Die Sanktionen gegen Russland, die der Westen als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine verhängte, sind Gegenstand einer kontroversen Diskussion: Während die einen sie als nichtmilitärischen Weg befürworten, Präsident Wladimir Putin unter Druck zu setzen, betonen andere, dass Sanktionen oftmals gerade die Ärmsten treffen und darüber hinaus konfliktverschärfend wirken können.
Leonie Schiffauer ist promovierte Sozialanthropologin und Referentin für Süd-, Ost- und Zentralasien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Was in der Diskussion über die Sanktionspolitik dagegen kaum in den Blick genommen wird, sind die Kollateralschäden in Ländern, die wirtschaftlich eng mit Russland verflochten sind. Hierzu zählen insbesondere die Länder Zentralasiens. Die westlichen Sanktionen, die zu einem rasanten Fall des Rubels führten, haben nämlich auch dort dramatische Konsequenzen für Wirtschaft und Bevölkerung – und in der Folge möglicherweise auch für die politische Stabilität in den ehemaligen Sowjetrepubliken.
Währungsverfall und Handelsprobleme
Die zentralasiatischen Volkswirtschaften sind eng mit der russischen Wirtschaft verzahnt; Russland ist einer der Hauptinvestoren in der Region und wichtigster Handelspartner. Durch ihre Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion sind Kasachstan und Kirgistan wirtschaftlich besonders eng an Russland gebunden. Allein zwischen Russland und Kasachstan betrug das Handelsvolumen im letzten Jahr 25,6 Milliarden US-Dollar; Kasachstan importiert überdies 70 Prozent seiner Waren aus Russland. Aufgrund dieser engen Verflechtung hängt die finanzielle Stabilität der zentralasiatischen Staaten unmittelbar vom Zustand der russischen Wirtschaft ab.
Infolge des Kursverfalls des Rubels büßten auch die Währungen Kasachstans, Kirgistans und Tadschikistans deutlich an Wert ein. Besonders stark betroffen ist der kasachische Tenge, der im Wert um 20 Prozent gefallen ist. Preise für Grundnahrungsmittel und Benzin steigen bereits und Befürchtungen einer wachsenden Inflation sowie der Unterbrechung von Lieferketten nehmen zu.
Russland hat bereits angekündigt, dass es vorerst kein Getreide und kein Zucker mehr in die Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion exportieren wird. Dies bringt gerade Kasachstan und Kirgistan, die auf die russischen Importe angewiesen sind, in eine äußerst schwierige Situation. Aber auch der tadschikische Markt, auf dem die Preise für manche Lebensmittel – wie beispielsweise Mehl und Zucker – um fast 30 Prozent gestiegen sind, leidet unter der Entwicklung. Dass Russland auch den Export von Düngemitteln eingeschränkt hat, dürfte überdies für die Landwirtschaft der zentralasiatischen Republiken langfristig zu einem Problem werden. Zudem befürchtet man hier Lieferengpässe medizinischer Produkte, die etwa Kirgistan zu 60 Prozent über Russland und die Ukraine importiert.
In Kasachstan könnte sich die ökonomische Situation noch dadurch verschärfen, dass die Ölexporte des Landes, die 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 57 Prozent der Exportwirtschaft ausmachen, hauptsächlich über Russland abgewickelt werden. Die CPC-Pipeline, durch die der Großteil der Exporte transportiert wird, verläuft vom Westen Kasachstans durch den Süden Russlands zum Schwarzmeerterminal in Noworossijsk. Durch die Nähe zum Kriegsgebiet, insbesondere zum ukrainischen Mariupol, explodieren die Kosten für die Versicherung der Lieferungen, was den Preis in die Höhe treibt. Ölabnehmer befürchten zudem, dass die USA und die EU einen Importstopp für russisches Öl verhängen. Da das Öl aus der Pipeline zu zehn Prozent von russischen Ölfeldern kommt und dann mit dem kasachischen Öl vermischt transportiert wird, könnten Händler in der Folge auf ihrem Öl sitzen bleiben. Darüber hinaus sind russische Firmen Miteigentümer der Pipeline und momentan ist noch unklar, ob die Pipeline aus diesem Grund von direkten Sanktionen betroffen sein wird.
Ein ähnliches Problem besteht offenbar mit Blick auf den Export weiterer Waren. Berichten zufolge haben sich bereits europäische Häfen geweigert, Fracht anzunehmen, die aus Kasachstan stammt, weil sie über Russland transportiert wurde.
Die Abhängigkeit von der Arbeitsmigration
Arbeitsmigration ist ein ganz wesentlicher wirtschaftlicher Faktor in Zentralasien. 2021 waren mehr als 7,8 Millionen Menschen aus Zentralasien in Russland als Arbeitsmigrant*innen registriert, davon 4,5 Millionen aus Usbekistan, 2,4 Millionen aus Tadschikistan und 900.000 aus Kirgistan. Nach Angaben der Weltbank machten Geldüberweisungen aus dem Ausland (hauptsächlich Russland) im letzten Jahr mehr als ein Viertel des kirgisischen und tadschikischen Bruttoinlandsprodukts aus. Oft sind ganze Familien wirtschaftlich von der Unterstützung ihrer in Russland arbeitenden Verwandten abhängig.
Bereits 2014 bedeuteten die Sanktionen, die infolge der Krim-Annexion gegen Russland verhängt wurden, einen tiefen Einschnitt für die Region. Am stärksten betroffen war Tadschikistan, wo sich die Geldüberweisungen zwischen 2013 und 2016 halbierten. Aufgrund der nun erfolgten, weit umfassenderen Sanktionen ist zu befürchten, dass die zentralasiatischen Staaten diesmal noch härter getroffen werden könnten. Hinzu kommt, dass die Geldüberweisungen durch den dramatischen Fall des Rubels weitaus weniger wert sind und oftmals nicht länger ausreichen, die nötigsten Bedürfnisse zu decken. Gerade in Ländern wie Tadschikistan, in denen von staatlicher Seite kaum Unterstützung zu erwarten ist, müssen sich große Teile der Bevölkerung Sorgen um ihre Grundversorgung machen.
Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine haben viele Arbeitsmigrant*innen ihre Jobs verloren oder müssen befürchten, keine Folgebeschäftigung mehr zu finden. Die Arbeitsmärkte in ihren Herkunftsländern bieten ihnen in der Regel keine Alternative. Und schließlich wird die Arbeitsmigration auch dadurch erschwert, dass viele Flüge nach Russland gestrichen wurden. Gerade im Frühling – in dem für gewöhnlich viele Arbeitsmigrant*innen ausreisen, um im russischen Baugewerbe zu arbeiten – stellt diese Tatsache Familien in Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan vor große Herausforderungen.
Destabilisieren die Sanktionen eine ganze Region?
Nicht zuletzt aufgrund des hohen Grades an wirtschaftlicher Abhängigkeit haben die Regierungen der zentralasiatischen Staaten eher zurückhaltend und ohne offene Kritik auf den russischen Angriffskrieg reagiert. Usbekistan hat offiziell eine neutrale Haltung eingenommen, Tadschikistan und Turkmenistan haben sich nicht geäußert. Der kirgisische Präsident, Sadyr Dschaparow, hat zwar Verständnis für den Angriff geäußert (woraufhin der ukrainische Botschafter aus Kirgistan abgezogen wurde), sich anschließend aber nicht eindeutig positioniert. Kasachstan hat immerhin erklärt, dass es die Volksrepubliken Donezk und Luhansk nicht als unabhängige Staaten anerkennen werde, und sich der russischen Anfrage, Truppen in die Ukraine zu entsenden, verweigert. Gerade die Stellungnahme Kasachstans ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass Russland erst im Januar dieses Jahres Truppen ins Land geschickt hatte, um die politische Situation während der dortigen Unruhen zu stabilisieren. Möglicherweise schwingen hier Befürchtungen mit, dass auch Kasachstan sich in Zukunft in einer ähnlichen Position wie die Ukraine befinden könnte, gerade aufgrund seiner Grenze mit Russland und angesichts Äußerungen Putins von 2014, welche die kasachische Staatlichkeit in Frage stellten.
Die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionspolitik für Zentralasien könnten auch mit einer politischen Destabilisierung der Region einhergehen. Kasachstan, das bis zu den Januarereignissen, bei denen 225 Menschen ums Leben kamen, als relativ stabil galt, hat sich sozioökonomisch als brodelndes Fass erwiesen. Selbst im verhältnismäßig reichsten Land Zentralasiens könnten steigende Preise und der Verlust von Arbeitsplätzen, gerade in der Ölindustrie, weitere Unruhen bedeuten. In den wirtschaftlichen schwächsten Ländern der Region, in Kirgistan und Tadschikistan, die ohnehin durch die Pandemie schon stark gebeutelt sind, werden jedoch ökonomische Sorgen dominieren, da sich jetzt schon abzeichnet, dass fehlende Verdienstmöglichkeiten durch Arbeitsmigration sowie die Entwertung des in Russland verdienten Geldes zu viel Not führen werden. In der ganzen Region werden also vor allem die Ärmsten unter den Sanktionen leiden.
Dass Sanktionen gegen Russland beschlossen werden, ist zwar eine durchaus nachvollziehbare Reaktion auf den russischen Angriffskrieg. Die Frage aber, welche Sanktionen sinnvoll sind, sollte nicht nur mit Blick auf Russland diskutiert werden, sondern auch die Kollateralschäden in den Nachbarstaaten in Betracht ziehen, die nichts für den Krieg können und sich – allen Schwierigkeiten zum Trotz – auch nicht an ihm beteiligen wollen.