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Die neue Verfassung legt den Grundstein für eine partizipative, plurinationale und feministische Demokratie

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Bürger*innen nehmen an einer Kundgebung vor der ersten Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Santiago, Chile, am 4. Juli 2021 teil. 
  Foto: picture alliance / REUTERS | Pablo Sanhueza

Nach neunmonatiger Arbeit macht der Verfassungskonvent stetige Fortschritte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Der Entwurf der neuen Magna Carta, der seit dem 16. Mai 2022 vorliegt, umfasst mehr als 200 Artikel, die alle von einem Quorum von mehr als zwei Dritteln der Plenarversammlung des Konvents angenommen wurden. Hier werden die wichtigsten Punkte der neuen Verfassung zusammengefasst. Diese Verfassungsartikel sind das Ergebnis der Arbeit von sieben thematischen Ausschüssen und Kommissionen, die sämtliche verfassungsrelevante Bereiche umfassen:

  • die Kommission für das Politische System, Regierung, Legislative und Wahlsystem;
  • die Kommission für Verfassungsgrundsätze, Demokratie, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft; die Kommission für Staatsform, Ordnung, Autonomie, Dezentralisierung, Gleichberechtigung und territoriale Gerechtigkeit;
  • die Kommission für Grundrechte; die Kommission für Umwelt, Rechte der Natur, natürliche Ressourcen und Wirtschaftsmodell;
  • die Kommission für Justiz, autonome Kontrollinstanzen und Verfassungsreform sowie die Kommission für Wissenssysteme, Kulturen, Wissenschaft, Technologie, Kunst und Kulturerbe.

Die für den Entwurf der neuen Verfassung angenommenen Artikel lassen einen roten Faden erkennen, der im Artikel 1 der neuen Verfassung zum Ausdruck kommt.:

Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell und ökologisch.

Chile ist als solidarische Republik konstituiert, die Demokratie ist paritätisch und erkennt die Würde, die Freiheit, die substanzielle Gleichheit der Menschen und ihre unauflösliche Beziehung zur Natur als intrinsische und unveräußerliche Werte an.

Der Schutz und die Gewährleistung der individuellen und kollektiven Menschenrechte sind die Grundlage des Staates und bestimmen sein gesamtes Handeln. Es ist die Aufgabe des Staates, die notwendigen Bedingungen zu schaffen und die Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die nötig sind, um Gleichberechtigung und die Integration der Menschen in das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben zu gewährleisten, damit sie sich voll entfalten können.

Abschaffung des Neoliberalismus und Gewährleistung sozialer Rechte

Die Charakterisierung Chiles als Sozialstaat ist der Grundstein für die Abschaffung des neoliberalen Systems, das in der Verfassung von 1980 verankert wurde und auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht. Dieses Prinzip hatte die Unterordnung des Staates unter den Markt zur Folge und seine Rolle war auf die Subventionierung privater Aktivitäten reduziert, selbst bei gesellschaftlichen Grundrechten wie Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit, die so zu Waren gemacht wurden.

Die Verankerung des Sozialstaats in der neuen Verfassung ist ein Schritt, die neoliberale Politik zu überwinden und den Staat in zwei wichtigen Dimensionen voranzubringen: als Garant sozialer Rechte, die durch öffentliche Institutionen bereitgestellt werden und durch eine aktive Rolle in der Wirtschaft.

Was die sozialen Rechte betrifft, so wird in den Vorschlägen der Grundrechtskommission die Auffassung vertreten, dass der Staat diese Rechte nicht nur garantieren, sondern auch öffentliche Einrichtungen dafür schaffen muss. So soll beispielsweise für das Recht auf Pflege ein umfassendes Pflegesystem geschaffen werden; für das Recht auf Wohnen soll der Staat eine aktive Rolle Wohnungsbau und -planung sowie der Verwaltung öffentlicher Grundstücke durch eine Landesbank einnehmen; für das Recht auf Gesundheit soll ein universelles, öffentliches und ganzheitliches nationales Gesundheitssystem geschaffen werden, während für das Recht auf Bildung ein öffentliches Bildungssystem in Betracht gezogen wird. Dieses sind wichtige Schritte zur Stärkung des öffentlichen Sektors und zur Dekommodifizierung der sozialen Rechte.

Javier Pineda Olcay ist Rechtsanwalt und Berater des Verfassungskonvents. Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Jacobin Latin America veröffentlicht. Übersetzt von Sonja Schmidt.

In Bezug auf die aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft hat die Kommission für Umwelt- und Wirtschaftsentwicklung (Comisión de Medio Ambiente y Modelo Económico) Regeln zu Wirtschaftsinitiativen des Staates aufgestellt, die verschiedene Formen des Eigentums, der Verwaltung und der Organisation vorsehen, in denen der Staat seine unternehmerischen Tätigkeiten entwickeln kann. Dem Staat kann auch die alleinige Bereitstellung von Gütern oder Dienstleistungen für sich in Anspruch nehmen, sofern dies im Interesse der Allgemeinheit erforderlich sein sollte. Maßnahmen zur Verstaatlichung der Wirtschaft sind z.B. die Rückgewinnung natürlicher Gemeingüter, die derzeit in privater Hand liegen, wie Wasser und Bodenschätze. Auch eine Neuausrichtung der Steuerpolitik ist vorgesehen, um ein auf Gleichheit basierendes, progressives und solidarisches Steuersystem zu begründen.

Auf dem Weg zur partizipativen Demokratie

Eine weitere tiefgreifende Kritik am aktuellen Staat ist seine eingeschränkte oder wenig ausgeprägte demokratische Struktur. Bis zur Verfassungsreform von 2005 stand er unter der Vormundschaft der Streitkräfte. Bis heute wird die funktionierende Demokratie durch autoritäre Enklaven wie das Verfassungsgericht, gegensätzliche Mehrheitsverhältnisse im Kongress und das Fehlen von Mechanismen für eine direkte und partizipative Demokratie eingeschränkt.

In der neuen Verfassung hat der Begriff Demokratie einen integrativen und paritätischen Charakter: Demokratie soll hier direkt, partizipativ, gemeinschaftsbezogen und repräsentativ ausgeübt werden. Außerdem werden Institutionen der direkten Demokratie eingesetzt, wie regionale und kommunale Referenden und basisdemokratische Initiativen zur Einführung und Aufhebung von Gesetzen.

Im Hinblick auf die repräsentative Demokratie hat die Kommission für das Politische System beschlossen, das Präsidialsystem beizubehalten, aber das Mitspracherecht der Exekutive über die Ausarbeitung von Gesetzen zu verringern. Die wesentliche Änderung besteht darin, dass das Staatspräsidium seine Befugnisse für exklusive Gesetzesinitiativen verliert.

In der Legislative hingegen gab es wichtige Veränderungen. Von einem Zweikammersystem, in dem der Senat und die Abgeordnetenkammer bei der Gesetzgebung bisher gleichgestellt sind, der Senat aber auch wichtige Befugnisse bei der Ernennung von hohen Vertreter*innen der Republik hat, gibt es einen Wechsel zu einem asymmetrischen Zweikammersystem.

Diese neue Regelung bündelt die politische Dynamik in der Abgeordnetenkammer, die paritätisch und mit festgelegten Sitzen besetzt sein wird und dem heutigen Verfassungskonvent sehr viel ähnlicher ist als die derzeitige Abgeordnetenkammer. Was ihre Befugnisse betrifft, so konzentriert sie ihre Arbeit auf legislative Angelegenheiten, während der Senat abgeschafft wird und einer paritätisch und plurinational zusammengesetzten Kammer der Regionen Platz macht. Diese wird bei der Ausarbeitung von Gesetzen mit regionalen Beschlüssen mitwirken und in Angelegenheiten, die das Haushaltsgesetz, das Wahlsystem und die administrative und territoriale Aufteilung des Staates betreffen. Diese Änderung wurde von den konservativen politischen Eliten kritisiert, die das Ende einer Oligarchie kommen sehen, von der das Land in den letzten 200 Jahren regiert worden ist.

Ein weiterer wichtiger Ausdruck dieses neuen demokratischen Staates ist die politische, verwaltungstechnische und finanzielle Dezentralisierung, die sich im Aufbau eines Regionalstaates und in der Stärkung der lokalen Macht der autonomen Gemeinden widerspiegelt. Die Verankerung der politischen Entscheidungen in den verschiedenen Territorien ist ebenfalls Teil eines demokratischen Staates und lässt den dezentralisierten Einheitsstaat hinter sich, dessen Existenz nicht auf die Verfassung von 1980 zurückgeht, sondern ein historisches Merkmal der politischen und verfassungsrechtlichen Tradition Chiles ist.

Ebenso beschränkt sich die Demokratisierung in Chile nicht nur auf die «politisch» definierten Institutionen, sondern auch auf die Justiz, indem ihre hierarchische Struktur abgeschafft und die Verwaltung und Ernennung von Personen auf eine demokratischere Einrichtung wie den Justizrat übertragen wird. Einige autonome Ein-Personen-Direktionen, die weitgehend von der Exekutive abhängen (wie im Falle der Staatsanwaltschaft, der Strafverteidigungs- und Menschenrechtsbehörde), werden zu höheren Kollegialräten (consejos superiores colegiados), in denen die Zivilgesellschaft und der Kongress an der Besetzung beteiligt sind.

Einer der wichtigsten und weltweit herausragenden Fortschritte in diesem Prozess ist schließlich die Einführung der paritätischen Demokratie, die als Grundlage für die Beteiligung von Frauen nicht nur in basisdemokratisch gewählten Ämtern, sondern auch in allen staatlichen Institutionen geschaffen wurde.

Beginn der Wiedergutmachung von 500 Jahren Enteignung

Die Plurinationalität war eines der wichtigsten politischen Projekte dieses Verfassungskonvents. Sie kommt in der Anerkennung der Existenz der Völker und Nationen, die das Land bereits seit Langem bewohnen, und vor allem in der Anerkennung ihrer Selbstbestimmung zum Ausdruck. Diese beinhaltet das Recht auf die volle Ausübung ihrer kollektiven und individuellen Rechte.

Ausdruck dieses allgemeinen Grundsatzes ist die verfassungsmäßige Anerkennung des Rechts auf Autonomie und Selbstverwaltung aller in Chile lebender Völker, die Anerkennung ihrer eigenen Kultur, Identität und Weltanschauung, das eigene Erbe und die eigene Sprache; die Anerkennung der Ländereien, der Territorien, des Schutzes der Meeresgebiete, der Natur in ihrer materiellen und immateriellen Dimension und der besonderen Verbundenheit mit ihr. Ebenso das Recht auf Zusammenarbeit und Integration, die Anerkennung der eigenen oder traditionellen Institutionen und Behörden, autonome Gerichtsbarkeit sowie die uneingeschränkte Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Landes.

Das drückt sich auch in der Anerkennung indigener Rechtssysteme aus, ein Thema, das in anderen Staaten der Welt bereits existiert, in Chile aber noch nicht. Auf territorialer Ebene hat die Kommission für Staatsformfragen die Anerkennung autonomer indigener Territorien als Maßgabe für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eingebracht. Gleiches gilt für die Rechtsprechung zu Landtiteln, Territorien und zur Bewirtschaftung der natürlichen Gemeingüter.

Die Interkulturalität als Grundprinzip der neuen Verfassung besteht in der Anerkennung, Wertschätzung und Förderung des horizontalen und transversalen Dialogs zwischen den verschiedenen Weltanschauungen der Völker und Nationen, die in diesem Land in Würde und gegenseitigem Respekt zusammenleben. Der Staat muss die institutionellen Mechanismen gewährleisten, die diesen Dialog ermöglichen. Er tut dies indem er die bestehenden Asymmetrien beim Zugang, der Verteilung und der Ausübung von Macht sowie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens überwindet.

In anderen Kommissionen kam dies in der Art und Weise der Verhandlungen zum Ausdruck, in der Rechte wie das Recht auf Bildung, interkulturelle Gesundheit, das Recht auf Wohnen unabhängig von kultureller Zugehörigkeit sowie die Anerkennung verschiedener Wissenssysteme bearbeitet werden.

Schließlich wird die Plurinationalität im politischen System durch festgelegte Sitze bei Kommunal-, Regional- und Parlamentswahlen sowie durch die Einbeziehung der indigenen Völker in alle Institutionen, einschließlich des Nationalen Justizrates, durchgesetzt.

Unauflösbare Beziehung zwischen Natur und Mensch

Der Verfassungskonvent hat seine Arbeit vor dem Hintergrund einer Klima- und Umweltkrise aufgenommen – ein grundlegender Begriff angesichts der Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die erste Verfassungsnorm, die in diesem Sinne verabschiedet wurde, war die Verpflichtung des Staates, Maßnahmen zu ergreifen, um den durch die Klima- und Umweltkrise verursachten Risiken, Anfälligkeiten und Auswirkungen vorzubeugen, sich an sie anzupassen und sie abzumildern.

Ein weiterer wichtiger Fortschritt ist die Berücksichtigung der Rechte der Natur: die Achtung und den Schutz ihrer Existenz, die Regeneration, Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Funktionen und ihres dynamischen Gleichgewichts, einschließlich der natürlichen Kreisläufe, Ökosysteme und der biologischen Vielfalt. Dies kommt auch in einer Reihe von Regeln zum Ausdruck, die den Schutz der Umwelt und der Natur über die Ausübung bestimmter wirtschaftlicher Tätigkeiten und sogar über andere Rechte oder Freiheiten stellt.

Die Natur als Gegenstand der Rechtsprechung wirkt sich auch auf die Eigentumsfrage aus, insofern sie nicht mehr als «natürliche Ressource» gilt. Es werden Fortschritte bei der Anerkennung der Existenz natürlicher Gemeingüter erzielt, die nicht verwertbar sind und nur zur Erhaltung der Harmonie der Ökosysteme genutzt werden können. Die wichtigste Entwicklung in diesem Bereich liegt in der Regulierung des Wassers, das zu einem nicht verwertbaren Allgemeingut wird, indem sein lebenswichtiger Charakter anerkannt und seine Nutzung priorisiert wird.

Der Umweltausschuss hat auch Regelungsvorschläge unterbreitet, um für jedes der bestehenden natürlichen Gemeinschaftsgüter (Wasser, Bodenschätze, Wälder und Böden) ein Verfassungsstatut zu schaffen.

Schließlich wird ein Regelwerk für die Menschenrechte im Umweltbereich vorgesehen, das das internationale Escazú-Abkommen [zur Etablierung regionaler Transparenz- und Umweltstandards in Lateinamerika und der Karibik von 2021, Anm.d.Red.] als Ausgangspunkt nimmt und Umweltgerechtigkeit festschreibt, d. h. das Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen über Umweltfragen, den Zugang zu Gerichten, um die Rechte der Natur und die Menschenrechte zu verteidigen, und das Recht auf Beteiligung der Bevölkerung an der Entscheidungsfindung bei Projekten, die Auswirkungen auf Ökosysteme haben. Eine autonome Stelle für den Schutz der Rechte der Natur und eine weitere zur Erfassung eines Bewertungssystems sollen den bisher in diesem Bereich tätigen Autonomen Umweltrat ersetzen.

Die feministische Perspektive

Auch wenn sie nicht expliziter Teil der Definition des Staates ist, hat die neue Verfassung eine feministische Perspektive, die weltweit fortschrittlich ist. Das ist Ausdruck einer Kraft im Land, deren Kern feministische Organisationen sind, die auch bei der Entwicklung dieses Verfassungskonvents eine Schlüsselrolle gespielt haben.

Das kommt in einer Regelung zum Ausdruck, die die Kommission für Verfassungsgrundsätze eingebracht hat. Diese besagt, dass die neue Verfassung insbesondere die materielle Gleichstellung der Geschlechter sicherstellt und die Gleichbehandlung sowie gleiche Bedingungen für Frauen, Mädchen sowie für diverse Geschlechter gewährleistet. Geschlechtliche Vielfalt soll von allen staatlichen Stellen und Organisationen der Zivilgesellschaft respektiert werden.

In der Kommission für das Politische System wurde diese Perspektive in den Richtlinien zur paritätischen Demokratie verankert, die als demokratisches Minimum die Beteiligung von Frauen an allen staatlichen Institutionen als Untergrenze und nicht als Obergrenze festlegt.

Die Kommission für Justizsysteme hat bereits einen Artikel über die Geschlechterperspektive als Grundsatz des Nationalen Justizsystems verabschiedet, der in der Parität der Justizeinrichtungen sowie durch alle Gerichte berücksichtigt werden soll. Ergänzt wird dies durch die Perspektive der Intersektionalität, die dem gesamten Justizsystem zugrunde gelegt wird.

Ebenso wird die neue Verfassung die erste in der Welt sein, die den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch als Teil der sexuellen und reproduktiven Rechte anerkennt. Das ist ein Ergebnis der Bewegung für eine Verfassungsänderung «Será Ley» (Es wird Gesetz sein). Wie Feministinnen betonen, haben sie das, was der Kongress ihnen zuvor verweigert hat, mit einer Zweidrittelmehrheit im Verfassungskonvent erreicht. Der Gesetzestext zu sexuellen und reproduktiven Rechten wird durch eine Vorgabe zur ganzheitlichen Sexualerziehung und dem Recht auf Selbstbestimmung der eigenen Identität ergänzt. Diese Normen spiegeln eine Perspektive wider, die sich durch den gesamten Verfassungskonvent zieht.

Indigene Völker und Basisbewegungen

Die Grundsätze, die sich im bisherigen Verfassungsentwurf widerspiegeln, sind Teil der Kämpfe, die in der Vergangenheit von den Indigenen Völkern und Basisorganisationen Chiles geführt wurden. Es ist schwer zu sagen, wohin dieser Verfassungsprozess führt, aber es ist zweifellos ein Prozess, der uns voranbringt.

Dieser Prozess hat zu einem systematischen Angriff der wirtschaftlichen und politischen Eliten mittels ihrer Medienmaschinerie geführt, die es nicht einen einzigen Tag lassen konnten, die Arbeit des Verfassungskonvents zu diskreditieren. In den ersten Monaten lautete der Slogan der Mächtigen, dass die Konventsmitglieder «faul» seien und «nicht arbeiten» würden. Nach der Vorlage der normativen Vorschläge und der Verabschiedung der ersten Artikel des Entwurfs der neuen Verfassung lauteten die Vorwürfe «Maximalisten», «Revanchisten», «Ignoranten» und vieles andere mehr.

Sicher ist, dass sich in diesem Verfassungskonvent ein Kräfteverhältnis im politischen und sozialen Bereich herauskristallisiert, das Ausdruck der sozialen Proteste von 2019 ist. Es handelt sich nicht um ein maximalistisches oder neubegründendes Projekt, sondern um einen institutionellen Wandel, der eine politische Öffnung ermöglicht, durch die der ausgediente Neoliberalismus nach und nach zurückbleiben wird.

Der Entwurf der neuen Verfassung wurde am 16. Mai 2022 auf einer Plenarsitzung in der Stadt Antofagasta im Norden Chiles von der Präsidentin des Verfassungskonvents an die Harmonisierungskommission übergeben. In den nächsten Wochen werden neben dem Harmonisierungsausschuss auch der Ausschuss für die Übergangsnormen und der Präambelausschuss tagen. Die Arbeit des Verfassungskonvents endet dann am 5. Juli.

Trotz der in der Revolte zum Ausdruck gebrachten Kraft der Gesellschaft gab es bislang immer noch keine institutionellen Veränderungen, die die Demokratie erweitern oder den subsidiären Staat hinter sich lassen würden. Die Verabschiedung der neuen Verfassung wird nur der Ausgangspunkt für die Entwicklung eines politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems sein, das als solidarisch, demokratisch, ökologisch, feministisch, pluralistisch und interkulturell bezeichnet werden kann.

In der für den 4. September 2022 geplanten Volksabstimmung — auf den Tag genau 52 Jahre nach Salvador Allendes historischem Wahlsieg — wird das Volk an der Wahlurne entscheiden müssen, ob es diese neue Verfassung annimmt oder ablehnt. Jenseits der Spekulationen über den Ausgang des Plebiszits lohnt es sich, an die Worte Allendes zu erinnern, die eine der wenigen Gewissheiten in turbulenten Zeiten bieten: Soziale Prozesse kann man nicht aufhalten.