Nachricht | Krieg / Frieden - Türkei Jenseits der Doppelmoral des Westens

Während der russische Krieg gegen die Ukraine medial allgegenwärtig ist, fristet der türkische Krieg gegen die Kurd*innen ein Schattendasein

Information

Autorin

Dastan Jasim,

In seiner aktuellen Ausgabe titelt die Zeitschrift «The New Yorker»: «The Turkish Drone That Changed the Nature of Warfare». Es handelt sich um einen Artikel, der sich einreiht in eine Serie von Veröffentlichungen über die türkische Drohne Bayraktar TB2, die momentan von den ukrainischen Streitkräften gegen die russischen Invasoren eingesetzt wird. Ein preisgünstiges technisches Wunderwerk des türkischen NATO-Partners in der Hand der ukrainischen Regierung im Kampf gegen den Aggressor – das hört sich nach einer im Westen gut zu verkaufenden Geschichte an.

Dastan Jasim ist Politikwissenschaftlerin und Doctoral Fellow am German Institute for Global and Area Studies der Universität Hamburg. Derzeit betreibt sie Feldforschung in Sulaimaniya (Südkurdistan/Irak).

Andere, von derselben Drohnenart betroffene Bevölkerungen – wie beispielsweise im aserbaidschanisch besetzten Artsakh, im vierfach besetzten Kurdistan oder in Äthiopien – lassen solcherlei mediale Darstellungen dabei unbeachtet. Gerade seit Aserbaidschan 2020 den Krieg gegen die armenische Bevölkerung in Artsakh wiederaufnahm, wird die berüchtigte Drohne erbarmungslos zum Einsatz gebracht. Bei einem der größten Drohnenangriffe der äthiopischen Regierung im seit mehr als einem Jahr währenden Bürgerkrieg wurden 58 Zivilist*innen getötet, die sich in einer Schule versteckt hatten. In Kurdistan fliegt dasselbe Gerät im Namen der türkischen Regierung, die im April die Operation «Klauenschloss» ausgerufen hat, Angriffe auf kurdische Gebiete und zerstört dabei dutzende Dörfer und zwingt Tausende zur Flucht.

Wie kann es sein, dass die türkische Billigdrohne des Hof-Ingenieurs und Schwiegersohns von Präsident Erdoğan, Selçuk Bayraktar, die aus einer Vielzahl deutscher, amerikanischer, britischer, österreichischer, kanadischer und niederländischer Teile besteht und vielerorts zivile Blutbäder hinterlässt, zum Tech-Wunder und zu einer Ikone des ukrainischen Freiheitskampfes verklärt wird? Wie kann eine Drohne, die seit Jahren in Vernichtungskriegen eingesetzt wird, medial so positiv dargestellt werden? Die Politologin Rosa Burc stellte dazu kürzlich fest: Die westliche Doppelmoral beim Thema Krieg in der Ukraine, in Kurdistan und Artsakh ist offenkundig – gerade jetzt, wo diese Kriege sich zeitgleich ereignen. So wird die Mörderwaffe der einen der Freiheitsfalke der anderen.

Besonders zu schämen scheint man sich für diese Doppelmoral in Sachen Türkei nicht. So erklärte etwa der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel kürzlich, als er für seinen Tweet «Mehr Türkei wagen» inmitten erneuter türkischer Angriffe auf Kurdistan kritisiert wurde, es sei «herrlich zu sehen, wie man mit einem #Türkei-Tweet die Aggression der Besserwisser provozieren kann». Dass die Aggression der Besserwisser vielleicht etwas damit zu tun hat, dass ein Land, das ganz offene ethnische Säuberungen an Kurd*innen und Armenier*innen begeht, hier derart positiv konnotiert wird, kommt ihm nicht in den Sinn.

Als Annalena Baerbock kürzlich aus Protest gegen ihre Türkeipolitik und ihre Untätigkeit im Falle der zwei von der irakischen Regierung festgehaltenen Journalist*innen, Marlene Förster und Matej Kavčič, mit Eiern beworfen wurde, war sich die grün-liberale Öffentlichkeit nicht zu schade dafür, das Motiv der Protestaktion zu unterschlagen und stattdessen zu behaupten, das Ganze sei eine Querdenker-Aktion gewesen. Während sich darüber hinaus die deutsche Zivilgesellschaft zum Hüter der flüchtenden ukrainischen Bevölkerung aufschwingt, werden weiterhin und ohne größere Aufmerksamkeit Kurd*innen in die Türkei abgeschoben, in letzter Zeit sogar noch viel mehr als sonst, wie der «Spiegel» feststellt.

Die konsequente und systematische deutsche Ignoranz bzw. Feindlichkeit gegenüber der kurdischen Sache, ob hier oder in Kurdistan selbst, zeigt sich dieser Tage auf ganz besonders eindrucksvolle Art und Weise. Man fühlt sich an die 90er Jahre erinnert, als bei Autobahnbesetzungen einer zutiefst traumatisierten und verzweifelten kurdischen Bevölkerung, die gerade eine genozidale Phase des türkischen Staates überlebt hatte, schmallippige Deutsche gegenüberstanden, die sie anstarrten, anpöbelten und jegliche Form der kurdischen politischen Organisierung jenseits des bürgerlichen Mainstreams kriminalisierten. Deutschland erweist sich auch heute als aktiver Mittäter am türkischen Genozid an den Kurd*innen und Armenier*innen. Im Zweifelsfall lässt man auch unliebsame Gedenkstatuen abräumen, wenn die türkische Mitbürgerschaft dies wünscht.

Es handelt sich offensichtlich um eine Doppelmoral, wenn das Bürgertum meint, in der Ukraine den großen Kampf gegen den Faschismus gefunden zu haben, während es nicht mehr als ein Naserümpfen für das Leiden in Kurdistan, Äthiopien oder in Artsakh übrighat. Aber es wäre noch untertrieben, lediglich auf die Doppelmoral zu verweisen. Denn bei dieser Ignoranz, dieser herablassenden und selbstgerechten Art gegenüber all jenen, die vom deutschen Sponsoring des Panturkismus betroffen sind, handelt es sich um mehr als Doppelmoral. Es geht auch über das Phänomen von «white privilege» hinaus, das die einen Opfer humanisiert, während es die anderen zu Kollateralschäden erklärt.

Dass für die einen mehr Moral da ist als für die anderen, ist – wie in vielen anderen Fällen, aber besonders in diesem – gewollt: Es handelt sich um ein politisches Programm, das türkische Genozide ermöglicht und in der deutschen Gesellschaft eine Auffassung propagiert, in der die Türkei als Herkunftsland von Gastarbeiter*innen, als moderner und innovativer Drohnenhersteller oder Urlaubsland gilt, aber niemals als ein faschistisches Regime, das unzählige Unschuldige auf dem Gewissen hat. Anders formuliert: Es handelt sich um jahrzehntealte politische Verbindungen, die ein gesellschaftliches Klima erzeugen, das die deutsche Regierungspolitik stützen und die Bevölkerung mit einem 100-Milliarden-Rüstungsprogramm versöhnen soll, während das Thema Kurdistan nur als Terrorismusfrage wahrgenommen wird.

Die öffentliche Meinung ist eben immer ein Produkt der herrschenden Umstände – und diese können sich ändern. Ich erinnere dabei immer gerne an eine Anekdote meines Vaters, der 1985 als politischer Flüchtling nach Deutschland kam, um dem Regime Saddam Husseins zu entfliehen. Ihm wurde von vielen Deutschen mit Zweifel begegnet: «Was willst du denn von Saddam? Der baut richtig viel auf, der bringt den Kurden ja auch was, der bringt das Land voran!» Natürlich war das eine verblendete Aussage, aber es gab damals viel politisches (und damit auch mediales) Interesse, das Ausmaß der Verbrechen Saddam Husseins zu verschleiern. Über die Tatsache, dass der Diktator kurz darauf den größten Giftgasangriff seit dem Zweiten Weltkrieg verübte, wurde auch lange geschwiegen, da Hussein bis zum Zweiten Golfkrieg 1990/91 ein Verbündeter des Westens war. Erst danach – und insbesondere, als dann 2003 die Kriegstrommeln in Washington zu hören waren – änderte sich auch die hiesige Wahrnehmung nachhaltig; erst jetzt wurde auch die Biografie meines Vaters und Millionen weiterer Opfer dieses Regimes breiter wahrgenommen: in der Zivilgesellschaft, in Medien, Öffentlichkeit und Politik. Ist das Doppelmoral? Zweifellos, sofern man Moral als die Moral der Herrschenden begreift.

Leider bedeutet das im Umkehrschluss, dass es keine ehrliche Solidarität ist, die die herrschenden Klassen im Umgang mit der Ukraine leitet. Ein ehrlicher Diskurs, der sich um das Selbstverteidigungsrecht und die Souveränität des ukrainischen Volkes scherte, würde eine Killerdrohne der Türkei, die vielerorts für Elend und Verderben sorgt, nicht zur Wunderwaffe verklären. Die Annahme, dass das schlicht Unwissen sei, greift zu kurz. Der «New Yorker» und viele andere Medien tun einfach das, was allgemein geopolitisch zu beobachten ist – nämlich der Türkei die Rolle eines Mediators in der Region zuzusprechen, das boomende Drohnenbusiness zu unterstützen und den Dual-Use-Markt der westlichen Exporteure und weiterer Länder, die am türkischen Drohnenkrieg verdienen, ins Rollen zu bringen. Echte Moral gibt es hier schon lange nicht mehr.