Die kurdische Frage und Friedenspolitik in der Türkei – was hat das mit Gender und queerer Politik zu tun? Warum für nachhaltige Friedensprozesse in der türkischen Gesellschaft ein intersektional kurdisch-queerer Blickwinkel wichtig ist, darüber sprachen wir mit der Aktivistin und Forscherin Irem Aki. Wie viele andere akademische Aktivist*innen in der Türkei wurde Irem exiliert, nachdem sie 2016 die bekannte Friedenspetition «We Will Not Be a Party to This Crime» unterzeichnet hatte. Ziel der Petition war es, die Öffentlichkeit auf die brutalen Gewalttaten des Staates in den kurdischen Gebieten der Türkei aufmerksam zu machen. Heute ist Irem Post-Doc-Stipendiatin am Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg und arbeitet zum Thema «Queering Transitional Justice and Peacebuilding». Mit ihr sprachen Maria Hartmann und Bahar Oghalai.
Irem, Du forschst zu Peacebuilding-Prozessen in der Türkei. Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen? Was ist dein Verständnis von Konflikt und Frieden in der Türkei?
Ich untersuche kurdisch-queere Politiken und ihren potenziellen Beitrag für einen Peacebuilding-Prozess in der Türkei. Man könnte denken: Warum braucht es überhaupt einen Friedensprozess in der Türkei? Und was hat das mit Gender-Fragen zu tun? Nun, ich betrachte Queer- und Gender-Politik als wichtiges Element, wenn es um ein breiteres, nachhaltigeres Verständnis von Frieden und einer friedlichen Gesellschaft geht. Wenn ich von Frieden spreche, verstehe ich ihn nicht als «das Gegenteil von Krieg». Ich spreche von einem positiven Verständnis von Frieden, das den Abbau struktureller Gewalt und Unterdrückung gegenüber verschiedenen Individuen, Identitäten und Gruppen als notwendigen Bestandteil für Frieden anerkennt. Formen struktureller Gewalt können sich auf Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder Kultur usw. beziehen. Wenn diese strukturelle Gewalt ignoriert wird, ist das eine Form des gesellschaftlichen Konfliktzustands, der noch lange nach der offiziellen Entwaffnung oder der Unterzeichnung eines Friedensabkommens bestehen kann.
Was bedeutet das nun für Peacebuilding-Prozesse in der Türkei? Wenn wir uns die Situation von Kurd*innen in der Türkei ansehen, sind viele sowohl strukturellen als auch direkteren Formen von Gewalt ausgesetzt. Zum Beispiel sind viele kurdische Politiker*innen immer noch im Gefängnis. Gewalt gegen Kurd*innen und Kurdisch sprechende Menschen ist allgegenwärtig. Die Anerkennung der kurdischen Sprache steht bis heute nicht auf der Tagesordnung des Staates. Und das bedeutet für mich, dass die Türkei nicht als friedliche Gesellschaft oder friedlicher Staat bezeichnet werden kann.
Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf Intersektionen von Rassismuskritik und Feminismus. Sie promoviert zu Politisierungsbiographien diasporischer Feminist*innen aus dem Iran und der Türkei in Deutschland.
Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika.
Der letzte Versuch einer Vergangenheitsbewältigung dieser Unterdrückungsmuster fand in der Türkei zwischen 2013 und 2015 statt. Der Prozess endete ohne eine Lösung des Konflikts, nicht zuletzt weil er von der Regierung blockiert wurde. Dennoch hat er ein wichtiges Erbe hinterlassen: Dinge, die lange Zeit tabuisiert waren, sind nun wieder auf dem Tisch und werden offen diskutiert. In gewisser Weise ist das Bedürfnis nach Frieden nie von der Tagesordnung der türkischen Zivilgesellschaft verschwunden. Dies zeigt, dass ein Peacebuilding-Prozess zwar nicht auf der offiziellen Agenda des türkischen Staates steht, aber sehr wohl auf der Agenda der Zivilgesellschaft. Nachhaltiger Frieden und eine friedliche Gesellschaft in dem oben beschriebenen Sinne werden nach wie vor gewünscht.
Warum ist es wichtig, die intersektionale Verknüpfung von kurdischer und queerer Politik in diesem Peacebuildung-Prozess zu berücksichtigen?
Die Geschlechterperspektive wird in der Friedensförderung schon seit langem verwendet. Für einen nachhaltigen Frieden sollten wir jedoch über den Gender-Blickwinkel hinausgehen und die Überschneidung verschiedener Identitäten und Erfahrungen, wie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, während und nach dem Konflikt berücksichtigen. In diesem Fall ist die Überschneidung von sexueller Orientierung, Geschlecht und ethnischer Identität kurdischer Queers zentral. Formen von Gewalt, denen Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Identitäten ausgesetzt werden, sind vielfältig. Die eine Art der Gewalterfahrung zu betrachten und eine andere zu vernachlässigen, würde nur das Kontinuum von Gewalt innerhalb der Gesellschaft vergrößern. Wenn wir über Peacebuilding sprechen, können wir die strukturelle Gewalt gegen Queers im Allgemeinen und kurdische Queers im Besonderen nicht ignorieren: Sie sind Gewalt ausgesetzt, weil sie queer und kurdisch sind. Dies bringt eine ganz besondere Erfahrung mit sich, die diskutiert und betrachtet werden muss.
Kannst du diese intersektionale Erfahrung von Gewalt etwas näher erläutern? Was ist das Spezifische daran?
Nun, um ein Beispiel zu nennen, wurden letztes Jahr in Istanbul fünf kurdische Trans*Frauen kurz nach einer Demonstration anlässlich des Internationalen Frauenkampftages verhaftet. Tatsächlich wurden sie verhaftet, lange nachdem sie die Demonstration bereits verlassen hatten. Sie wurden von der Polizei aus einem Taxi gezogen, mit Hausarrest und 3500 Lira wegen Verstoßes gegen das Gesetz zur öffentlichen Gesundheit belegt. Es war offensichtlich, dass sie verhaftet wurden, weil sie queer und kurdisch waren. Dies zeigt das Potenzial der Polizeigewalt, dem Menschen an der Schnittstelle dieser beiden Identitäten – queer und kurdisch – ausgesetzt sind. Darüber hinaus ist das Ausmaß der digitalen Gewalt gegen kurdisch-queere Menschen, insbesondere Drohungen und Verunglimpfungen in sozialen Medien, enorm.
Darüber hinaus sind kurdische Queers auch der Gewalt innerhalb der kurdischen Gemeinschaft ausgesetzt: «Du bist Kurd*in, du kannst nicht homosexuell sein. So etwas gibt es unter Kurd*innen nicht!» Kurdische Queers erfahren teilweise während der Newroz-Feiern/-Demonstrationen Gewalt, obwohl die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen diese Angriffe natürlich verurteilen. Eine kurdische queere Aktivistin sagte mir, dass sie sich selbst in erster Linie als queer oder trans* definieren würde, weil sie in ihrer eigenen Gemeinschaft nicht als Kurdin angesehen wird.
Wie ist der kurdisch-queere Kampf in der Türkei organisiert? Und was sind die Forderungen der Gemeinschaften und ihre spezifischen Herausforderungen?
Ein Teil der kurdisch-queeren Community ist in eingetragenen Vereinen organisiert. Leider bedeutet dies, unter staatlicher Kontrolle zu stehen. Das kann etwa dazu führen, dass sie das Wort Kurdistan und kurdische Begriffe in ihren Satzungen nicht verwenden dürfen. Ein Teil der kurdisch-queeren Community ist im HDK (Halkların Demokratik Kongresi) – dem Demokratischen Volkskongress – organisiert, einem Zusammenschluss verschiedener linker politischer Bewegungen und Minderheitengruppen.
Sowohl der HDK als auch die kurdische politische Partei HDP (Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker) haben LGBTI-Angelegenheiten ausdrücklich in ihrer politischen Agenda.
Andererseits haben kurdische Queers kritisiert, dass in Kriegszeiten die LGBTI-Bewegung und ihre Probleme leicht von der HDP-Agenda verschwinden. In Zeiten der Konflikteskalation und des Krieges werden Fragen der queeren Befreiung für die HDP zum Randthema. Man neigt dann dazu, sich mehr auf die kurdischen Fragen zu konzentrieren und sie zur Priorität zu machen. Für kurdische Queers sind jedoch beide Themen gleich wichtig, um einen nachhaltigen Frieden zu schaffen. Kurdische Queers nehmen zum Beispiel in ihren Kampagnen Begriffe wie «Rojava» und «Kurdistan» auf, die von der kurdischen politischen Bewegung verwendet werden, und verbinden sie mit queeren Themen. Ich habe ein Plakat gefunden, auf dem stand: «Kurdistan existiert - Homosexuelle existieren!» – also im Sinne von: «Auch wenn behauptet wird, es uns gäbe nicht – es gibt beides!»
Da es eine starke Verbindung gibt zwischen Männlichkeit, Militarismus und Krieg einerseits und der Diskriminierung von Minderheiten sowie Homo- und Transphobie andererseits, setzen sich die queere Bewegung in der Türkei und insbesondere kurdische Queers für eine Politik des Antimilitarismus und der Kriegsdienstverweigerung ein. In diesem Sinne ist die Polizeigewalt in Istanbul nicht unabhängig von der Gewalt gegen Kurd*innen in Diyarbakır, und der Krieg ist nicht unabhängig von Trans- und Homofeindlichkeit. Das ist es, was kurdische Queers betonen.
Was können wir von dem intersektionalen Ansatz kurdischer Queers lernen? Warum ist ihre Perspektive letztlich so relevant für die Befreiung der Gesellschaft im Hinblick auf die Schaffung eines nachhaltigen Friedens in der Türkei?
Eine der wichtigsten Errungenschaften der Verknüpfung von queerer und kurdischer Identität besteht in ihrer Kraft, Brücken zwischen Bewegungen und Identitäten zu schaffen: Sie hat die feministische und die LGBTI-Bewegung dazu gebracht, über ihren Tellerrand hinauszuschauen und sich vielfältiger mit sozialen und politischen Themen auseinanderzusetzen, aber sie hat auch die kurdische Bewegung dazu gebracht, ihren Horizont zu erweitern. Diese Verbindung macht die Komplexität von Identitäten und die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Verständnisses von Emanzipation sichtbar, das sich nicht auf eine einzelne Identität oder Forderung beschränken lässt. Es kann zum Beispiel nicht einfach eine sichere Blase für queere Menschen im kosmopolitischen Istanbul geschaffen werden, während dabei der Krieg im Osten der Türkei ignoriert wird. Dies ist eine sehr wichtige Botschaft, die ich aus dem intersektionalen Denken gelernt habe.