Nachricht | Libanon / Syrien / Irak - Ernährungssouveränität Krieg und Landwirtschaft im Irak und in Kurdistan

Bäuer*innen kämpfen um ein selbstbestimmtes Leben

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Autorin

Schluwa Sama,

Landschaft südlich von Bagdad mit Blick auf den Tigris Foto: Schluwa Sama

Krieg und imperiale Gewalt haben nicht nur die politischen Strukturen innerhalb der irakischen Gesellschaft beeinflusst, sondern auch maßgeblich die heutigen landwirtschaftlichen Verhältnisse geprägt. Historisch waren die Landwirtschaft und die Reproduktionsarbeit der Bäuer*innen in Kurdistan ein wichtiger Faktor für die Aufrechterhaltung des Widerstandes gegen das ehemalige Ba’ath Regime von Saddam Hussein. Heute hat Krieg, ob im Zentralirak oder in Kurdistan, weiterhin verheerende Folgen für die Sicherheit von Bäuer*innen.

Bäuerliche Landwirtschaft als zentraler Bestandteil des Widerstands gegen das Ba’ath Regime

Ayshe, eine Bäuerin aus der Provinz Dohuk, erzählt, wie die gesamte kurdische und irakische Opposition in den 1990er Jahren in ihrem Dorf zu Gast war. «Fast jeden Abend klopften verschiedene Peshmerga[1] an die Tür. Wir haben ihnen Essen gebracht, Schlafplätze eingerichtet, manchmal ihre Sachen gewaschen.» Viele Dörfer in Kurdistan liegen in der Nähe von Bergen und waren daher nahezu unzugänglich für die irakische Armee. Dafür war es aber auch schwer, an Essen zu kommen. Das meiste wurde selbst angebaut. Andere Dinge wie zum Beispiel Tee und Zucker schmuggelten Ayshe und andere Frauen aus Städten in die Dörfer.

Die 1990er Jahre waren nicht nur vom Widerstand gegen das Ba’aath Regime, sondern auch von einer Phase internationaler UN-Sanktionen gegen den Irak geprägt. Diese hielten bis zum Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 an. Die Sanktionsphase hatte schlimme Folgen nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch insgesamt für die Bevölkerung: 1,7 Millionen Iraker*innen, darunter 500.000 Kinder unter 5 Jahren, sind aufgrund der unzureichenden Ernährungssituation gestorben. UNICEF berichtet von einer Million Kinder, die chronisch unterernährt waren. Auch wegen dieser Zahlen wird dieser Krieg häufig als unsichtbarer Krieg («invisible war»[2]) bezeichnet.

Dr. Schluwa Sama hat zur politischen Ökonomie des Irak mit einem Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer*innen im Irak an der University of Exeter promoviert. Sie arbeitet als Programmmanagerin für das Beirut-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Mit der Einführung des «Oil-for-Food Programms» 1997 verbesserte sich die Situation etwas. Dabei wurde Iraks Öl gegen Lebensmittel eingetauscht, die aus dem Ausland importiert und anschließend an Familien im Irak verteilt wurden. Lokale Ernten irakischer Bäuer*innen wurden dabei nicht gekauft und damit wurde die Landwirtschaft vor Ort weiter marginalisiert. In der Sanktionsphase wurde das Fundament für das heutige Landwirtschafts- und Ernährungssystem gelegt, in dem die lokal erzeugten Nahrungsmittel oftmals preislich nicht mit den importierten Waren konkurrieren können. Diese Abhängigkeit verdeutlicht die Dringlichkeit der Umsetzung von Ernährungssouveränität in der Region und damit des Aufbaus eines lokalen Agrar- und Ernährungssystems als Basis einer selbstbestimmten Lebensweise.

Krieg: Al-Qaeda im Zentralirak, türkische Bomben in Kurdistan

Der «invisible war» aus der Sanktionsphase setzte sich nach 2003 in weiteren Kriegen fort, die bis heute andauern. Ahmed, ein Bauer aus Yousefiya, ein Ort südlich von Bagdad, berichtet, wie 2007 al-Qaeda die Kontrolle über Teile von Yousefiya übernahm: «Wir wurden gezwungen, unsere Ernten zu den großen Markthallen zu bringen, um sie dort zu verkaufen. Diese waren von der Mahdi-Armee[3] kontrolliert. Wenn wir diese Strecke gefahren wären, wären wir ermordet oder entführt worden.» Dadurch wurde der Verkauf der Ernte in dieser Zeit sehr schwierig. Ein ähnliches Problem stellte sich 2014 noch einmal, als die al-Qaeda-Nachfolgeorganisation, der IS, sich im Irak ausbreitete. Dieses Mal waren die Menschen in Yousefiya jedoch vorbereitet auf eine neue Welle der Gewalt: «Viele Menschen hatten nach der US-Invasion den Bürgerkrieg erlebt und die Gewalt von al-Qaeda. Als der IS kam, haben sich viele junge Menschen in Yousefiya erfolgreich gegen den IS gestellt und die Region verteidigt. Der IS war zwar in der Nachbarregion, konnte jedoch nicht in Yousefiya eindringen», erzählt Ruzgar, ebenfalls ein Bauer und politischer Aktivist aus Yousefiya. In der gesamten Zeit flohen viele Menschen, sie wurden gekidnappt oder gar getötet. In der Folge brach nahezu die gesamte lokale landwirtschaftliche Erzeugung zusammen.

Auch in Irakisch-Kurdistan ist landwirtschaftliche Arbeit bis heute gefährlich. Fast jedes Jahr gibt es im Frühling Militäroperationen der türkischen Armee gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die ihre Rückzugsgebiete hauptsächlich in den Kandil-Bergen in Irakisch-Kurdistan hat. «Das schafft ein Klima der Angst. Vor einigen Tagen wurden sogar Kinder bei einem einfachen Dorffest getötet», erzählt Araz, ein Bauer aus der Region Dohuk. Die lokalen Sicherheitsbehörden bieten entweder kaum einen Schutz für die Menschen oder sie kollaborieren sogar mit dem türkischen Sicherheitsapparat, der ein Dutzend Militärbasen in Irakisch-Kurdistan aufgebaut hat. «Wir haben hier täglich Drohnen über uns herumkreisen und Bomben, die herunterfallen.»

Staudammpolitik der Türkei und Wasserknappheit im Irak

Die türkische Politik bedroht nicht nur die Sicherheit und die Landwirtschaft in Kurdistan, sondern auch im Rest des Irak, wo das Wasser zunehmend knapp wird. Mit dem Bau des Ilısu-Staudamms in den kurdischen Gebieten der Türkei fließen nur noch 45 Prozent der Wassermassen des Tigris in den Irak. «Seit circa acht Monaten dürfen wir nur noch an drei Tagen Wasser aus dem Tigris nehmen. Anstatt dass die irakische Regierung Druck auf die Staudammpolitik der Türkei und des Iran aufbaut, richtet sie den Druck gegen die Bäuer*innen», erklärt Ruzgar. Für die Menschen im Irak und in Kurdistan bedeutet das, dass das Wasser knapp wird, dass das Marschland im Süden auszutrocknen droht und dass es bei Temperaturen bis zu 50 Grad im Sommer ohne Elektrizität und mit den fast wöchentlichen Sandstürmen unmöglich ist, landwirtschaftlicher Arbeit im Freien nachzugehen.

Trotz der gewaltvollen irakischen Geschichte und der aktuellen schwierigen politischen Verhältnisse, sind Bäuer*innen weiterhin aktiv und bilden das Rückgrat der Landwirtschaft im Irak und in Kurdistan. Abgesehen von der Tatsache, dass es nur wenige Arbeitsmöglichkeiten in den Städten gibt, sind es enge Beziehungen zum eigenen Land, historische Widerstandskämpfe und die Verteidigung ihrer Region gegen verschiedenste militärische Kräfte, die für Bäuer*innen heute die Grundlage ihres Verständnisses von Ernährungssouveränität bilden.


[1] Mit Peshmerga werden im Kurdischen zum einen historisch die bewaffneten Widerstandskämpfer*innen der verschiedenen Parteien gegen das Ba’ath System bezeichnet. Zum anderen wird der Begriff auch für die heutigen Streitkräfte der kurdischen Regionalregierung im Irak verwendet.

[2] Diese Bezeichnung stammt von Joy Gordon aus ihrem Buch Invisible War: The United States and the Iraq Sanctions (2010), in dem sie die katastrophalen Auswirkungen der internationalen Sanktionen auf die irakische Bevölkerung nachgezeichnet hat.

[3] Die Mahdi-Armee folgt dem Führer Muqtada al-Sadr. Sie ist eine paramilitärische Streitkraft und Miliz, die sich im Zuge der US-Invasion unter Führung von al-Sadr gebildet hat. Al-Sadr ist heute ein irakischer Politiker und Milizenführer der Sadr-Bewegung und hat es bei den jüngsten Wahlen (2022) in das irakische Parlament geschafft.