Wolfgang Pohrt war ein Sozialwissenschaftler und Publizist, der in den 1980er Jahren und bis Mitte der 1990er Jahre insbesondere als konkret-Autor linke Debatten mitbestimmte und als Kritiker des breiten politischen (auch linken) Denkens in Erscheinung trat. Insbesondere antisemitische und antiamerikanische Äußerungen und Tendenzen wurden von ihm aufgespießt. Er gilt als ein Vordenker der sogenannten Anti-Deutschen, entzog sich aber immer wieder seiner Eingemeindung durch diese Strömung.
Interpretiert der Rezensent die Darstellung von Bittermannkorrekt, hätte Pohrt Gefallen daran gefunden, wenn der tatsächlich letzte Teil, betitelt mit Die letzten zwanzig Jahren: The Long Goodbye. Im Zeitalter der Zombies, in dem er erst als Mensch jenseits des politischen Autors dem Leser nahe gebracht wird, die vorliegende Biografie eröffnet hätte: Pohrts Frau stirbt am 1. Oktober 2004 an Krebs, er gibt sich als Kettenraucher daran die Schuld, wobei die Menge der gerauchten Zigaretten in einem engen Verhältnis zum Grad der Gelungenheit der eigenen Texte steht. Er muss anschließend in eine Sozialwohnung umziehen, deren Enge ihn dazu zwingt, seine Bücher zurückzulassen, er zieht sich aus allen Belangen zurück, sucht die physische Einsamkeit, die seine intellektuelle ergänzt, schreibt nur für sich, lebt ein Rentnerdasein, ist stark misanthropisch, kommt dann doch wieder zurück, geht sein Gesamtwerkin der Edition Tiamatan, taucht überraschend wieder in konkret auf, erleidet einen Schlaganfall, zieht sich wieder zurück, um dann 2016 zu erfahren, dass er selbst todkrank ist, sein Gehirn baut ab, was er lange Zeit bewusst miterleben muss, er verliert die Kontrolle über seinen Körper, kann den Selbstmord nicht selbst vollziehen und stirbt schließlich im Dezember 2018. Bedacht mit dem üblichen Rauschen in bürgerlichen Blättern, das auch seinem Weggefährte im Guten wie Schlechten, Hermann L. Gremliza, nur ein Jahr darauf widerfuhr.
Stattdessen verfährt Bittermann, der Biograph und Herausgeber/Verleger der gesammelten Werke Pohrts, klassisch - und porträtiert Pohrt chronologisch, wobei man den privaten Menschen Pohrt bis zum erwähnten letzten Kapitel nur an wenigen Stellen kennenlernt: er ist ein passionierter Krimileser und liebt seine Frau Maria. Sie ist die wichtigste Person in seinem Leben (wie man erst hier erfährt, hat sie seine Textmanuskripte als erste und wichtigste, da wohl einzig einflussreiche Kritikerin gelesen) neben dem Freund Eike Geiselund dem Verleger Bittermann, bei dem beinahe alle Bücher Pohrts erscheinen, zuletzt das elf Bände umfassende Gesamtwerk, von dem nur noch der Briefband aussteht, aus dem hier aber umfangreich zitiert wird.
Das tatsächliche Material der Biographie sind die zahllosen Texte und der gesellschaftliche wie sonstige Kontext, in dem sie entstanden und erschienen sind. Bittermann schreibt flott, unakademisch im Ton und Jargon, die Gliederung ist überzeugend, man merkt, dass er seinem Autor eng verbunden ist, kritisiert ihn gelegentlich, nimmt ihn in Schutz. Erst im letzten Kapitel wird die tiefe Verbindung der beiden deutlich, deren Konturen jenseits der Verlegerischen aber auch hier nur hauchfein angedeutet werden. Wenn man keine Lust oder Zeit hat, Pohrt selbst zu lesen: man nehme diese Biographie zur Hand und man erfährt, wie Pohrt politisch schrieb, was er wann wie dachte, wie er argumentierte, welch unerbittlicher, sicherlich auch unangenehmer, zur Polemik greifender Kritiker er war, auch sich selbst gegenüber. Bittermann lässt ihn oft direkt zu Wort kommen, ohne dass er seine Darstellung in eine Zitatwüste ausarten lässt. An einigen Punkten verlängert Bittermann Pohrts Äußerungen bis in unsere Gegenwart hinein, es verschwimmt, ob er jetzt Pohrt sprechen lässt, oder ob Bittermann auf den Spuren von Pohrt Aktuelles und Gesellschaftliches kommentiert und kritisiert - und seine eigene Meinung kundgibt. Egal, wie man zu Pohrt steht, ob man seine sich seit den 1960er Jahren wandelnde Gedankenwelt als legitime Position anerkennt oder nicht, deutlich ist, dass er ein wirklich eigenständiger, origineller Denker mit ganz eigenem Sound war. Man lernt, was es bedeutet, als linker, marxistischer Mensch, aus ärmlichen, kleinbürgerlichen Verhältnissen, den sicheren akademische Raum als Lehrperson – in Pohrts Fall, die Hochschule Lüneburg – bewusst aufzugeben, also dem akademischen Marxismus den Rücken zu kehren, um fortan prekär zu leben um unabhängig schreiben zu können, lediglich unterbrochen von den Jahren 1990 bis 1994, in denen er gesichert finanziert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kulturüber das Massenbewusstsein forschte.
Allein dies macht das Buch lesenswert, auch für jüngere Generationen, die von Pohrt selbst, wenn überhaupt, nur noch als unerbittlichem linken Rüpel aus zweiter oder dritter Hand in Erzählungen gehört haben. Er schrieb nicht, wie man es in dieser Welt besser machen sollte, sondern warum es von anderen falsch gemacht wurde und wie fehlerbehaftet deren Realitätswahrnehmung und -analyse ist. Nicht alles, was er schrieb, hat die Zeit gut überdauert oder war damals schon in Teilen wirr, grob verletzend. Der Biograph stellt sich dieser Dimension klar weniger deutlich, wie aus Sicht so einiger Zeitgenossen sicherlich nötig wäre. Im Übrigen ist es durchaus ein Genuss, Pohrt zu lesen, was sich natürlich leicht daher sagen lässt, kann der Rezensent selbst ja nicht mehr von ihm auseinandergenommen werden. Das Namensregister erleichtert die nachträgliche Navigation, die Bibliografie ermöglicht es, eigene Lektüre zu betreiben.
Klaus Bittermann: Der Intellektuelle als Unruhestifter. Wolfgang Pohrt – Eine Biographie, edition tiamat, Berlin 2022, 696 Seiten, 36 EUR