Die Reaktionen aus Lateinamerika auf den Ukrainekrieg sind vielfältig. Regierungen aller Couleur, politische Parteien und Strömungen ringen um Positionen. Neue globale Allianzen und veränderte ökonomische Interessen bringen viele Staaten in eine Zwickmühle, wenn es um die Formulierung einer konsistenten Haltung zur russischen Invasion geht. Und in der lateinamerikanischen Linken löst der Krieg eine neue Polarisierung aus.
Andreas Behn wird ab September das Büro Sao Paulo der Rosa Luxemburg leiten.
Die meisten Regierungen der Region verurteilen Putins Krieg und stimmten bei der UNO für entsprechende Resolutionen. Für konservative Präsident*innen und Parteien, die sich traditionell an der US-Politik und westlichen Vorgaben sowie Wirtschaftsinteressen orientieren, eine vermeintlich einfache Positionierung. Zumal auch die konservativ geprägten Massenmedien in fast allen Ländern der Region eine deutlich russlandkritische Linie verfolgen. Hinzu kommt dort das Narrativ, das Russland und alle Gegner des Westens als tendenziell kommunistische Gefahr darstellt.
Doch so widerspruchsfrei funktioniert diese politische Parteinahme offenbar nicht mehr. Das liegt vor allem an der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung, die die Konkurrenten China und Russland im einstigen «Hinterhof» der USA inzwischen haben. So stimmte das konservativ regierte Uruguay kurz nach Kriegsbeginn bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) für einen Antrag, der die russische Invasion nicht ausdrücklich verurteilte. Wenig später bezeichnete Präsident Luis Lacalle Pou dieses Votum als Fehler und verurteilte die Invasion explizit. Unklar blieb auch die offizielle Haltung gegenüber dem vom russischen Staat finanzierten TV-Sender Russia Today. Er wurde einerseits aus dem digitalen Programmangebot Uruguays gestrichen, was daraufhin andererseits von Regierungspolitiker*innen kritisiert wurde. Kommentator*innen führen dieses Lavieren darauf zurück, dass das kleine Uruguay den ökonomisch wichtigen Partner China nicht verärgern wolle (Vgl. CALAS, La guerra en Ucrania. Miradas desde América Latin, 15. März 2022). Auch in anderen konservativ regierten Staaten wie Paraguay oder Panama dürften Politiker*innen wie Wirtschaftsvertreter*innen hinter den Kulissen besorgt sein, inwiefern der offizielle Schulterschluss mit den USA und Westeuropa nicht die inzwischen teils wichtigeren Verbindungen zu China in Mitleidenschaft zieht.
Dass Kolumbien, seit langem der wichtigste US-Verbündete in Südamerika, vehement das russische Vorgehen verurteilte, verwundert nicht. Doch die eindeutige Haltung von Präsident Iván Duque wird eher als Bringschuld gegenüber US-Präsident Biden interpretiert denn als politischer Gleichklang. Zu lange hatte sich seine Rechtsaußenpartei Centro Democrático zuvor bei dessen Amtsvorgänger Donald Trump angebiedert, was nach Bidens Wahlsieg erstmals seit Jahren zu einer Abkühlung in den bilateralen Beziehungen führte.
Noch komplizierter gestalten sich in diesem Kontext die einst guten Beziehungen zu den USA – und auch zu der EU – in den Ländern, die von den aufstrebenden rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien oder Strömungen regiert werden. Beispiel hierfür ist Brasilien, dessen Präsident Jair Bolsonaro sich nicht davon abbringen ließ, Putin kurz vor Kriegsbeginn einen Besuch abzustatten. Seit Kriegsbeginn setzt Bolsonaro auf eine neutrale Haltung zum Krieg, trotz heftiger interner Kritik von der traditionellen Rechten. Ihm geht es darum, das neue Beziehungsgeflecht der Regionalmacht zu rechtsautoritären Staaten nicht zu gefährden, unter anderem zu Putins Russland.
Uneindeutig ist auch die Haltung der Regierungen in Kuba und Venezuela. Einerseits und an erster Stelle positionieren sie sich gegen USA und NATO, und verurteilen deshalb die russische Invasion nicht. Doch das Prinzip von Nichteinmischung und Souveränität, das seit Jahrzehnten im Abwehrkampf gegen US-Interessen und -Invasionen in Lateinamerika eine wichtige Rolle spielt, führt auch im Fall dieses Krieges zu einer Haltung, die Frieden und Verhandlungslösungen priorisiert. Eine «diplomatische Lösung mittels eines konstruktiven und respektvollen Dialogs», forderte das kubanische Außenministerium in einer Erklärung. Das ist mittlerweile auch die Haltung Venezuelas. Für Verhandlungen sprach sich Präsident Nicolás Maduro allerdings erst aus, nachdem Anfang März eine hohe US-Delegation Caracas besuchte. Es ging, trotz der seit Jahren verhängten US-Sanktionen, um venezolanische Ölexporte, um russisches Erdöl zu ersetzen. Vor dieser überraschenden Zusammenkunft hatte sich Maduro noch in mehreren Äußerungen bedingungslos an die Seite Putins gestellt. Auch dort sind ökonomische Interessen und Allianzen offenbar wichtiger als eine klare Position zu der Frage, ob Putins Angriffskrieg kritisiert oder befürwortet wird.
In anderen links oder eher sozialdemokratisch regierten Ländern tun sich die Regierungen ebenfalls schwer, eine einheitliche Position zum Ukrainekrieg zu entwickeln. Zwar verurteilte Chiles neu gewählter Präsident Gabrial Boric das russische Vorgehen ohne Wenn und Aber. Kritik an dieser Haltung kam jedoch sofort aus Teilen seiner Regierungskoalition mit dem Argument, dass eine einseitige Parteinahme für die Ukraine die Rolle von NATO und USA in der Region in den letzten Jahren außer Acht lasse. Ebenso sind in Argentinien die Regierungspartei von Präsident Alberto Fernández sowie weitere fortschrittliche Gruppen bei der Bewertung des Krieges gespalten – Verteidiger*innen der russischen Haltung und der ukrainischen Position stehen sich in der internen Debatte unversöhnlich gegenüber. Auch in Mexiko wird über das Für und Wider des russischen Feldzugs gestritten, wobei es der Regierung unter Andrés Lopéz Obrador allerdings schnell gelang, eine klare Position zu beziehen: Mit Bezug auf außenpolitische Verfassungsgrundsätze, die unter anderem das Selbstbestimmungsrecht aller Staaten und die Ablehnung zwischenstaatlicher Interventionen festschreiben, verurteilte Mexiko den russischen Angriffskrieg. Allerdings ist davon auszugehen, dass die geografische wie diplomatische Nähe zu den USA ein weiterer Grund für diese Positionierung ist.
Etwas anders stellt sich die Lage in der MAS-Regierung im andinen Bolivien dar. Dort sind die Stimmen für eine Solidarisierung mit der Ukraine in der Minderheit, so dass sich Bolivien bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung Anfang März der Stimme enthielt. Die Resolution, die einen sofortigen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine forderte, wurde von fast allen lateinamerikanischen Staaten unterstützt. Nur Kuba, Nicaragua und El Salvador stimmten wie Bolivien mit Enthaltung – stimmten aber auch nicht dagegen wie Belarus, Nordkorea, Syrien, Eritrea und Russland selbst. Venezuela konnte wegen Zahlungsverzug bei der UNO nicht mitstimmen.
Die Streitigkeiten zum Ukrainekrieg in den fortschrittlichen Regierungen des Subkontinents sind ein Spiegelbild der heftigen Debatte, die die gesamte lateinamerikanische Linke über dieses Thema führt. Selten lagen Positionen und Einschätzung bei tagesaktuellen Themen derart weit auseinander. Die Argumente sind ähnlich wie beispielsweise in Europa, doch die Bewertung ist verschieden, so dass das Verständnis für das russische Vorgehen in linken Kreisen Lateinamerikas viel stärker verbreitet ist als hierzulande. Die Gründe hierfür liegen unter anderem in der lateinamerikanischen Geschichte, die von unzähligen, oft verdeckten und doch meist sehr folgenreichen Interventionen der USA geprägt ist, während die Sowjetunion im vergangenen Jahrhundert oft als einziger staatlicher Widerpart zu den US-Interventionen wahrgenommen wurde. Dieser Hintergrund führt bei vielen Linken heute dazu, die Ursprünge des Konflikts eher in der NATO-Osterweiterung und der politischen Entwicklung nach dem Mauerfall als im Verhaltens Putins zu sehen. Andere, die sich ebenfalls historisch mit Opfern von übermächtigen Invasoren identifizieren, rücken den Angriffskrieg in den Mittelpunkt der Bewertung, und kommen trotz fortbestehender Kritik an NATO und USA zu dem Schluss, dass eine Solidarisierung mit der Ukraine sowie die Betonung des Selbstbestimmungsrechts der richtige Schluss auch aus der lateinamerikanischen Geschichte ist.
Interessant ist die Position der mexikanischen Zapatist*innen, die wie üblich nicht Partei für einen Staat ergreifen, sondern sich mit den Menschen in Russland und der Ukraine solidarisch erklären. In einer Erklärung nach der ersten Kriegswoche lehnen sie den Krieg und damit Putins Invasion rundum ab und unterstützen diejenigen, die in beiden Ländern von unten Widerstand leisten. Eine Haltung die unter den Linken Lateinamerikas immer wieder zitiert wird, da sie versucht, sich dem Gegensatz von Staaten oder ideologischen Positionen zu entziehen und stattdessen die Empathie mit den von kriegerischer Handlung oder Rhetorik Betroffenen zum Ausgangspunkt der Bewertung zu machen.
Um das Ausmaß der Polarisierung zu verstehen, ist auch ein Blick auf die Medienlandschaft in Lateinamerika sinnvoll. Seit jeher sind in den meisten Staaten die führenden Massenmedien in Privatbesitz und verstehen sich als Sprachrohr der traditionellen Rechten, was zu einer steten Delegitimierung von Presse, Funk und Fernsehen geführt hat. Mit Aufkommen der digitalen sozialen Medien nimmt ihr Einfluss ab, wovon bisher allerdings vor allem die populistische und extreme Rechte im Zuge des systematischen Einsatzes von Fakenews profitiert. Als neue spanischsprachige Medienangebote kommen seit einigen Jahren die russischen Auslandsmedien Russia Today oder das Infoportal Sputnik hinzu. Sie haben bereits Millionen Follower und sind weiterverbreitet als beispielsweise CNN, BBC oder die Deutsche Welle. Vielen Linken in Lateinamerika gelten sie als Alternative zum konservativen Mainstream, was in Kriegszeiten schnell dazu führt, dass völlig entgegengesetzte Lesarten aufeinanderprallen.
Die Vielfältigkeit der Positionen und Argumente zum Krieg in der Ukraine kann hier nicht umfassend widergegeben werden. Zumal bei Vielen in Lateinamerika auch durchaus Unsicherheit bei konkreten Einschätzungen herrscht und in Gesprächen oft Fragen statt Schlussfolgerungen im Mittelpunkt stehen. Doch es kann festgehalten werden, dass der geografisch weit entfernte Konflikt nicht nur große wirtschaftliche Auswirkungen in der gesamten Region haben wird, sondern auch die ohnehin streitgewohnte Linke in Lateinamerika vor eine neue Belastungsprobe stellt.