Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus «Wir sind ein politisches Statement»

Der libanesische Aktivist Jonny Yaacoub über die politische Rolle von (Selbst-) Organisierung

Information

Autorin

Hanna Voß,

Johnny Yaacoub
Johnny Yaacoub Foto: privat

Im Libanon finden inmitten der tiefen Krise des Landes im Mai Wahlen statt. Die Hoffnungen auf Veränderungen sind riesig: «Nie zuvor war die Bewegung gegen das Establishment so groß wie heute. Nie waren die Stimmen für eine Veränderung so laut. Und nie zuvor war sich die Bevölkerung durch die Reihen hinweg so einig,» schreibt Ulla Taha. Um Stimmen für Veränderungen abzubilden - einzelne Aktivist*innen und Oppositionsgruppen - werden wir in den nächsten Wochen hier Gespräche mit Menschen veröffentlichen, die sich für einen anderen Libanon einsetzen und für Wandel engagieren.

Als der Beiruter Stadtteil Geitawi am 5. August 2020, einen Tag nach der Explosion, von mehreren Hundert Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen, in Schutt und Asche lag, fand sich eine Gruppe junger Leute zusammen, die eine lang verlassene Tankstelle zu ihrem Hauptquartier erklärte. Sie räumten auf, machten sauber und schrieben Nation Station in roter Farbe auf ein Stück Stoff, das bis heute vom Dach der Tankstelle flattert. Sie kochten und verteilten Essen an die Menschen in der Nachbarschaft, die zu jenem Zeitpunkt alles verloren hatten. Einer der ersten, die halfen, war Johnny Yaacoub, heute der Freiwilligen-Koordinator von Nation Station. Er sagt, eine Community zu schaffen, in der sich die Menschen füreinander und für ihre Nachbarschaft verantwortlich fühlen, ist die Grundlage jeder weiteren politischen Arbeit im Libanon.

Johnny Yaacoub

...ist 28 Jahre alt und Designer. Er ist der Freiwilligen-Koordinator von Nation Station, einem Drehkreuz, über das seit dem Tag nach der Explosion im August 2020 Essen verteilt wurde und heute außerdem Workshops abgehalten und Community-Arbeit betrieben wird.

Wir haben mit den absoluten Grundbedürfnissen angefangen. Wir haben Gemüse und warme Mahlzeiten verteilt, sind zu den Menschen nach Hause gegangen und haben ihnen geholfen, ihre zerborstenen Fenster mit Nylon zu verkleben. 

Wir wussten, dass unsere Kapazitäten begrenzt sind und haben uns deshalb entschieden, uns auf den Stadtteil Geitawi zu beschränken, wo vor allem ältere Menschen leben. Die Explosion hatte das Schlimme schlimmer gemacht, die Armen ärmer. Manche besaßen vorher einen kleinen Shop, von dessen Einnahmen sie gelebt haben und der jetzt komplett zerstört war.

Wir haben schnell begonnen, alle Daten zu erfassen, die wir benötigten, um die Hilfe für die Menschen zu optimieren: Was brauchen sie, was und wie viel wurde zerstört, welche Medikamente benötigen sie, in welcher Dosierung, was erhalten sie bereits von anderen Organisationen? Auf diese Weise konnten wir bewerten und priorisieren. Von mehr als 5.000 Menschen haben wir so alle Details erfasst, die wir brauchten. Das hat uns auch erlaubt, einen Algorithmus zu erstellen, wer wie bedürftig ist und wem wir zuerst helfen müssen, wer vielleicht auch warten kann, und so weiter. Das haben wir kategorisiert.

Wir sind also da eingesprungen, wo es an Unterstützung seitens des Staates, der Regierung, der Gemeinde gefehlt hat. Wir waren jede offizielle Stelle, die nach der Explosion hätte reagieren müssen, sich aber weggeduckt hat.  

Das hat uns zu einem Drehkreuz gemacht, mit dem auch andere Organisationen gut zusammenarbeiten können. Als Beispiel: Eine Organisation kommt zu uns und sagt, sie könne 50 Essenspakete zur Verfügung stellen, jedes für einen Haushalt von vier Personen. Dann können wir mit einem Klick wissen, wie alt die Menschen sind, ob Männer oder Frauen dort leben, ob sie arm, sehr arm oder ganz gut aufgestellt sind. Entweder geben wir der anderen Organisation dann eine Liste mit, und sie verteilt das Essen selbst, oder wir übernehmen das für sie. Wir wissen ja auch, wer mit wem zusammenlebt, sodass nicht ein- und derselbe Haushalt vier Pakete erhält. So hat das mit vielen internationalen Organisationen gut geklappt, deutschen, französischen, italienischen.

Unser Anspruch ist, nicht einfach blind zu helfen, sondern konkret zu gucken, wer welche Hilfe wirklich benötigt. Wir bringen unsere Informationen permanent auf den neusten Stand. Alles, was wir bekommen haben, haben wir verteilt. Wenn wir ein Sofa gespendet bekommen haben, haben wir in unsere Daten geschaut, wer am dringendsten eines brauchen könnte.

Wir haben das Vertrauen der Menschen gewonnen, weil unser Schmerz der gleiche wie der ihre ist. Wir haben Menschen und unser Zuhause verloren, genau wie sie. Wir sind ihre Schwestern, Brüder, Cousinen und Cousins.

Aus dem Englischen: Hanna Voß, Programmmanagerin im Beirut-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In den ersten Wochen nach der Explosion kamen dann Leute hierher, die uns vertreiben wollten. Sie haben nach Papieren gefragt und unsere Zufahrten mit ihren riesigen Autos blockiert. Sie haben gefragt, ob es legal ist, was wir hier tun. Wir haben ihnen gesagt, in dieser Stadt hat es gerade ein Massaker gegeben, braucht man da Papiere, um zu helfen? Und dass sie froh sein sollten, dass wir hier sind. Die Menschen der Nachbarschaft sind aus ihren Häusern gekommen und haben sie verjagt. Wenn so etwas hier passiert, weiß man, dass man das Richtige tut.

Wir bieten kleine Lösungen für den Alltag, und genau das ist politische Arbeit. Wir versuchen, die Menschen mit dem Nötigsten, das sie zum Leben brauchen, zu versorgen, sodass in ihren Köpfen ein bisschen mehr Platz zum Nachdenken entsteht. Sodass sie wenigstens ein Problem weniger haben.

Wir haben als Wohltätigkeitsorganisation angefangen und sind das auch immer noch. Drei, vier Monate nach der Explosion haben wir aber auch angefangen, darüber nachzudenken, wie wir etwas Nachhaltiges schaffen können, von dem die Community auch langfristig etwas hat.

Deshalb haben wir die Menschen auch nach ihren Hintergründen und Fähigkeiten gefragt, wir haben gesagt: Wir helfen dir, aber kannst du auch der Community helfen? Bist du Zimmermann, Elektriker, oder wie kannst du dich sonst einbringen? Leute, die von uns Essenspakete und Hilfe bekommen haben, haben wir gefragt, ob sie auch mal für die anderen kochen und uns damit helfen würden. So haben sie sich gegenseitig, sie haben einander geholfen. Das stärkt die Community, den Gemeinschaftssinn.

Mittlerweile haben wir vier Abteilungen: die Küche, also Essensausgabe, den Wiederaufbau, die Klinik, also medizinische Abteilung, und die psychosoziale Betreuung, die von einer jungen Frau geleitet wird, die dafür jeden Tag von Tripoli nach Beirut fährt.

Mittlerweile können wir 300 Menschen regelmäßig, das heißt monatlich, mit den nötigen Medikamenten versorgen. Wir arbeiten auch mit Organisationen zusammen, die uns Medikamente spenden oder bei denen wir anfragen, auch weil wir auf Basis unserer Daten wissen, wer wann was braucht.

Manchmal bringen die Menschen viel Frust und Aggression mit, manche sind dreist, verlangen nach immer mehr oder verschweigen, was sie schon bekommen haben. Man kann das verstehen, da brechen einfach viele Gefühle hervor. Viele haben schlicht kein anderes Ventil für ihre Verzweiflung.

Es hat noch niemals jemand, der Hilfe brauchte, für irgendeine unserer Leistungen bezahlt.

Wir sind nicht politisch, aber das, was wir tun, ist politisch. Wir sind unsere eigene kleine Regierung. Wir haben kollabierende Institutionen im Land und eine rebellierende Jugend, die dort eigentlich angestellt sein sollte. Da schafft man seine eigenen Institutionen, sein eigenes System. Viele von den Menschen, die zu uns kommen, sagen, bitte geht in die Politik, solche Leute wie euch brauchen wir da. Sie sagen, sie würden dann definitiv für uns stimmen.

Aber im Moment planen wir nicht, in die Politik zu gehen. Wir machen ja jeden Tag Politik, aber das System zu ändern, das ist ein langer und sehr beschwerlicher Weg. Wir haben unheimlich viele Helfer*innen, wir haben die Jugend auf unserer Seite, Vertrauen gewonnen, Netzwerke gestaltet, und das sind eigentlich alles politische Kategorien.

Wir wollen keine korrupten Förderer im Hintergrund, wir haben uns organisch entwickelt, von Charity zu Empowerment.

Wir haben zum Beispiel Diabetes-Workshops abgehalten, weil viele Menschen hier kaum etwas über Gesundheitsfragen wissen und ein Medikament dann beispielsweise viel zu lange einnehmen. Seit letztem Sommer haben wir ein Pflanzenprojekt, wir haben so viel Gemüse gepflanzt, dass 300 Haushalte davon profitieren können. Wir wollen auch auf den Dächern der Wohnhäuser pflanzen und die Bewohner*innen darin schulen, sich selbst um die Pflanzen zu kümmern.

Wir verhalten uns politisch, wir wollen die Grundlage für den Wandel schaffen. Wir wollen, dass sich immer mehr Menschen für ihre Community und Nachbarschaft verantwortlich fühlen, dass sie einander helfen und so ein anderes Verständnis bekommen.

Bei allem, was wir tun, gibt es immer eine Verbindung, die die nächste Verbindung schafft. So entsteht Community. Und wir machen sie stärker, indem wir die Menschen animieren, aufeinander Acht zu geben. Wir helfen ihnen, sie uns, wir sind ein Teil von ihnen, und sie sind ein Teil von uns. Das ist das Herz unserer Arbeit.

Im Libanon gibt es so viele Dinge, die nicht in deiner Hand liegen, aber es gibt eben auch die Dinge, die du in der Hand hast. Und dann kann man sich fragen: Was sind die konkreten Dinge, die ich tun kann, um den Zustand um mich herum zu verbessern? Nicht alles liegt außerhalb der eigenen Kontrolle.

Was wir hier jeden Tag machen, ist Hoffnung. Wir können nicht einfach die Korruption und die Missstände in diesem Land beseitigen, aber wir können das Leiden unserer Mitmenschen verringern und andere Menschen animieren, das gleiche zu versuchen. Denn nur, weil ich nicht alle Probleme lösen kann, ist es nicht okay, allem den Rücken zuzukehren und gar nichts zu machen.

Die Thawra [arab.: Revolution] war ein Türöffner, vor allem für viele, die bis dahin nicht gesehen hatten, was in diesem Land vor sich geht. Sie ist nur gescheitert, wenn man zu viel von ihr erwartet hat. Falls es darum ging, das System von jetzt auf gleich zu ändern, dann ist sie gescheitert; falls es aber darum ging, ein Türöffner zu sein, dann war sie erfolgreich, und dann ist sie es bis heute.

Wir an sich sind ein politisches Statement. Es gibt nichts Politischeres, als immer mehr Menschen zu animieren, sich stärker für Land einzusetzen und sich verantwortlich zu fühlen. Wir sind die ganze Zeit und immer noch im Widerstand. Auf die Straße zu gehen, ist ja nur ein möglicher Weg. Wir führen die gleiche Revolution täglich weiter, nur mit weniger Tränengas.