Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine «Den Krieg zu beenden hat absolute Priorität»

Der ukrainische Soziologe Volodymyr Ishchenko über die Zukunft seines Landes und die Verantwortung der Linken.

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Bewohner verlassen das schwer beschädigte Wohnhaus, das von einer russischen Granate getroffen wurde (Kiew, Ukraine, 14. März 2022). Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | SOPA Images

Die anhaltende russische Invasion der Ukraine hat das Land und selbst die gesamte seit 1989 bestehende Ordnung ins Chaos gestürzt. Während russische Panzer und Geschütze weiterhin ukrainische Städte angreifen und auf einen überraschend starken ukrainischen Widerstand stoßen, wird unter den europäischen Eliten ein Gefühl der Einheit und Zielstrebigkeit wiederentdeckt. Viele ehemalige Unterstützer*innen Putins aus der EU haben sich gegen ihn gewandt, während Politiker*innen aus dem gesamten politischen Spektrum sich in Gesten materieller wie symbolischer Solidarität mit der Ukraine zusammenschließen. Gleichzeitig zeichnen sich in der Linken neue Spaltungen ab. Obwohl die Stimmen, die die russische Invasion aktiv unterstützen, nach wie vor nur eine kleine Minderheit darstellen, haben Stimmen aus Osteuropa und anderen Ländern der westlichen Linken vorgeworfen, Putins imperiale Ambitionen zu unterschätzen und die Bedrohung, die er für die Ukraine und andere osteuropäische Nachbarn darstellt, herunterzuspielen – eine Bedrohung, die mittlerweile nur allzu real geworden ist.

Volodymyr Ishchenko ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Arbeiten sind in einer Reihe prominenter Publikationen erschienen, darunter The Guardian, Jacobin, New Left Review und LeftEast.

Der Artikel schien zuerst bei Novosti.

Unabhängig davon, ob der Krieg mit einer vollständigen russischen Besetzung, einem Sieg der Ukraine oder einer Verhandlungslösung endet, werden seine Auswirkungen in beiden Ländern – und in der ganzen Welt – noch jahrelang spürbar sein. Was wird der Krieg für die Zukunft der Ukraine bedeuten? Wie wird er sich auf die Linke in Ost- und Westeuropa auswirken? Um Antworten auf diese und andere Fragen zu erhalten, sprach Jerko Bakotin von der kroatischen Wochenzeitung Novosti mit Volodymyr Ishchenko, einem linken Intellektuellen aus der Ukraine, der inzwischen am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin arbeitet.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Expert*innen überrascht. Viele waren der Meinung, dass es nicht dazu kommen würde, da es den Interessen Russlands sehr schaden würde. Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

Es gab zahlreiche Gründe für die Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines Angriffs, vor allem wegen der enormen militärischen, wirtschaftlichen, politischen und geopolitischen Risiken, die mit diesem Schritt verbunden waren. Es besteht die Möglichkeit, dass Moskau die ukrainische Armee unterschätzt hat und dass es bei der Planung der Militäroperation zu Fehlern gekommen ist. Einige Soldaten glaubten, sie würden zu einem Manöver in Weißrussland entsandt und erhielten erst kurz vor Beginn des Angriffs Befehle.

Obwohl Frankreich und Deutschland vor der Invasion eine etwas andere Politik verfolgten als die Vereinigten Staaten, verhängt die Europäische Union jetzt strengere Sanktionen als die USA. Der Einmarsch wird die Stellung Russlands in der Welt und die innenpolitische Lage stark beeinflussen. Wladimir Putin hat alles riskiert, so dass eine Niederlage in der Ukraine ihn wahrscheinlich seine Machtposition kosten würde, was höchstwahrscheinlich mit einem Putsch innerhalb der bestehenden Elite und vielleicht sogar mit seinem Tod enden würde. Auch eine Revolution ist nicht auszuschließen, wenngleich die Chancen dafür geringer sind.

Aufgrund all dieser Risiken glaubten viele Sozialwissenschaftler*innen und Expert*innen für internationale Beziehungen, dass Putin zwar die Ukraine und die NATO einschüchtern wollte, es aber nicht zu einem Angriff kommen würde.

Es gibt verschiedene Theorien über Putins Motive. Manche zweifeln an seiner geistigen Gesundheit, ansonsten ist die Rede von imperialistischem Messianismus, von der Bedrohung Russlands durch die NATO oder von der Theorie, dass die demokratische Ukraine die Autokratie in Russland bedroht. Was meinen Sie dazu?

Ich habe noch keine überzeugende Interpretation gesehen. Die These, Putin sei verrückt geworden, ist nicht haltbar, denn er zeigt in meinen Augen keine Anzeichen von Geisteskrankheit. Was die Erklärung angeht, dass er sich in einen ideologischen Fanatiker mit einer messianischen Mission zum Wiederaufbau des russischen Reiches verwandelt hat, muss man sagen, dass in der postsowjetischen Politik Führer*innen mit aufrichtigen ideologischen Überzeugungen sehr, sehr untypisch sind. Alle postsowjetischen Führer*innen waren zynische Pragmatiker, die kleptokratische Regime aufbauten, ohne jegliche ideologische Vision. Selbst wenn es stimmt, dass Putin ein ideologischer Fanatiker geworden ist, bleibt es ein großes Rätsel, wie es dazu gekommen ist. Es bedarf also weiterer Erklärungen.

Putin hat doch aber in seinem Essay «Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern» im vergangenen Jahr und erst recht in seiner Rede zur Ankündigung des Krieges, in der er von «Entnazifizierung» sprach, klare imperialistische und chauvinistische Gründe genannt. Er leugnet das Recht der Ukraine auf unabhängige Staatlichkeit und sprach letzte Woche von der Möglichkeit, dass die Ukraine verschwinden könnte. Die ideologischen Motive scheinen doch also sehr klar zu sein?

Es stellt sich die Frage, ob es sich dabei nicht einfach um Rhetorik handelt, die andere Beweggründe legitimieren soll. Heute interpretieren viele Putins Aufsatz auf die von Ihnen beschriebene Weise. In diesem Text wird jedoch nicht die ukrainische Unabhängigkeit geleugnet, sondern eine bestimmte Form der ukrainischen Identität, die nicht die einzig mögliche ist. Putin argumentiert gegen eine auf einer antirussischen Identität begründete Ukraine. In seiner Vision könnten die Ukraine und Russland durchaus als zwei Staaten existieren, allerdings für «ein und dasselbe Volk».

Hier greift Putin auf eine Interpretation aus der Zeit des Russischen Reiches zurück, als Russ*innen, Weißruss*innen und Ukrainer*innen als drei Zweige desselben Volkes betrachtet wurden. Dieses Konzept wurde während der Sowjetunion unterdrückt. Damals lautete die offizielle Position, dass es sich um drei verschiedene Völker mit jeweils eigenen Sprachen handele, wenngleich um «brüderliche Völker» gemeinsamen Ursprungs.

Viele Ukrainer*innen empfinden solche Interpretationen als Verneinung ihrer Existenz, weil sie ihre Identität in Opposition zu Russland aufgebaut haben, das für sie ein «großer Anderer» ist. Für viele andere, insbesondere für diejenigen, die in der UdSSR sozialisiert wurden, sind die Ukrainer*innen nicht unbedingt Gegenspieler der Russ*innen. Selbst nach dem Euromaidan und dem Ausbruch des Krieges in der Donbass-Region hielten die meisten Ukrainer*innen die Russ*innen für ein «brüderliches Volk», und für 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung war es normal, sich als Ukrainer*in und als Russ*in zugleich zu fühlen. Der aktuelle Krieg könnte jedoch solchen zweideutigen Identitäten ein Ende setzen.

In einem in LeftEast veröffentlichten Artikel haben Sie argumentiert, dass die Vorstellung, die Ukrainer würden sich gegen die russische Invasion heftig wehren, übertrieben sei. Aber ist es nicht genau das, was jetzt passiert?

Ich sprach in dem Artikel von einer Situation, in der Russland die ukrainische Armee vernichtet und einen großen Teil des Territoriums besetzt, was bisher nicht geschehen ist. Der Widerstand ist vielleicht stärker als von Russland erwartet, aber die Dinge würden wahrscheinlich anders liegen, wenn Kiew innerhalb von 96 Stunden besetzt worden wäre, wie vom Pentagon vorausgesagt. Viele Ukrainer*innen schließen sich der Territorialen Verteidigung und dem Militär an, aber etwa zwei Millionen Menschen sind geflohen; nach einigen Schätzungen könnten es sogar bis zu zehn Millionen Flüchtlinge sein.

Gleichzeitig spielt sich in besetzten Städten wie Cherson oder Melitopol das von mir beschriebene Szenario ab: Es gibt erhebliche pro-ukrainische Proteste, aber keinen starken bewaffneten Widerstand. Wenn Russland einen großen Teil des ukrainischen Territoriums besetzt, wird sich die Mehrheit der Bevölkerung wahrscheinlich zunächst passiv verhalten. Der bewaffnete Widerstand wird nicht stark genug sein, um die Besatzung zu stürzen, doch er wird bedeutend genug sein, um Moskau zur Errichtung eines sehr repressiven Regimes in den besetzten Gebieten zu veranlassaen. Das Ergebnis wäre ein stärkerer unbewaffneter Widerstand, der eine Quelle ständiger Instabilität nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland wäre.

Der Westen hat entschlossen reagiert, mit einer Strategie, die auf harten Sanktionen gegen Moskau und der Lieferung von Waffen an Kiew beruht. Die Zerstörung der russischen Wirtschaft und die Stärkung des ukrainischen Widerstands haben das gleiche Ziel: Moskau soll gezwungen werden, den Angriff einzustellen. Wie beurteilen Sie diese Reaktion und was halten Sie von der Forderung, die NATO solle eine Flugverbotszone einrichten?

Ich fürchte, wenn Sanktionen und Waffenlieferungen die vorherrschende Reaktion bleiben, bedeutet das, dass der Westen tatsächlich ein Interesse an diesem Krieg hat. Putin kann es sich nicht leisten zu verlieren, also wird er den Krieg so lange wie möglich führen. Das wird eine große Zahl von Toten und die völlige Zerstörung ukrainischer Städte bedeuten. So wie sie Grosny in Tschetschenien zerstört hat, könnte die russische Armee Kiew und Charkiw zerstören. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, könnte Putin mit Atomwaffen drohen.

Ich denke, die NATO-Eliten wissen, dass die Flugverbotszone über der Ukraine einen Krieg zwischen der NATO und Russland bedeuten würde. Ich glaube nicht, dass wir das Risiko einer nuklearen Apokalypse eingehen dürfen.

Die Beendigung des Krieges hat absolute Priorität. Das könnte möglich sein, indem man der Ukraine sofort eine klare Perspektive für einen EU-Beitritt gibt, zumindest einen konkreten Beitrittsplan. Gleichzeitig könnte eine Vereinbarung über die militärische Neutralität der Ukraine getroffen werden. Jetzt wäre es einfacher, denn Präsident Volodymyr Zelensky und der Rest der politischen Elite sind enttäuscht, dass die NATO der Ukraine nicht helfen und auch keine Flugverbotszone einrichten will.

Zelensky muss gezwungen werden, in Bezug auf die Krim und den Donbas schmerzhafte Kompromisse einzugehen. Doch im Falle einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine könnte Zelensky das Abkommen mit Russland als Sieg darstellen und behaupten, die Ukrainer hätten das erreicht, wofür sie seit der Revolution auf dem Maidan-Platz gekämpft haben. Gleichzeitig könnte Putin behaupten, er sei nicht besiegt worden, sondern die Invasion habe ihre Ziele erreicht. Die EU und die USA sollten etwas derartiges aushandeln, wenn sie den Verlust von ukrainischen Menschenleben und die Zerstörung der Wirtschaft verhindern wollen.

Was meinen Sie damit, dass der Westen an diesem Krieg ein Interesse haben könnte?

Einige Kommentator*innen äußern enthusiastisch, der lang anhaltende Widerstand in der Ukraine werde Russland auf ähnliche Weise erschöpfen wie der Krieg in Afghanistan, der zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen hat. Der Afghanistan-Krieg hat der UdSSR in der Tat großen Schaden zugefügt, doch für das afghanische Volk war er ein Desaster. Afghanistan wurde jahrzehntelang verwüstet und in einen gescheiterten Staat verwandelt, in dem schließlich eine extremistische Bewegung die Macht übernehmen konnte.

Wenn der Westen mit einer solchen Zukunft für die Ukraine zufrieden ist, bedeutet das, dass er diesen Krieg gebraucht hat. Die derzeitige Haltung des Westens ist nur dann gerechtfertigt, wenn Russland wirklich so zerbrechlich ist, dass es in naher Zukunft zusammenbrechen wird. Wenn sich die Invasion jedoch über Monate oder sogar Jahre hinzieht, macht sich der Westen mitschuldig an der Verlängerung des Krieges.

Die Ukraine ist also nicht nur ein Opfer Russlands, sondern auch der geopolitischen Spiele des Westens?

Die amerikanischen und britischen Geheimdienste haben die Invasion seit Monaten vorausgesagt. Wenn London und Washington sich der Invasion so sicher waren, warum haben sie sie nicht verhindert, warum haben sie nicht aktiver mit Putin verhandelt? Sicherlich ist Putin der Hauptverantwortliche für den Krieg. Aber der Westen wusste von der Invasion und hat nicht genug getan, um sie zu verhindern.

Der Westen nährte die Hoffnung der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft, obwohl klar war, dass er die Ukraine nicht verteidigen würde. Sind die Ukrainer*innen in diesem Sinne getäuscht worden?

Die Ukraine hat nie einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft erhalten, sondern nur die theoretische Möglichkeit, irgendwann in der Zukunft beizutreten. Trotz der Versprechungen bezüglich der Mitgliedschaft hatte die NATO nie den Wunsch, für die Ukraine zu kämpfen. Jetzt sterben die Ukrainer*innen. Die Versprechungen waren der Ukraine gegenüber zumindest äußerst unverantwortlich.

Im  Jahr 2019, unter Präsident Petro Poroschenko, wurde das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft in die ukrainische Verfassung aufgenommen. Wie ist die NATO zu einem zentralen Thema der ukrainischen Politik geworden?

Die Politiker*innen haben sich nie dafür interessiert, was die Ukrainer*innen wirklich über die NATO denken. Der Antrag auf Mitgliedschaft wurde 2004, nach der Orangenen Revolution, von Präsident Viktor Juschtschenko gestellt. Er wurde von George W. Bush unterstützt, und 2008 wurde auf dem Bukarester Gipfel beschlossen, dass Georgien und die Ukraine dem Bündnis beitreten würden.

Damals sprachen sich etwa 20 Prozent der Ukrainer für einen NATO-Beitritt aus. Nach dem Euromaidan, der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Krieges im Donbass begannen führende Teile der Bevölkerung, die NATO als Schutz vor Russland zu betrachten. Gleichzeitig wurden auf der Krim und im Donbass, den am stärksten pro-russischen Landesteilen, keine Umfragen mehr durchgeführt. Letztes Jahr lag die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft dank der Angst vor dem Einmarsch der russischen Truppen bei über 50 Prozent. Die gegenwärtige Invasion hat die Einstellung sogar in den pro-russischen südlichen und östlichen Teilen des Landes verändert. Zugleich wächst die Enttäuschung über die NATO.

Zu den möglichen Ergebnissen des Krieges gehören die Teilung des Landes (Einführung eines repressiven prorussischen Regimes im Osten, während der Westen zu einer nationalistischen NATO-Außenbasis wird), die russische Besetzung der gesamten Ukraine und die vollständige Niederlage Russlands. Könnte eine multinationale, multiethnische Ukraine überleben?

Sie haben ein glaubhaftes Szenario für den Fall einer Teilung des Landes beschrieben, doch es hängt alles vom Verlauf des Krieges ab. Eine Niederlage Putins würde wahrscheinlich eine Destabilisierung und den Zusammenbruch des herrschenden russischen Regimes bedeuten, was die Ukraine ausnutzen würde. Sie könnte vielleicht sogar den Donbass und die Krim zurückerobern.

Infolge des Angriffs und der Zerstörung ist der Hass auf die Russen groß. Ich befürchte, dass die russische Sprache in der Öffentlichkeit noch stärker unterdrückt wird, als es nach den von Poroschenko verabschiedeten Gesetzen der Fall war. Das multikulturelle Land, in dem ich geboren wurde, ist wahrscheinlich für immer verloren. Es ist möglich, dass es eines Tages zur Versöhnung kommen wird. Immerhin arbeiten Polen und Frankreich innerhalb der EU eng mit Deutschland zusammen, obwohl Deutschland im Zweiten Weltkrieg ganz Europa großes Leid zugefügt hat. Doch eine solche Entwicklung hätte sehr ernsthafte politische Veränderungen in Russland zur Voraussetzung.

Bereits vor Kriegsbeginn schrieben Sie, dass eine Invasion der Ukraine Russland destabilisieren könnte. Welche Folgen werden der Krieg und die Sanktionen für Putins Regime haben?

Wenn sich das Regime auf die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen einstellen will, sind radikale Veränderungen der sozialen und politischen Ordnung erforderlich. Der russische Staat funktioniert derzeit nach dem Prinzip eines kleptokratischen Klientelkapitalismus, an dem sich eine kleine Elite bereichert. Es wird jedoch nicht möglich sein, das prorussische Regime in Teilen der Ukraine einzig durch Repression aufrechtzuerhalten. Der Widerstand der Ukrainer*innen könnte auch der Opposition in Belarus und Russland Aufwind verleihen, ja selbst der in Kasachstan und der gesamten russischen Interessensphäre – vor allem, wenn weiterhin russische Soldaten sterben.

Da die Instabilität nicht durch eine orthodoxe neoliberale Politik gemildert werden kann, hat der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spekuliert, ob das Regime versuchen wird, eine Art neokeynesianische Politik zu betreiben, um das Leben der Bürger*innen zu verbessern und sich auf diesem Weg ihre Unterstützung zu erkaufen. Nach beiden Weltkriegen kam es zu einer erheblichen Ausweitung der Arbeitnehmer*innenrechte, um Aufstände jener Massen zu verhindern, die im Krieg große Opfer gebracht hatten.

Russlands Neuausrichtung auf nicht-westliche Länder wird ebenfalls ein Problem darstellen. Moskau ist weniger isoliert, als es im Westen den Anschein hat. Abgesehen von der Abhängigkeit Russlands von dem stärker entwickelten Land China wird eine solche Neuorientierung nicht leicht mit der europäischen Identität von Russ*innen, Weißruss*innen und Ukrainer*innen zu vereinbaren sein. Russland wird auch ein weitaus kohärenteres ideologisches Projekt benötigen, das der Bevölkerung den Sinn all dieses Leids erklärt. Die Tatsache, dass ein großer Teil der russischen Gesellschaft die Invasion Putins nicht versteht, ist ein Symptom für das Fehlen eines solchen Projekts. Bisher hat keine der postsowjetischen Eliten ein solches ideologisches Projekt aufweisen können.

Die Invasion hat auch die intellektuelle Linke verwirrt, die daran gewöhnt ist, den Westen für fast alle Probleme der Welt verantwortlich zu machen. Die ukrainischen Linken Taras Bilous und Vladimir Artyukh haben in offenen Briefen das kritisiert, was sie den «Antiimperialismus für Dumme» der westlichen Linken nennen. Was wäre die richtige linke Perspektive?

Ich habe selbst gegen vereinfachende Interpretationen des Euromaidan angeschrieben, den ein Teil der westlichen Linken zu Unrecht als einen vom Westen unterstützten Putsch ansah. Ähnlich wurden auch die separatistischen Republiken im Donbas als proto-sozialistische Staaten angesehen, während es sich in Wirklichkeit um Marionetten eines überaus unsozialistischen russischen Regimes handelt. Doch die Diskussion über die Schuld, die sich westliche Linke möglicherweise als «Putins nützliche Idioten» zugezogen haben, ist zu diesem Zeitpunkt für die Linke sehr schädlich. Die Debatte über die Unterschätzung des russischen Imperialismus ist wichtig, doch sie sollte nicht in Momenten hoher Emotion oder durch moralische Erpressung geführt werden.

Die Invasion wird eine starke rechte Welle begünstigen, die den Raum für die Linke sowohl in Ost- als auch in Westeuropa stark einengen wird. Wir sollten uns nicht selbst schwächen, dadurch würden wir uns den Angriffen der Rechten ausliefern. Die große Mehrheit der europäischen Linken verurteilt den russischen Imperialismus und ist sich darüber im Klaren, dass die Invasion in eine Katastrophe führt, genau wie die amerikanische Invasion des Irak.

Die Linke braucht offensive Argumente. Wir dürfen einem Verbot der Diskussion über die Komplizenschaft der NATO und des Post-Maidan-Regimes in der Ukraine, über die Gründe für die Nichtumsetzung des Minsker Abkommens oder über die Beziehungen zwischen der NATO und Russland nicht zustimmen. Das würde eine Kapitulation bedeuten – vor allem in Osteuropa, wo es in der kommenden Ära des Neo-McCarthyismus möglicherweise nicht mehr möglich sein wird, selbst grundlegende linke Argumente vorzubringen, ohne als russischer Spion beschuldigt zu werden.