Bericht | USA / Kanada - Demokratischer Sozialismus Klassenkampf für eine soziale Demokratie

Die sozialistische Bewegung in den USA hat in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt. Kann sie die Massenbewegung der Arbeiterklasse werden?

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Loren Balhorn,

Vor zehn Jahren hätte kaum jemand in Europa die Vorstellung gehabt, dass die Vereinigten Staaten bald zum Epizentrum eines sozialistischen Aufschwungs werden würden. In den vorangegangenen Jahren waren mehrere große demokratische, sozialistische Parteien wie Syriza in Griechenland oder die Linkspartei in Deutschland entstanden, während große Mobilisierungen, vor allem im Süden des Kontinents, Hoffnungen auf einen breiteren Aufschwung linker Bewegungen weckten.

Die USA hingegen erschienen träge. Dort hatten Sozialisten nie die organisatorische Stärke erreicht wie in Europa. Und obwohl es in den 1900er, 1930er und 1960er Jahren immer wieder zu einem Aufschwung sowohl der gewerkschaftlichen Organisierung als auch des linken Aktivismus kam, bestand die Linke in den USA im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aus einigen kleinen irrelevanten Sekten und einem breiteren Ökosystem linksliberaler NGOs, die jedoch als politische Kraft weitgehend unsichtbar waren.

Heute, ein Jahrzehnt später, hat sich das Blatt dramatisch gewendet. Parteien der europäischen Linken befinden sich auf dem Rückzug. Einige der wichtigsten Parteien haben herbe Wahlverluste erlitten. Pablo Iglesias und Jeremy Corbyn, zwei der bekanntesten europäischen Sozialisten, sind beide nach schweren Niederlagen zurückgetreten. Alexis Tsipras, einst Liebling der Linken auf der ganzen Welt, mag zwar immer noch der Vorsitzende seiner Partei sein, aber inwieweit diese Partei noch zur sozialistischen Linken gehört, steht zur Debatte.

Loren Balhorn arbeitet als Leitender Redakteur von rosalux.org und darüber hinaus in der Redaktion des Magazins «Jacobin».

Auf der anderen Seite des Atlantiks wurden dagegen bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Bernie SandersKandidaturen für die Präsidentschaftswahlen 2016 und 2020 haben ihn zwar nicht ins Weiße Haus gebracht, aber sie haben ihn zu einem der beliebtesten Politiker des Landes und wahrscheinlich zum bekanntesten Sozialisten der Welt gemacht. Seine einst einsame Präsenz in Washington wird nun durch eine kleine, aber wachsende Kohorte junger und kluger Menschen ergänzt, allen voran Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), deren Hauptforderungen – etwa ein existenzsichernder Mindestlohn oder eine allgemeine Gesundheitsversorgung – breite, überparteiliche Unterstützung in der Bevölkerung genießen. Zusammen mit den Dutzenden von Sozialist*innen, die in den letzten Jahren in landesweite und kommunale Ämter gewählt wurden, sorgen sie dafür, dass der demokratische Sozialismus zum ersten Mal seit zwei Generationen einen kleinen, aber wachsenden Pol innerhalb des politischen Mainstreams darstellt.

Organisatorisch ist der Aufschwung vor allem an den Democratic Socialists of America (DSA) zu sehen, einer Organisation, die 1982 durch eine Fusion zwei kleinerer Gruppen entstanden ist, und die Sanders-Kampagne sehr früh unterstützte. Seit 2015 hat deren Mitgliederzahl sich fast verzwanzigfacht, von etwa 5.000 auf eine niedrige sechsstellige Zahl, mit über 200 aktiven Ortsgruppen und 14 thematischen Arbeitsgruppen. Gestärkt durch ihre Verbindung mit hochkarätigen Abgeordneten wie AOC und Cori Bush ist sie nun die dominierende sozialistische Organisation im Land, die ihre Konkurrenten weit hinter sich lässt.

Aufbauend auf ihrer Erfahrung mit Sanders und AOC setzt die DSA auf eine hybride Strategie, die ihre Kandidat*innen als Demokraten taktisch zur Wahl aufstellt, um da, wo es möglich ist, die Partei nach links zu rücken, und dort, wo eine solche Verschiebung nicht möglich ist, der DSA selbst eigene Aufmerksamkeit und Einfluss zu verschaffen. Sowohl in Chicago als auch in New York stellt die Organisation inzwischen jeweils fünf Stadträt*innen, und im Bundesstaat Nevada haben DSA-Mitglieder sogar den Landesvorstand der Demokraten übernommen. Im letzten Wahlzyklus konnten die Sozialisten nach einigen Angaben zwei Drittel ihrer Wahlen gewinnen.

Dieser Text ist in der maldekstra, dem Auslandsjournal für globale Perspektiven von Links erschienen. Das Thema der Ausgabe #14 ist «Linke Bewegungen».

Die Erfahrung der letzten sechs Jahre zeigt: Ohne die Teilnahme an Wahlen innerhalb der Strukturen der Demokraten, wohin die meisten potenziellen Linkswähler ihre Aufmerksamkeit bereits richten, wäre es unmöglich gewesen, die sozialistische Botschaft in so kurzer Zeit so weit zu tragen. Wo die Reise letztendlich hingeht, bleibt allerdings umstritten. Ob die Organisation langfristig versuchen sollte, eine unabhängige, dezidiert sozialistische Partei auf die Beine zu stellen, wird unter den Mitgliedern kontrovers debattiert.

Doch unabhängige Partei hin oder her: Anders als manche ihrer Vorgänger, für die eine taktische Orientierung auf die Demokraten mit einer praktischen Auflösung in deren Partei einherging, baut die DSA neben ihren Wahlkampagnen eine unabhängige Infrastruktur auf, die sich primär auf breite soziale Forderungen und ökonomische Kämpfe ausrichtet.

Die zwei Kampagnen, die die Organisation sich zurzeit auf die Fahne schreibt, sind der Kampf um einen «Green New Deal» und eine öffentliche Gesundheitsversorgung für alle. Das sind elementare Forderungen, die Nöte und Bedürfnisse der überwiegenden Mehrheit aufgreifen und versuchen, in eine politische Perspektive zu übersetzen. Mitglieder werden aufgefordert, Gewerkschaften beizutreten oder an ihrem Arbeitsplatz eine zu gründen, und werden dabei aktiv unterstützt.

Laut DSA-Bundesgeschäftsführerin Maria Svart setzt die Strategie darauf, «unser eigenes kollektives Selbstvertrauen und unsere Fähigkeiten aufzubauen in einer Welt, die den Menschen der Arbeiterklasse einredet, wir seien allein und hilflos. Es bedeutet auch, dass wir gemeinsam anwenden und lernen, welche Strategien funktionieren, um Macht aufzubauen, und dass wir in der Lage sind, zu mobilisieren, wenn sich Gelegenheiten ergeben oder wir es müssen.»

Manche Denker im Umfeld der Organisation nennen diesen Ansatz «klassenkämpferische Sozialdemokratie» – eine etwas sperrige Formulierung, die allerdings sehr gut umfasst, was es bedeutet, in einem Land wie den USA für den Sozialismus zu kämpfen. Denn die USA sind zwar das reichste Land der Welt, aber auch eines der ungleichsten Länder. Für die meisten Menschen stagnieren die Löhne seit Jahrzehnten, während die Lebenskosten steigen und die Pro-Kopf-Verschuldung durch die Decke geht. Essenzielle gesellschaftliche Güter wie Bildung und Gesundheitsversorgung werden dem freien Markt überlassen. Das führt nicht selten in private Insolvenz und ruinierte Leben.

In einem solchen Kontext erfordern ökonomische Reformforderungen, die manche vielleicht als sozialdemokratisch abstempeln würden, eine direkte Konfrontation mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten, um umgesetzt zu werden. Ein paar Wahlen zu gewinnen reicht nicht aus. Es wird auch materiellen Druck und damit die organisierte Macht der Gewerkschaften brauchen, um sie gegen den Willen dieser Eliten durchzusetzen – Klassenkampf eben.

Dies ist freilich kein leichtes Unterfangen – erst recht nicht in einem Land, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad inzwischen unter 10 Prozent gesunken ist. Doch die positive Nachricht ist: Eben weil die USA so ungleich sind, gibt es über Parteigrenzen hinaus potenzielle Mehrheiten für ein solches Programm, wie SandersAufstieg beweist. Damit wäre noch lange kein Sozialismus realisiert, aber immerhin die Perspektive darauf. In den kommenden Jahren gilt es für die DSA, die Brückenköpfe, die sie erkämpft hat, zu erhalten, aus den Erfahrungen seit 2016 zu lernen und Strategien zu entwickeln, um, wie Svart es formulierte, mehr Macht für die Arbeiterklasse aufzubauen.