Wenn die Ernte in der Ukraine dieses Jahr ausfällt, könnten weltweit über 13 Millionen Menschen zusätzlich Hunger leiden, so die Welternährungsorganisation FAO.
Die Ukraine produziert 26 Millionen Tonnen Weizen jährlich. Diese Menge (oder Teile davon) fehlen dem Weltmarkt in diesem Jahr. Die Europäische Union könnte diese Menge problemlos freisetzen und dem Weltmarkt zur Verfügung stellen, wenn sie die Schweine- und Hühnerproduktion in der EU reduzieren würde.
Jan van Aken, promovierter Biologe, arbeitete als Gentechnikexperte für Greenpeace und von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Zwischen 2009 und 2017 war er Abgeordneter der Linksfraktion im Bundestag. Heute arbeitet er zu internationalen Krisen und Konflikten für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dabei geht es in erster Linie nicht darum, die (recht geringen) Weizenexporte der Ukraine in die EU zu ersetzen. Es geht vielmehr um eine globale Betrachtung: Wieviel Weizen steht der Welt zur Verfügung? Wenn die Ukraine weniger produziert und die EU dafür diese Menge einspart, könnte sie entsprechende größere Weizenmengen exportieren und das Minus auf dem Weltmarkt ausgleichen.
Die Zahlen
Laut FAO hat die Ukraine in den Jahren 2016 bis 2020 zwischen 24,6 und 28,4 Millionen Tonnen Weizen im Jahr produziert. Im Durchschnitt sind das exakt 26 Millionen Tonnen Weizen jährlich.[1]
In der Europäischen Union werden im Wirtschaftsjahr 2021/2022 insgesamt 160,9 Millionen Tonnen Getreide als Viehfutter verwendet, vor allem Gerste, Weizen und Mais (Silomais gehört nicht dazu).[2]
Wenn also 26 Millionen Tonnen weniger Weizen verfüttert werden, dann würde sich die verfügbare Futtermenge gerade einmal um 16 Prozent verringern (von 160,9 auf 134,9 Millionen Tonnen). Ganze 16 Prozent weniger Schweine- und Geflügelproduktion könnten also die gesamte ukrainische Weizenernte ersetzen.
Um es zu veranschaulichen: 16 Prozent weniger würde zum Beispiel bedeuten, dass ein Nackensteak das nächste Mal nicht mehr 250 Gramm, sondern dann noch 210 Gramm wiegen würde. Ich glaube nicht, dass viele diesen Unterschied merken.
Die verschiedenen Getreidesorten im Viehfutter sind innerhalb gewisser Grenzen frei austauschbar. Im Alltag bestimmt vor allem der Preis der jeweiligen Getreidearten die letztendliche Zusammensetzung des Viehfutters. In den USA zum Beispiel werden nur minimalste Mengen Weizen an Schweine und Hühner verfüttert. In der Rinder- und Milchproduktion werden insgesamt nur recht geringe Mengen Getreide verfüttert, deshalb wird diese hier vernachlässigt.
Von den 160,9 Millionen Tonnen Getreide im EU-Viehfutter sind 38,8 Millionen Tonnen Weizen. Fallen die 26 Millionen Tonnen aus der Ukraine weg, bleiben immer noch 12,8 Mio. Tonnen Weizen zum Verfüttern.
Die Folgen für die Welternährung
Die FAO hat bereits Anfang März eine Hochrechnung vorgelegt, welche Folgen ein Ausfall der ukrainischen Ernten für den Rest der Welt haben könnte. Im schlimmsten Falle, so die FAO, würden die Weltmarktpreise für Getreide um rund 20 Prozent steigen. Die Konsequenz: rund 13,1 Million Menschen mehr müssten hungern.[3] Ein gutes Hintergrundpapier über die drohenden Folgen des Ukraine-Krieges findet sich auf den Seiten der Rosa Luxemburg Stiftung in Südafrika.[4]
Exportstopps sind nicht das Problem – die Lösung liegt in der EU
Russland und Indien haben bereits einen Exportstopp für Weizen verkündet, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Ein solcher Exportstopp verändert nichts an der Gesamtmenge des Weizens, der auf der Erde verfügbar ist. Der indische und der russische Weizen sind ja immer noch da und können verzehrt werden – halt nur an anderer Stelle. Vielleicht wird der Hunger dadurch in andere Länder verlagert, aber der Weizen wird durch einen Exportstopp nicht weniger. Der Weizen wird nur durch den Krieg in der Ukraine weniger, wo die Felder nicht bestellt oder nicht geerntet werden können.
Deshalb ist die Forderung der G7-Agrarminister*innen an Indien, den Exportstopp wieder aufzuheben, scheinheilig – und kann eigentlich nur als der Versuch gedeutet werden, von der eigenen Untätigkeit abzulenken. Sie selbst hätten es in der Hand, durch eine minimale Verringerung der Fleischproduktion in ihren Ländern wirklich zusätzliche Weizenmengen freizusetzen, tun aber gar nichts dafür. Die Schweineproduktion ist ihnen heilig. Selbst wenn deswegen andere Menschen hungern müssen.
Wir brauchen jetzt erstens eine öffentliche Debatte darüber, was auch wir hier in Deutschland und Europa leisten könnten, um die Folgen des Ukraine-Krieges für die weltweite Ernährungssituation abzumildern. Und zweitens endlich eine Bundesregierung, die konkrete Vorschläge macht, wie eine Reduktion der Schweine- und Geflügelproduktion rechtssicher durchgesetzt werden könnte. Ob das nun über die Düngeverordnung, die Haltungsfläche oder einen anderen Weg realisiert wird, ist zweitrangig, solange nur endlich Bewegung da reinkommt. Und natürlich müssten die Landwirt*innen entsprechend finanziell entschädigt werden. Wir haben es jetzt in der Hand und könnten ganz konkret dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Es braucht nur den politischen Willen.
[1] FAOSTAT, Daten abgerufen am 15. März 2022
[2] EU Cereals Market Situation, 28. April 2022. Seite 6. circabc.europa.eu/sd/a/92653d37-7fff-40c1-8d5e-b6bb3625c04a/EU%20cereals%20market.pdf
[3] Global Food Markets and Prices. Präsentatioin des FAO Direktors auf einem außerordentlichen Treffen der G7 Agrarminister*innen. 11. März 2022. www.fao.org/3/cb9014en/cb9014en.pdf