Kommentar | Rosa Luxemburg - Rosa-Luxemburg-Stiftung Denken ohne Geländer

Zum Kolloquium für Jörn Schütrumpf am 15. Juni 2022

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Autor

Michael Brie,

Jörn Schütrumpf beim Online-Festival zum 150. Geburtstag von Rosa Luxemburg: «Eine Ermutigung in Zeiten der Pandemie und anderer Katastrophen», 4./5. März 2021
Jörn Schütrumpf beim Online-Festival zum 150. Geburtstag von Rosa Luxemburg: «Eine Ermutigung in Zeiten der Pandemie und anderer Katastrophen», 4./5. März 2021 CC BY 2.0, Rosa-Luxemburg-Stiftung, via Flickr

Lieber Jörn,

wir sind beide in einer sehr verwirrenden Lage – ich, weil ich gebeten wurde, heute hier zu sprechen, Du, weil Du Dir dies wirst anhören müssen.

Unvermutet befinden wir uns beide in einem Spiegelsaal. Ich soll Dein Wirken spiegeln und Du wirst in diesem Spiegel weniger Dich selbst als mich sehen, was ich wiederum in Deinem Blick auf mich sehen werde. Dies ließe sich fortsetzen. Wir kennen diese fast unendliche Reihe von gegenüberliegenden Spiegeln, in denen man zu verschwinden droht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

eines werde ich bestimmt nicht tun: Jörns bisheriges Werk als Historiker und streitbarer Publizist auch nur ansatzweise als Ganzes würdigen. Dazu ist es vor allem und glücklicherweise im ständigen Werden, im dialektischen Fluss. Meinen heutigen Versuch möchte ich vielmehr als Moment in einem lebendigen Dialog verstehen.

Erich Fromm hat von «Seinsmenschen» gesprochen im Gegensatz zu jenen, die ihren Selbstwert im Haben zu finden glauben. Für mich ist Jörn die Inkarnation eines Seinsmenschen, was eben auch heißt, dass er uns herausfordert, provoziert, zutiefst beunruhigt. Für Seinsmenschen, so Fromm, gelte:

«Er wirkt im Gespräch lebendig, weil er sich selbst nicht durch ängstliches Pochen auf das, was er hat, erstickt. Seine Lebendigkeit ist ansteckend, und der andere kann dadurch häufig seine Egozentrik überwinden. Die Unterhaltung hört auf, ein Austausch von Waren (Informationen, Wissen, Status) zu sein, und wird zu einem Dialog, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer recht hat. Die Duellanten beginnen, miteinander zu tanzen, und sie trennen sich nicht im Gefühl des Triumphs oder im Gefühl der Niederlage, was beides gleich fruchtlos ist, sondern voll Freude.» (Fromm 2005: 43)

Die letzten Wochen habe ich im Dialog verbracht mit Jörn. Ich habe viel gelesen, viel zu viel, als dass ich es heute auch nur erwähnen könnte. Jeder der Artikel oder Bücher ist durch eine harte, aufrüttelnde Sprache geprägt, wirft Licht auf Ereignisse, Personen, spannt oft große Bögen. Ständig wollte ich ihn anrufen, nachfragen, mehr wissen, vor allem aber auch im Nachdenken widersprechen. Ja, verdammt, Du hast recht, aber …! Ich werde den Teufel tun, Jörn heute zu würdigen wie einen, der mit sich und der Welt fertig ist und mit dem man einen Abschluss finden könnte.

In einem Artikel für Utopie kreativ, jener Zeitschrift, die Jörn gemeinsam mit einem Kreis Vertrauter nach 1990 entwickelt hat, erschien 2005 ein Artikel von ihm unter dem von Hannah Arendt entliehenen Titel «Denken ohne Geländer». Der Artikel stellt im Untertitel die hoffende Frage «Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?» und beginnt mit wenigen Sätzen, in denen ich Jörns zentrales Anliegen ausgedrückt fand:

«Fast 90 Jahre lang bewegte sich in Deutschland die sozialistisch internationalistische Linke eingekeilt zwischen der Russischen Revolution einerseits und der SPD andererseits. Nun scheint sich auch für sie das 20. Jahrhundert dem Ende zuzuneigen. Allerdings: In einer Situation, in der viele Linke nur noch ‹nach vorn› schauen, wird manches Mal vergessen, dass es von Gewinn sein kann, wenn man nicht verdrängt, auf welchem Erbe man – freiwillig oder auch unfreiwillig – steht. Sonst läuft man möglicherweise Gefahr, die Zukunft in der falschen Richtung zu vermuten – und verirrt sich plötzlich in die eigene Vergangenheit.» (Schütrumpf 2005: 771)

Das, was ich heute sagen will, ist Teil eines lange schon dauernden Gesprächs, das sich fortsetzen soll, noch intensiver, noch lustvoller, noch ergebnisreicher. Die Linke war historisch – und wer wüsste das besser als Jörn Schütrumpf – selten gut darin, im Gespräch zu sein. Allzu oft haben Linke die Schwäche in der Gesellschaft durch Härte und Unbarmherzigkeit im Umgang mit den eigenen Genoss*innen kompensiert. Heute wieder. Aber ohne ein gemeinsames Gespräch gibt es keine gemeinsame Zukunft. Diese Zukunft jedoch – und deshalb sind wir heute gemeinsam hier – werden wir mit Jörn an der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben, deren Geist sehr deutlich von ihm geprägt ist und weiter geprägt sein wird.

In Walter Benjamins Passagen-Werk las ich:

«Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muss jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichts anderm handeln. […] Die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen ist der Kanon der Dialektik. Sie ist vorbildlich für den Denker und verbindlich für den Historiker.» (Benjamin 1982: 589)

Jörns Wirken als Historiker ist ganz dem Erwachen aus dem 20. Jahrhundert gewidmet. Liest man seine vielen Bücher, Essays, Artikel, so sind bei ihm die Spuren der Träume wie der Albträume nicht geglättet, sind die Faszination wie das Entsetzen, die Sympathie wie der Hass nicht getilgt. Jörns Traumarbeit ist kein behagliches Einrichten im neuen Tag, kein Wegreden der Verletzungen. Er weiß wie ganz wenige, dass es ohne die schmerzhafte, brutal sich selbst gegenüber ehrliche und genauso sozial- wie psychoanalytische Durcharbeitung der Traumelemente insbesondere der sozialistischen und bolschewistischen Geschichte des 20. Jahrhunderts keine Erneuerung des Sozialismus im 21. Jahrhundert geben kann. Wie Benjamin sucht Jörn das im Sozialismus des 20. Jahrhunderts angelegte Uneingelöste als Auftrag an die eigene und kommende Generationen zu verstehen.

Bei Walter Benjamin habe ich auch gelesen: «Die jeweils Lebenden erblicken sich im Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten. Der Historiker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenen zu Tische lädt.» (Ebd.: 603) Neben Paul Levi, Jenny Marx, Clara Zetkin, den Dunckers – die Liste ist viel länger – war es vor allem Rosa Luxemburg, die Jörn für uns zu Tische lud. Es geht ihm um das Uneingelöste in ihrem Leben und Werk. Luxemburg wusste es ja selbst und schrieb am 7. Januar 1917 an Hans Diefenbach: «Also seien Sie auf alles gefasst. Ich weiß noch gar nicht, was alles aus mir wird, ich bin ja, wie Sie wissen, […] ein Land der unbeschränkten Möglichkeiten.» (Luxemburg 1987: 157)

Ich könnte jetzt Jörns Wirken für die internationale Rosa-Luxemburg-Forschung und -Edition sowie die politische Bildung zu ihr hervorheben, möchte aber qua eigener Neigung zwei inhaltliche Aspekte ins Zentrum rücken. Erstens hat Jörn als Erster und wohl auch Einziger die Revolutionstheorie von Luxemburg untersucht. Die Voraussetzungen dafür waren dadurch, dass er die marxistische Schule der Revolutionstheorie der DDR durchlaufen hat, die nicht zuletzt durch Walter Markov und Manfred Kossok geprägt war, exzellent.

Rosa Luxemburg hatte das große Glück, Teilnehmerin und Zeugin der ersten großen Revolution im 20. Jahrhundert zu sein – der Russischen Revolution von 1905. Jörn verweist immer wieder darauf, dass diese Revolution erst mit der Neuen Ökonomischen Politik Lenins und dann der Stalin'schen Wende von 1928/29 ihren relativen Abschluss fand. Der Bogen wird von ihm sogar bis zu Chruschtschow, Gorbatschow, Jelzin gespannt. In seinen auf Luxemburg bezogenen Analysen hat uns Jörn die 1905/06 von ihr entwickelten revolutionsstrategischen Überlegungen in ihrer fundamentalen Bedeutung erschlossen. Damit wurde ein Horizont des historisch Möglichen und Vorgedachten jenseits der alten Frontstellung von Lenin und Trotzki oder Kautsky aufgezeigt.

Luxemburg sah wie Lenin, Trotzki oder auch Kautsky den Übergangscharakter der Russischen Revolution. Sie rückte aber, wie Jörn nachgewiesen hat, einen völlig anderen Aspekt in den Vordergrund und knüpfte dabei an ihre Positionen im Revisionismusstreit an. Natürlich müsse die russische Arbeiterklasse die Macht übernehmen. Und gerade dadurch, dass «sie sich auf der Höhe ihrer Aufgaben erweisen wird, das heißt durch ihre Aktionen den Verlauf der revolutionären Ereignisse bis an die äußerste, durch die objektive Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegebene Grenze heranführen wird», warte «auf sie an dieser Grenze fast unvermeidlich eine große vorübergehende Niederlage» (GW 2: 231). Diese Niederlage wäre in ihren Augen nicht Folge einer fehlerhaften Strategie, sondern Resultat von deren Erfolg! Sie ging davon aus, dass es in der Revolution darauf ankommt, «die Verhältnisse innerhalb der Fabrik und der Gesellschaft weitmöglich» zu revolutionieren, denn «desto weniger wird die Bourgeoisie gleich nach der Revolution in der Lage sein, das Erreichte zurückzudrängen» (AR: 208). Nur die entschiedene revolutionäre Tat könne sichern, dass nach der Revolution selbst die Reaktionäre das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen können (vgl. ebd.: 259 ff.). Der «bürgerliche Republikanismus in Frankreich» sei «geschichtliches Produkt einiger aussichtsloser Diktaturen des Proletariats» (ebd.: 261) und der Liberalismus würde dann wieder erstarken, wenn es darum geht, «dem Proletariat dessen Errungenschaften zu nehmen» (ebd.: 263).

Jörn Schütrumpf fasst Luxemburgs Auffassung so zusammen:

«Fällt die Revolution auf oder gar vor ihren Ausgangspunkt zurück, herrschen also noch reaktionärere Zustände als vor der Revolution […] oder kommt der Rückschlag zum Stehen, ehe er den Ausgangspunkt erreicht hat? In diesem Punkt entscheidet sich, ob eine Revolution als siegreich oder gescheitert erlebt und bewertet wird. Deshalb plädierte Rosa Luxemburg für ein maximales Ausschlagen der Revolution nach links, bis hin zu einer Diktatur des Proletariats – im klaren Bewusstsein, dass diese sich nicht würde halten können. Die Funktion dieser Diktatur war im Verständnis von Rosa Luxemburg nicht zuvorderst die Freisetzung sozialistischer Elemente, sondern die Abfederung des Rückschlages […].» (Schütrumpf 2018a: 77)

Jörn nennt dies die Engels-Luxemburgische Revolutionsauffassung, denn Luxemburg konnte auf die Auffassungen von Engels nach der Revolution von 1848/49 zurückgreifen. Die Regierung, so Luxemburg, müsse dezidiert sozialistisch sein, eine Regierung des «sozialistischen Proletariats», das die führende Rolle in der Revolution habe. Die Konstituante dagegen müsse aus freien Wahlen der gesamten Bevölkerung hervorgehen (ebd.: 24 f.). Ihre Schlussfolgerung:

 «So sind also die Provisorische Arbeiterregierung, die als erste Machtstruktur aus dem Schoß der Revolution hervorgeht, und die Verfassungsgebende Versammlung, die von der gesamten Bevölkerung gewählt wird, um unter dem Schutz und der Obhut der Provisorischen Regierung die Verfassung auszuarbeiten, diejenigen Organe, die berufen sind, die Bestrebungen und die Aufgaben der Revolution durchzusetzen, und die die politische Freiheit gleich nach dem Sieg einzuführen haben.» (Ebd.: 25) Sie ging auch davon aus, dass die Mehrheit in der Konstituante nicht bei den Sozialisten liegen würde, und verlangte, dass auch auf Dauer der Kampf «nicht völlig von der Straße in den geschlossenen Versammlungssaal» (ebd.: 35) übergehen dürfe. In diesem Verständnis ist die sozialistische Diktatur des Proletariats der auf Zeit berechnete Geburtshelfer einer möglichst bürgerlichen Ordnung mit starken und selbstorganisierten Kräften der Arbeiterklasse. Wie Jörn schreibt:

«Ohne politische Freiheiten – also ohne Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Assoziations- und Organisationsfreiheit, kurz: ohne einen durch einen Rechtsstaat politisch und juristisch gesicherten öffentlichen Raum – blieb für Rosa Luxemburg jeglicher Kampf um den Sozialismus ein Absurdum.» (Schütrumpf 2018a: 78; Hervorh. M.B.)

Jörn und mich eint diese Erfahrung des Absurden: Zu leben in einem Staat, der sich sozialistisch nannte, der sich auf die Traditionen der demokratischen Arbeiterbewegung bezog, auf Marx wie Engels, und auch, oft widerwillig, auf Luxemburg, aufzuwachsen und sich zu engagieren in diesem Staat für Sozialismus und doch blockiert zu sein, weil der öffentliche Raum fehlte, der unverzichtbar ist für sozialistisches Denken und Handeln. Mit Volker Braun gesprochen, verloren wir 1990 etwas, das wir nie hatten und dem wir doch verpflichtet waren und sind – demokratischen Sozialismus.

Gerade erst hat Jörn im VSA-Verlag, unserem sehr treuen Partner über 30 Jahre, «Die Russische Revolution» mit Texten von Luxemburg und Levi neu herausgegeben und eingeleitet. In dieser Einleitung heißt es:

«Diese Engels-Luxemburgische Revolutionsauffassung ist – soweit der Überblick reicht – bis heute nie zur Kenntnis genommen, geschweige denn auf ihren Gehalt geprüft worden; von einer Rezeption kann ohnehin keine Rede sein. Rosa Luxemburg setzte diese Revolutionsauffassung in ihrem Fragment über die Russische Revolution voraus, ohne zu erkennen zu geben, dass das Fragment ohne die Engels-Luxemburgische Revolutionsauffassung überhaupt nicht verstanden werden kann und geradezu zwangsläufig jegliche Rezeption in die falsche Richtung geht. Das erklärt sich bis zu einem gewissen Grad aus der Tatsache, dass der Text nicht vollendet worden ist, aber auch aus den Adressat*innen, an die sich Rosa Luxemburg mit diesem Text wenden wollte: an die deutschen Arbeiter*innen.» (Schütrumpf 2022: 12)

Mit den Analysen zu Luxemburg, verbunden mit intensiver Erforschung und Erschließung der Quellen und editorischer Arbeit hat Jörn es vermocht, die andauernde Provokation Luxemburgs für uns in einer vorher nicht vorhandenen Tiefe zu erschließen. Um noch einmal Walter Benjamin zu zitieren:

«Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.» (Benjamin 1982: 588)

Luxemburg sollte uns tatsächlich nicht selbstgefällig als Bestätigung dienen, sondern existenziell beunruhigen und zu Bewusstsein bringen, in welcher Krise wir sind.

Mich haben Jörns Analysen zu Luxemburgs Schrift «Zur russischen Revolution» selbst in eine kritische Lage gebracht, und dies drückt sich in einem «Ja, verdammt, aber …» aus. Du belegst meines Erachtens nicht wirklich, dass die Revolutionsauffassung von 1905/06 dem Gefängnistext von 1918 noch zugrunde liegt. Über den Lauf von anderthalb Jahren nach der Februarrevolution von 1917, so meine Sicht, scheint sich bei Luxemburg eine Verschiebung der Argumentation zu vollziehen. Im Spartacus Nr. 4 vom 4. April 1917 knüpft sie noch direkt an die Position von 1905/06 an: Es wird vor einer antiliberalen Wendung der Bourgeoisie gewarnt und es heißt:

«Die Revolution in Russland hat […] im ersten Anlauf über den bürokratischen Absolutismus gesiegt. Aber dieser Sieg ist nicht das Ende, sondern nur ein schwacher Anfang. Denn einerseits muss sich die rückläufige Bewegung der Bourgeoisie von ihrem momentanen vorgeschobenen Posten des entschlossenen Liberalismus mit unvermeidlicher Logik aus ihrem allgemeinen reaktionären Charakter und ihrem Klassengegensatz zum Proletariat über kurz oder lang ergeben. Andererseits muss die einmal geweckte revolutionäre Energie des russischen Proletariats mit ebenso unvermeidlicher geschichtlicher Logik wieder in die Bahn einer extrem demokratischen und sozialen Aktion einlenken und wieder das Programm von 1905: demokratische Republik, Achtstundentag, Enteignung des Großgrundbesitzes usw., aufrollen.» (Luxemburg 1974a: 243 f.)

Luxemburg warnt in dieser Zeit davor, dass Kleinbürgertum und Bauerntum bald «dem städtischen Proletariat in den Rücken fallen werden» (Luxemburg 1974b: 280). Mit der Übernahme der Regierung in Petrograd durch die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionär*innen rückte meines Erachtens bei Rosa Luxemburg immer stärker die Besorgnis in den Vordergrund, dass der Verlauf der Russischen Revolution sich negativ auf die in ihren Augen alles entscheidende Entwicklung in Deutschland auswirken könnte. Angesichts der Verträge zwischen der bolschewistischen Regierung und dem Deutschen Kaiserreich schrieb sie im September 1918:

«Eine Allianz der Bolschewiki mit dem deutschen Imperialismus wäre der furchtbarste moralische Schlag für den internationalen Sozialismus, der ihm noch versetzt werden könnte.» (Luxemburg 1974c: 389 f.)

In den Artikeln von 1918 und vor allem in ihrer Schrift «Zur russischen Revolution» hat Luxemburg meiner Ansicht nach ihre Ausgangsposition, die auf 1905/06 zurückgeht, dass in Russland ein sozialistisches Proletariat mit den Mitteln einer sozialistischen Diktatur die bürgerliche Revolution vollziehen müsse und dann die Regierungsmacht wieder verlieren würde, aber nicht mehr verfolgt. Zu diesem Zeitpunkt kritisierte sie die Bolschewiki genau dafür, dass sie kein dezidiert sozialistisches ökonomisches Programm realisierten, sondern ganz im Gegenteil sogar die bürgerliche Revolution auf dem Dorfe in Russland faktisch vollendeten, indem sie das Programm der Sozialrevolutionäre übernahmen und damit «auf dem Lande eine neue mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen [haben], deren Widerstand viel gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adligen Großgrundbesitzer war» (Luxemburg 1974d: 345). Auch die Abtrennung von bürgerlichen Nationalstaaten vom Russischen Reich zeigte für sie in die gleiche nichtsozialistische Richtung. Luxemburg argumentierte in ihrer Schrift «Zur russischen Revolution» mit logischer Stringenz ganz im Sinne der Sicherung sozialistischer Macht in Russland mit sozialistischen Mitteln und hoffte zugleich, dass eine Revolution in Deutschland dies auf Dauer stellen könne.

Luxemburg forderte so unter anderem ganz im Gegensatz zur Agrarreform die bolschewistische Regierung dazu auf, eine «sozialistische Wirtschaftsreform» in Stadt und Land durchzusetzen. Ich will dies mit einem etwas längeren Zitat belegen:

«Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverhältnisse setzt in Bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus. – Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden, die allein dem Ausgangspunkt, der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande, dienen kann. Wenn man natürlich dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen braucht und es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluss und schließlich für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so muss jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverständlich mit dem Groß- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muss hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen; denn nur dies gewährt die Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach zusammenhängenden großen sozialistischen Gesichtspunkten zu organisieren.

Zweitens aber ist eine der Voraussetzungen dieser Umgestaltung, dass die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen.» (Luxemburg 1974d: 342 f.)

Luxemburg war jetzt offensichtlich der Auffassung, dass «mit eiserner Hand» geschaffene sozialistische Produktionsverhältnisse ein autonomes Verhalten der Proletarier hervorbringen, das diese Verhältnisse stärkt, stützt und zu ihrem Ausbau beiträgt. Sie verteidigt auch nicht Demokratie und Freiheit, weil dies der Kampfboden in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft Russlands sei, sondern als lebendigen Grund eines Sozialismus, dessen Eigentumsordnung sie mit der gemeinsamen Verfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel identifiziert. Ihre Perspektive ist meiner Überzeugung nach nicht die demokratische bürgerliche Ordnung, sondern der demokratische Sozialismus, den sie von einer Revolution erwartete, die nach Russland auch Deutschland erfasst. Für eine solche Revolution hatte aber niemand ein Konzept, das einen Praxistest hätte bestehen können.

Unser anhaltend schmerzhaftes Erwachen aus dem Sozialismus des 20. Jahrhunderts hängt genau damit zusammen, dass wir begreifen müssen, dass sich das Sozialismusverständnis von Marx wie Engels, von Kautsky wie Luxemburg, von Lenin wie Trotzki für die Akteure, die sozialistisch eingreifen wollten, als Falle erwies. Dieses Sozialismusverständnis war nicht auf die Widersprüche eines sich verwirklichenden Sozialismus vorbereitet. Die Widersprüche waren weggedacht worden. Auch Luxemburg überbrückt sie in ihren Artikeln und im Programm des Spartakusbundes mit dem Plädoyer für einen revolutionären Enthusiasmus der Massen.

Im Erwachen aus dem 20. Jahrhundert müssen wir uns, wenn wir Sozialistinnen und Sozialisten bleiben wollen, unter anderem folgende Fragen stellen: Welche Eigentumsordnung kann die gemeinschaftliche Verfügung über die Fundamente der Freiheit mit der Selbstorganisation des wirtschaftlichen Lebens und dem dazu notwendigen Unternehmerischen verbinden? Wie können die Formulierung eines starken Willens aller, der notwendig ist, um eine grundsätzliche ökosoziale Transformation der Produktions- und Lebensweise durchzusetzen, und die demokratische Selbstverwaltung der Vielen zusammenfinden? Wie kann die Hegemonie der Solidarität gesichert werden, ohne die Freiheit zu unterdrücken? Bei Luxemburg sind diese Aufgaben das angelegte Uneingelöste. Es sind fundamentale Widersprüche zu vermitteln.

Luxemburg zeichnete aus, dass sie die Aporien des demokratischen Sozialismus auf den Punkt brachte. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, was passiert, wenn diese Aporien nicht dialektisch bearbeitet werden. Nur das Erwachen aus Sozialismusvorstellungen des 20. Jahrhunderts, die zu einem geistigen Gefängnis wurden, kann strategisch eingreifendes Handeln von links im 21. Jahrhundert ermöglichen. Die Aufgabe eines neuen, unserer Zeit angemessenen Sozialismusverständnisses wird neuen Generationen auferlegt. Jörns Analysen zu Rosa Luxemburg sind dafür absolut unverzichtbar.

Lieber Jörn,

ich möchte noch einen zweiten kurzen Blick im Spiegel auf Dich werfen. In den letzten Wochen, als ich Deine Einleitungen zu der großen Ausgabe der Schriften von Paul Levi las, habe ich mich gefragt, warum Du ihm derart historische Gerechtigkeit gewährt und ihn wieder in das geschichtliche Bewusstsein der deutschen Linken zurückgeholt hast. Noch einmal und nun auch zum letzten Mal Walter Benjamin: «Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.» (Benjamin 1982: 576)

Ich blicke voraus auf die Biografie Paul Levis, die in Jörns langer Literaturliste noch fehlt, und für die so vieles durch ihn schon im Detail vorgearbeitet ist. Jörn bringt sein Verständnis Levis auf den folgenden Punkt, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart begegnen:

«Levi war […] der letzte Schüler Rosa Luxemburgs; mit seinem Tod 1930 endete ein Intermezzo in der Arbeiterbewegung, das Anfang der 1890er-Jahre in den Köpfen zweier junger Leute mit Namen Leo Jogiches und Rosa Luxemburg in Zürich begonnen hatte. Niemals danach sind Emanzipation, Revolution und Demokratie so konsistent – nicht nur zusammengedacht, sondern auch – in der Politik verfolgt worden.» (Schütrumpf 2018b: 35)

Da genau dies der Anspruch ist, dem Du Dich selbst verpflichtet hast – Emanzipation, Revolution und Demokratie zu verbinden –, machst Du in Levi deutlich, was verloren wurde und neu entstehen muss. Wenn ich Deine Ausführungen über Levi lese, sehe ich Dich im Spiegel. Es stellt sich wieder die Frage: Wie löst man das Uneingelöste, aber unbedingt Einzulösende ein, wenn es im Augenblick uneinlösbar ist? Die Herausgabe der Werke von Paul Levi ist eine von Jörns Antworten auf diese Frage. Eine solche Antwort mag absurd erscheinen. Man kann ja nicht wissen, welche Bedeutung der Stein hat, den Jörn da in zehn Jahren einen sehr hohen Berg hinaufgewälzt hat. Jörn, so habe ich immer wieder erfahren, macht sich keine Illusionen darüber, er könne dies begründet sagen. Aber er hat den Stein nach oben bewegt. Und nun liegt ein neuer unten. Ich möchte mit Albert Camus schließen:

«Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! […] Sisyphos […] lehrt uns die höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. […] Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» (Camus 2000: 160)

So erblicke ich auch Dich, lieber Jörn – glücklich, trotz alledem!

Literatur

Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt a. M.

Camus, Albert (2000): Der Mythos des Sisyphos, Reinbek.

Fromm, Erich (2005): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München.

Luxemburg, Rosa (1974a): Die Russische Revolution, in: Gesammelte Werke, Berlin, S. 242–245.

Luxemburg, Rosa (1974b): Brennende Zeitfragen (1917), in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, S. 275–290.

Luxemburg, Rosa (1974c): Die russische Tragödie, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, S. 385–392.

Luxemburg, Rosa (1974d): Zur russischen Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin, S. 332–365.

Luxemburg, Rosa (1987): Brief an Hans Diefenbach vom 7. Januar 1917, in: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin, S. 156–159.

Schütrumpf, Jörn (2005): Denken «ohne Geländer». Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?, in: Utopie kreativ 179, S. 771–780.

Schütrumpf, Jörn (2018a): Zwischen Liebe und Zorn: Rosa Luxemburg, in: ders. (Hrsg.): Rosa Luxemburg oder: Der Preis der Freiheit, Berlin, S. 11–100.

Schütrumpf, Jörn (2018b): Von Hechingen nach Moskau – aus der Provinz an die Peripherie, in: ders. (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Reden und Briefe, Band I/1, Berlin, S. 33–80.

Schütrumpf, Jörn (2022): «Das schwerste Gewicht, das heute auf dem Sozialismus lastet, heißt Russland …». Vorbemerkung, in: ders. (Hrsg.): Die Russische Revolution. Neuausgabe einer viel zitierten, aber selten gelesenen Schrift, Hamburg, S. 7–25.