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Lehrer*innen im Iran: die Spitze der neuen Arbeiter*innenbewegung

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Hamid Mohseni,

Im vorderen Bildbereich stehen vielen Frauen mit Kopftüchern, im hinteren Bildbereich viele Männer. Einige halten Schilder hoch. Alle Menschen tragen Corona-Schutzmasken.
Protestkundgebung von Lehrer*innen in der westiranischen Stadt Sanadaj Ende Dezember 2021. Shahrokh Zamani Action Campaign

Im Iran entfaltet sich eine neue Arbeiter*innenbewegung. Ihre Spitze bilden Lehrer*innen – nicht nur aufgrund ihres hohen Organisationsgrads und ihrer Streikbereitschaft, sondern auch aufgrund der hohen Bedeutung von Bildung in der Islamischen Republik Iran (IRI).

Was Protest, Streik und Aufstand angeht, waren die letzten fünf Jahre hoch intensiv für den Iran. Kein Wunder, denn der Iran erlebt eine neue Epoche der Armut. Der konstant steigenden Inflation (knapp 40 Prozent 2021, 27,5 Prozent prognostiziert für 2022) kann nicht einmal im Ansatz mit einer adäquaten Reallohnsteigerung begegnet werden. So leben unabhängigen Schätzungen zufolge über 50 Prozent der Iraner*innen unter der Armutsgrenze von 200 US-Dollar im Monat. Diese Epoche der Armut läutete eine neue Ära der Aufstände ein. Erstmals wendeten sich diese explizit gegen alle politischen Fraktionen der IRI und geben sich dezidiert anti-systemisch und revolutionär. Konkrete Auslöser dieser immer wieder auftretenden Eruptionen sind die Klassiker der Sozialproteste: erhöhte Lebensmittelpreise, hohe Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne, steigende Schikanen durch den Staat, Rufe nach Freiheit und Würde. Die Lebensumstände sind so erdrückend, dass die Angst vor hohen Haftstrafen oder davor, bei Protesten ums Leben zu kommen, die Menschen nicht mehr zu Hause hält.

Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er studierte Germanistik und Philosophie und ist freier Autor. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste im Iran kritisch begleiten.

In dieser Atmosphäre hat sich eine unabhängige und selbstorganisierte Arbeiter*innenbewegung herauskristallisiert, und sie ist in der Form aus zwei Gründen notwendig: Erstens ist Selbstorganisierung die einzige Möglichkeit, sich überhaupt zusammenzuschließen und effektiv für die eigenen Interessen einzustehen. Im Zuge der neuen Protestwelle wurde nicht nur erkannt, dass die verschiedenen politischen Lager eine demokratische Scheinveranstaltung sind, sondern auch das Gewerkschaftssystem; der Dachverband «Kammer der Arbeit» ist trotz Volksvertreter-Anspruch staats- und arbeitgebernah und zieht Korporatismus gegenüber Konfrontation vor. Zweitens ist die neue Arbeiter*innenbewegung notwendig, weil sie von innen konkreten Druck auf die krisengebeutelte IRI ausüben und wirtschaftlichen Schaden anrichten kann. Historisch gesehen sind die Öl-Arbeiter*innen für die wichtigste Einnahmequelle verantwortlich, sie verpassten schon 1979 mit ihrem berühmten Streik dem scheidenden Schah einen empfindlichen Schlag. Seitdem ist dieser Sektor aus gutem Grund sehr gut bezahlt1. Doch derzeit führt eine andere Berufsgruppe die neue Arbeiter*innenbewegung an, und ihr Druckmittel ist nicht in erster Linie der direkte ökonomische Schaden, sondern die Kontrolle über einen ideologischen Pfeiler der Selbstlegitimierung der IRI: Es geht um die Lehrer*innen und das Bildungssystem.

Seit 2018 protestieren sowohl aktuell beschäftigte wie auch pensionierte Lehrer*innen kontinuierlich. Organisiert werden sie von der unabhängigen Lehrer*innengewerkschaft ITTA, die sich über die Zeit von einem losen Netzwerk regionaler Verbände zum zentralen Akteur entwickelt hat. Sie fordert dabei in erster Linie ein höheres Gehalt bzw. höhere Renten sowie Nach- und Kompensationszahlungen – Lehrende verdienen im Schnitt umgerechnet 160 US-Dollar und befinden sich damit unter der Armutsgrenze. Eine zentrale Forderung ist auch die Freiheit von inhaftierten Kolleg*innen und jenen, die mit Betätigungsverboten belegt wurden. Ein weiteres Thema ist die Einhaltung des in der Verfassung verbrieften «Rechts auf freie Bildung», welches nicht nur kostenlosen Zugang zu Bildung sichern soll, sondern auch eine dementsprechende Infrastruktur: Laut der staatlichen Organisation für Entwicklung, Renovierung und Ausstattung entsprechen 30 Prozent bzw. über 100.000 der Schulen nicht den Sicherheitsstandards (z.B. Erdbeben-Schutz). Trotz der durch die IRI immer wieder attestierten hohen Priorität für das Schulwesen geben die Ayatollahs nur 9 Prozent des Gesamtbudgets für Bildung aus – der internationale Standard liegt bei 14 Prozent.

Längst hat sich diese Bewegung trotz oder gerade wegen der heftigen Repressalien und der dadurch ausgelösten Solidaritätseffekte zu einer landesweiten entwickelt, was im Vielvölkerstaat Iran von nicht zu unterschätzender Bedeutung2 ist. Die letzte Streikwelle Ende Januar dieses Jahres erfasste über 50 Städte, insgesamt sind schon 300 Orte involviert. Die Lehrer*innen sind sich dabei ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst. Im Rahmen der Streiks im November 2021 sprachen sie von «einer Bevölkerung von 13 Millionen Schülern, einer Million Lehrer*innen und ihren Familien und der [hohen] Bedeutung des Bildungssystems für die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Infrastruktur des Landes». Das ist etwas, was die Machthaber der IRI beunruhigt, denn das Wertefundament der IRI soll durch eine «kulturelle Revolution» abgesichert werden. Diese beinhaltet nicht nur die Verschleierung der Frau, eine starke Zensur von Musik, Literatur und Film sowie eine Anweisung zu einem «frommen» Lebensstil, sondern auch die «Islamisierung» der Bildung: Islamlehre wird zum Querschnittsthema erhoben, Schulbücher sind dementsprechend angepasst, Jungen und Mädchen werden voneinander getrennt, religiöse Zeremonien sind Alltag, Freiräume an Universitäten quasi Geschichte. So soll die Bevölkerung ideologisch auf Linie gehalten werden. Doch wenn die Lehrer*innen nun seit Jahren sprichwörtlich auf die Barrikaden gehen und ohnehin eine Aufstandsbewegung tobt, die die Legitimität der IRI in Frage stellt, ist das ein Dorn im Auge der Machthabenden.

Hinzu kommt, dass die Lehrer*innen eine hohe Strahlkraft genießen und viel Solidarität von anderen Arbeiter*innen erhalten. Der Protestrat der Ölarbeiter*innen erklärte in einem Statement: «Die Lehrerinnen und Lehrer im ganzen Land vertreten unsere Stimme, die Stimme der Arbeiterklasse und die ihrer Kinder.» Der Stahlarbeiter*innenverband geht sogar noch weiter und fordert, dass «alle Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen den Lehrer*innenstreik unterstützen und beitreten sollen». Umgekehrt solidarisieren sich die Lehrer*innen mit anderen Protesten und schaffen so viele Synergien. Die IRI muss sich gut überlegen, wie sie mit dieser vielköpfigen Hydra umgeht, denn je mehr Köpfe sie abschlägt, desto mehr wachsen nach.


1Das bedeutet nicht, dass nicht trotzdem gestreikt wird. Zuletzt fand eine Arbeitsniederlegung 2021 statt: theecologist.org/2021/jul/16/iran-oil-workers-strike.

2Zum Vergleich: ein Grund des Scheiterns der reformorientierten «Grünen Bewegung» 2009 lag auch darin, dass die vielen ethnischen und religiösen Minderheiten an den Rändern des Landes nicht erreicht wurden.