bildungsbeziehungen gibt und dass ein Durchschnittsverdiener kaum eine Chance hat, mehr als ein zweiwöchiges Schengen-Visum zu erhalten, zeigt, wie gering das Engagement ist – nämlich vernachlässigbar.

Was war eine der ersten Reaktionen der Tschechen auf die russische Invasion? Ein Vorschlag zur kollektiven Bestrafung, der vorsieht, russischen Bürgern den Zugang zum Schengen-Raum zu verwehren. Ebenso gibt es viele meiner Kollegen, die sich in Europa wohlfühlen und Briefe schreiben und unterschreiben, in denen sie die intellektuellen Gemeinschaften auffordern, die Russen vollständig auszuschließen.

Natürlich war auch die russische Führung bisher sehr zufrieden mit der Situation – Putin konnte seine Residenz in Spanien besuchen, seine Ideologen und deren Kinder hatten feste Wohnsitze in Italien und im Vereinigten Königreich. Ganze politische Gruppierungen in europäischen Ländern sind nun durch ihre Bereitschaft, Geld für die Beschönigung der russischen Autokratie zu nehmen, befleckt. Der stillschweigende Konsens darüber, dass das korrupte russische Kapital Geld in den Westen leitet, ist eine Form der Duldung, die den meisten Russen nicht entgangen ist, deren nationaler Reichtum seit mehr als einer Generation gestohlen wird.

Vielleicht ist dies das eigentliche Ressentiment, über das wir sprechen sollten: Diese «anderen» Russen, und nicht die englischsprachige Intelligenz und die smarten Neureichen, blieben (zusammen mit den Serben) die letzten Nicht-Europäer, die es nicht wert waren, erwähnt oder berücksichtigt zu werden. Aber sie waren es, die unser Öl und Gas förderten und Metalle ausgruben. Es gibt kein bilaterales Instrument zwischen der EU und Russland, das die Beziehungen nicht durch die Linse des Handels oder der Wirtschaft betrachtet, ganz im Gegensatz zum Konzept der «Freiheiten» innerhalb des Blocks, die zumindest teilweise sozial und auf die Menschen bezogen sind.

Russischen Widerstand anerkennen

Boris Jelzin kam unter anderem an die Macht, indem er die Gelegenheit nutzte, die sich ihm durch die historische Verleugnung der Russen als politische Subjekte, als Nationalstaat, bot. Und wieder einmal waren wir als Europäer sehr froh, ihn zu unterstützen, selbst als er sich abrupt umdrehte und den autoritären revanchistischen Staat schuf, den wir heute sehen. Wie Wjatscheslaw Morosow feststellt, wird verschiedenen Völkern, darunter auch ethnischen Russen, trotz der Gründung der Russischen Föderation weiterhin jegliche politische Subjektivität in einem «subalternen Reich» verwehrt.

Russland befindet sich im Niemandsland zwischen dem «zivilisierten» Zentrum und der orientalisierten Peripherie. Es wird doppelt unterdrückt, sowohl im Inland als auch im Ausland. Aber seine Bewohner*innen werden ein drittes Mal zum Opfer, wenn wir unsere aus der Theorie der sozialen Bewegungen abgeleiteten liberalen Phantasien über die Möglichkeiten eines «guten» Regimewechsels projizieren. Dann züchtigen und verurteilen wir diejenigen, die nicht bereit sind, sich in symbolischer Tugendhaftigkeit zu zerstören. Für uns ist es nur ein Klick auf eine Maus. Für sie bedeutet es den Verlust ihrer Arbeitsplätze, ihrer Ausbildung, ihrer Staatsbürgerschaft, ihres Lebens.

Auch Russland selbst, dessen enorme zentrifugale und zentripetale Energien mit ohrenbetäubender Stille aneinander reiben, wird durch unsere Konzentration auf die Elitenpolitik zum Schweigen gebracht. In der europäischen Vorstellung steht Russland im Wesentlichen für einen «Mangel», der unserer eigenen Fülle gegenübergestellt wird. Wir verfügen angeblich über eine Zivilgesellschaft, eine deliberative öffentliche Sphäre, demokratische Institutionen und Traditionen. In Russland gibt es angeblich nichts von alledem, aber während ich schreibe, wurden über 8.000 Menschen verhaftet, weil sie offen gegen den Krieg in der Ukraine protestiert haben – eine Handlung, die inzwischen dem «Hochverrat» gleichkommt. Dennoch organisieren informelle NROs soziale Solidarität und Rechtshilfe für politische Gefangene.

Ich möchte betonen, dass das Alltagsleben in Russland mit einer breiten Opposition gegen das Regime und die politischen Eliten unvereinbar ist, weil die Räume für die Bildung von Solidarität, die dazu beitragen würden, dass ein solcher Widerstand effektiv wachsen und sich halten kann, geschlossen sind. Die Menschen in der Ukraine und in anderen osteuropäischen Ländern, die Opfer russischer und sowjetischer historischer Verbrechen waren, wiederholen jetzt Reden, die ich schon so oft gehört habe: Sie werfen den Menschen in Russland mangelndes sichtbares Handeln vor und machen sie als Mitschuldige verantwortlich. Das sind auch für antirassistische Wissenschaftler*innen altbekannte Argumente. Menschen, die unterdrückt werden, werden beschuldigt und bestraft. Wie soll das Solidarität schaffen? Wir wissen, dass es das nicht tut.

Überall, auch in der Ukraine, versuchen Russ*innen durch alltägliche präfigurative Taktiken, zu politischen Subjekten zu werden. Ein Tankwagenfahrer, der auf einer winterlichen Straße außerhalb von Charkiw seinen Treibstoff ablässt, tut dies nicht nur aus Eigennutz, sondern weil er den Anspruch erhebt, anders zu denken als die Kräfte, die uns kontrollieren. Jacques Rancière nennt dies «Politik als Prozess der Subjektivierung».

Viele russische Soldaten wurden gewaltsam zum Dienst gezwungen oder mit Tricks dazu gebracht. In Russland selbst leben die Russen in einem autarken Sicherheitsstaat, in dem sich der Lebensstandard seit Putins Annexion der Krim im Jahr 2014 merklich verschlechtert hat. David Harvey, der für Focaal schreibt, konzentriert sich auf die wirtschaftliche und moralische Demütigung des russischen Volkes in den 1990er Jahren und seinen Ausschluss aus internationalen Institutionen zu den unmöglichsten Bedingungen. Tony Wood weist in seiner Antwort darauf hin, dass es gefährlich ist, aus der Demütigung eine Psychologisierung zu machen, da dies als Rechtfertigung für die russische Aggression missverstanden werden kann.

Mit meiner ethnografischen Arbeit in Russland versuche ich, die vielfältigen Kräfte der Handlungsfähigkeit, der Weltgestaltung und des kritischen politischen Denkens unter den «einfachen» Menschen herauszustellen. Dies zeigt sich jetzt in der weit verbreiteten Abscheu Russlands gegenüber seiner kriegstreiberischen Elite und in den großen Protesten gegen den Krieg. Die «soziale» Frage ist jedoch komplizierter: Wir haben eine demoralisierte und wirtschaftlich erschöpfte Bevölkerung, deren Gedanken hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern, während eine raffgierige Elite sie fast in Knechtschaft hält. Der «kleine Modus» des Widerstands und der subtraktiven Aktion ist wahrscheinlich das Einzige, worauf wir im Moment hoffen können, auch wenn die politische Bildung der prekär Beschäftigten Früchte trägt. Wir sollten uns davor hüten, an eine Massenmobilisierung im Russland des Jahres 2022 zu denken.

Aufbau von Solidarität jenseits der Nationalität

Sowohl für die Ukraine als auch für Russland besteht die Herausforderung darin, wie man gemeinsam gegen denselben Aggressor vorgeht. Bislang erteilen die Ukrainer*innen eine Lektion in Sachen Solidarität, aber auch in Sachen Widerstand. Es bleibt das Problem unserer bedingten und instrumentellen Anerkennung des Europäertums. Wir brauchen eine präfigurative Politik, die unabhängig von der Nationalität gemeinsame Prinzipien und Ideale anerkennt und verkörpert. Wir brauchen Gegeninstitutionen, Anti-Hierarchien und verkörperte internationale Solidarität – und hier kommen wir wieder auf das Beste von Rosa Luxemburgs Arbeit zurück, deren ethische Position den universellen Wert aller Menschen in einer Ära der von Eliten eroberten Staaten und der globalen Ungleichheit proklamierte.

Bereits jetzt wird die angebliche «zivilisatorische» Untauglichkeit Russlands und der Russ*innen wie verrückt hervorgehoben. Plötzlich kanalisieren eine Reihe von Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und «Denker*innen», die sich bis letzte Woche einen Dreck um die Ukrainer*innen oder Russ*innen geschert haben, Thanatos und befürworten den Dritten Weltkrieg. Es ist zum Teil der Arroganz geschuldet, mit der wir entschieden haben, wer Europäer*in ist und wie sie nach unserem Geschmack europäisch zu sein haben. Die Annahme, dass Diktatur Zustimmung, erzwungene Akzeptanz oder das Stockholm-Syndrom bedeutet, ist eine oberflächliche Art und Weise, die Auseinandersetzung mit der Situation unserer europäischen Mitbürger*innen in Russland zu vermeiden, einem höchst inkohärenten Staat, der die Mehrheit im Stich gelassen hat.

Die Ukrainer*innen sind keine «Superhelden», die für die Zivilisation gegen die Barbarei kämpfen, sie kämpfen für Selbstbestimmung gegen einen revanchistischen Aggressor, einen autoritären Staat. Sie könnten diesen Kampf noch verlieren, oder ihr Kampf könnte in einem globalen Konflikt untergehen. Die Mehrheit der Russ*innen sind weder passive Dummköpfe noch nostalgische Chauvinist*innen.

Der soziologische «Fehler» hier ist vergleichbar mit dem, der bei der Einschätzung der Klassenidentität von Trump-Anhängern im Jahr 2016 gemacht wurde. Die lautstärksten Befürworter des Neo-Imperialismus sind mit großer Wahrscheinlichkeit «kosmopolitische» oder materiell wohlhabende Russ*innen und andere. Zu Hause sind sie auch «Sozialrassist*innen»: Sie bezeichnen ihre Landsleute als «Vieh» und «Wattebäuschchen».

Was in dem Bild fehlt, ist die Position der großen Mehrheit der verelendeten Menschen, die im schlimmsten Fall «moralisch gleichgültig» gegenüber dem Geschehen sind – so wie die meisten von uns gegenüber den vielen Konflikten, für die westliche Staaten verantwortlich sind. Vor allem aber sind sie prinzipiell gegen den Krieg. Mit ihren Makeln und ihrem Wunsch nach einem besseren Leben unterscheiden sich die Russ*innen kaum von den noch nicht postkolonialen Völkern Frankreichs und Englands und haben mehr mit den Bürger*innen der Vereinigten Staaten gemeinsam, als beide Nationen zugeben wollen.