Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Cono Sur - Andenregion Ein historischer Moment für Chile

Wird Chiles neue Verfassung mehrheitlich angenommen, ist sie eine der fortschrittlichsten der Welt.

Information

Chiles neue Verfassung
Chiles neue Verfassung JACOBIN America Latina

Chiles Weg zu einer neuen Verfassung ist nicht nachzuvollziehen, ohne einen Rückblick auf die sozialen Proteste im Oktober 2019 zu werfen. Die sozialen Aufstände haben den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte Chiles markiert. Es waren Proteste der breiten Masse der Bevölkerung, explosiv und andauernd zugleich, wie es sie seit den Demonstrationen gegen die Diktatur 1983 nicht mehr gegeben hatte. Dieser kollektive Wutausbruch war der Gipfel des jahrzehntelangen Kampfs gegen die zunehmende Prekarisierung verschiedener Lebensbereiche im postdiktatorischen Chile zwischen 1990 und 2019. Ein antikolonialer Kampf für soziale Gerechtigkeit, getragen von Studierenden, Gewerkschaften und Feminist*innen.

Doch der eigentliche Hintergrund des Aufstands und des daraus resultierenden verfassungsgebenden Prozesses, ist die tiefe Krise der sozialen Reproduktion in Chile. Sie basiert auf einer unsicheren und sich erschöpfenden rohstoffbasierten Rentenökonomie, einer extremen sozialen Ungleichheit und einer repräsentativen Demokratie, deren Parteien nicht in der Lage sind, Menschen in prekären und marginalisierten Situationen zu vertreten, die durch die andauernde ökonomische Krise entstanden sind.

Am 4. September stimmt Chile über eine neue Verfassung ab. Der Verfassungstext wurde von einer verfassungsgebenden Versammlung erarbeitet und ist das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses inmitten der tiefsten Krise unserer Generation. Er legt die Grundlage für die politischen Kämpfe der kommenden Jahrzehnte. Wird er angenommen, wird Chile zukünftig eine der demokratischsten und fortschrittlichsten Verfassungen der Welt haben.

Die Krise der Organisation von sozialer Reproduktion in Chile erklärt auch, warum sich die Forderungen der Protestierenden an den Staat in relativ kurzer Zeit vom Ruf nach Reformen über einen grundlegenden Wandel bis hin zu einer «Verfassung von unten» entwickelt haben. Dieses Zusammendenken der zuvor fragmentierten Kritik zeigte sich bereits im «Programm gegen die Prekarisierung des Lebens» vom «Plurinationen Treffen der Kämpfenden» Ende 2018 sowie in den Forderungen des Feministischen Generalstreiks vom Jahr 2019, der bis dahin größten Demonstration seit dem Ende der Diktatur.

Beide Protestwellen erreichten etwas, das die chilenische radikale Linke in den letzten 30 Jahren nicht geschafft hatte: Dass die verschiedenen Strukturen und Kämpfe der letzten Jahrzehnte sich zusammengetan haben, um ein gemeinsames Programm für die plurinationale Arbeiter*innenklasse in Chile zu entwickeln. In dieser Agenda zeigt sich der Einfluss des Feminismus, der in jüngster Zeit in diversen politischen Prozessen (in Argentinien, Brasilien, Spanien, Kolumbien und vielen weiteren Ländern) eine wichtige Rolle gespielt hat. Der verfassungsgebende Prozess ist also der höchste Ausdruck der sozialen Proteste vom Oktober 2019, Selbstorganisation und politisches Bewusstsein eines Chile von unten haben ihn geprägt. Die Krise hat ein Programm für einen grundlegenden Wandel nötig gemacht, hinter das es kein «Zurück» mehr gab.

Die politischen Parteien hatten versucht, die Wut der Straße zu kanalisieren und sie unter dem Schlagwort «Übergang» in einen institutionell reglementierten Prozess zu lenken. Sie hatten versucht, den sozialen Aufstand zu ignorieren und die Basisbewegungen aus dem verfassungsgebenden Prozess auszuschließen. Aber das ist ihnen nicht gelungen. Längst war die Tür zur Demokratisierung durch den Aufstand gewaltsam aufgestoßen worden. Ebenso wurde die Beteiligung der sozialen Bewegungen und der Indigenen Nationen in der verfassungsgebenden Versammlung über ein paritätisches Verfahren und Quotenregelungen gesichert.

Die Vertreter*innen der sozialen Bewegungen waren die gemeinsame Stimme der Basis und erschufen so eine neue Verfassung von unten. Der Verfassungsprozess wurde von den sozialen Bewegungen mit noch nie dagewesenen Formen der Mobilisierung begleitet: statt massiver Demonstrationen wurde in nachbarschaftlichen Versammlungen über die Erfahrungen der politischen Auseinandersetzung mit dem Zugang zu Rechten, mit Demokratie, Institutionen und über gesellschaftliche Werte diskutiert. Trotz der Einschränkungen einer rechten Regierung und der Pandemie blieben die Mobilisierung und Politisierung rund um den verfassungsgebenden Prozess vom radikalen Geist der sozialen Proteste geprägt.

Die größten Errungenschaften

In der neuen Verfassung finden sich drei wichtige Bereiche mit grundsätzlichen Veränderungen gegenüber der Verfassung von 1980: Gesellschaftliche Werte, Rechte und Institutionen. Die progressive Haltung in den Bereichen Gender, Natur/Umwelt, die Anerkennung der Rechte der Indigenen Völker Chiles und die demokratische Öffnung zeichnet die Verfassung besonders aus. Diese neue Haltung zieht sich durch den gesamten Verfassungstext, von der Definition des Staates bis hin zur Formulierung der einzelnen Rechte.

So wird der Staat beispielweise als «sozialer, demokratischer Rechtsstaat» definiert, der «plurinational, interkulturell, regional und ökologisch» (Art. 1) ist und den Schutz und die Garantie der individuellen und kollektiven Menschenrechte zum Ziel hat. Ebenso werden die strukturellen Ungleichheiten in Bezug auf Geschlecht und zwischen den verschiedenen Nationen Chiles anerkannt. Hieraus resultiert die in der Verfassung festgeschriebene Idee der «solidarischen Republik», deren Demokratie «inklusiv und paritätisch» ist, wozu konkrete Mechanismen zur Sicherung der demokratischen Beteiligung an den Institutionen erforderlich sind. Außerdem wird ein Regionalstaat eingeführt, der nicht nur die nationale Politik regional umsetzen soll, sondern auch Möglichkeiten zur Beseitigung historischer Ungerechtigkeiten des Kolonialstaats in indigenen Territorien aufzeigt (Art. 187).

Im neuen Verfassungstext sind Umweltschutz und Nachhaltigkeit festgeschrieben. Die Ökologische Krise wird ebenso anerkannt wie die Notwendigkeit, ihr entschieden entgegenzutreten (Art. 127 bis 129). Daraus resultierend wird sogar ein Bereich von natürlichen Gemeingütern festgelegt, die nicht veräußert werden dürfen (Art. 134). Ein absoluter Kontrast zur Verfassung von 1980, in der alle Lebensbereiche dem Paradigma der privaten Aneignung unterworfen wurden.

Die neue Verfassung legt – Bezug nehmend auf den sozialen Aufstand, der sie überhaupt erst ermöglicht hat – einen breiten Rechtekatalog fest. Er wird ein wichtiges juristisches Instrument zur Bekämpfung der Prekarisierung sein, die wir auch in den kommenden Jahren erleben werden. Abgesehen von der Anpassung der Verfassung an internationale Menschenrechtsstandards, geht der neue Entwurf bei politischen, sozialen und kulturellen Rechten weit über das hinaus, was im Rahmen der Verfassung von 1980 denkbar gewesen wäre.

Das Rechtssubjekt ist nicht mehr nur eine Person auf einer abstrakten Ebene, sondern trägt der Realität der plurinationalen Subjektivität Rechnung: Gemeint sind Kinder, Jugendliche, Männer, Frauen, geschlechtliche und sexuelle Identitäten, Menschen mit Behinderung, Inhaftierte, Senior*innen, Angehörige und Kollektive verschiedener indigener Nationen, Tiere und die Natur. Andererseits berücksichtigen die Grundrechte die historischen Missstände und Bedürfnisse in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Renten, Wohnungen, Sexualität und Arbeit. Diese Rechte haben einen universellen Charakter und werden durch den Aufbau von öffentlichen Systemen und staatlicher Finanzierung ermöglicht.

Ein weiterer wichtiger Fortschritt wurde in arbeitsrechtlicher Hinsicht gemacht: Die Gewerkschaftsfreiheit sowie das Recht auf Kollektivverhandlungen und auf Streiks (Art. 47) wurde festgeschrieben. So bricht die neue Verfassung mit der arbeitspolitischen Ausrichtung der Diktatur und ebnet den Weg zu neuen Arbeitsverhältnissen und – vor allem – weitet sie das bisher stark eingeschränkte Feld für gewerkschaftliche Organisation. Die Anerkennung von «Haus- und Care-Arbeit als gesellschaftlich notwendige und unersetzliche Arbeit für die Erhaltung von Leben und die Entwicklung der Gesellschaft» (Art. 49) erweitert den Arbeitsbegriff und ermöglicht zum ersten Mal die Integration eines Bereichs, der historisch bezüglich kollektiver Rechte, der volkwirtschaftlichen Aktivität und in der Entwicklung von politischen Maßnahmen des Staates ausgeschlossen war.

Ein «Ganzheitliches Sorgesystem» (Art. 50) eröffnet den Arbeiter*innen eine außergewöhnliche Möglichkeit der Selbstorganisation, mit der sie für ihre Rechte auf diesem neuen Gebiet eintreten können. Bemerkenswert ist auch Artikel 61, der «den freiwilligen Schwangeschaftsabbruch»; also das freie Recht auf Abtreibung, eine der zentralen Forderungen des feministischen Kampfes, verfassungsrechtlich festschreibt.

Auf institutioneller Ebene sind die Veränderungen in der Legislative hervorzuheben. Diese wurde bisher von einem Abgeordnetenhaus und einem Senat gebildet und soll nun in ein asymmetrisches Zwei-Kammer-Modell umgewandelt werden. Die neue Legislative besteht aus einer Nationalen Abgeordnetenkammer und einer Föderalen Kammer, die die regionalen Interessen künftig stärker berücksichtigen soll.

Natürlich ist diese Veränderung noch keine Garantie für eine breite demokratische Öffnung, aber die Kombination aus dem Instrument der Gesetzesinitiativen aus der Gesellschaft, mit dem Gesetze eingebracht oder abgeschafft werden können und dem Auftrag des Staates, die Bürger*innenbeteiligung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zu garantieren, besteht Hoffnung, dass sich auf allen institutionellen Ebenen eine neue Ära der politischen Mitbestimmung etablieren wird.

Eine der bedeutendsten Veränderungen in der neuen Verfassung betrifft die Rolle des Staates in der Wirtschaft. Er soll stärker und aktiver werden. Bisher galt ein Subsidiaritätsprinzip, nach dem der Staat eine Nebenrolle spielt und nur in den Bereichen der Wirtschaft aktiv werden kann, in denen es noch keine privaten Akteure gibt.

Die neue Verfassung hingegen verleiht dem Staat den Auftrag, «ökonomische Aktivitäten im Rahmen der verschiedenen gesetzlich vorgeschriebenen Formen von Eigentum, Verwaltung und Organisation» zu übernehmen. Dies soll nach Zielen des «ökonomischen Pluralismus, der Diversifizierung der Produktion und einer solidarischen und sozialen Wirtschaft» geschehen (Art. 182). Dieser Auftrag bezieht sich auch auf die lokalen staatlichen Institutionen, die ihren Aufgaben gerecht werden, indem sie selbst Firmen gründen (Art. 214). Zugleich werden die Kriterien für das Handeln der Zentralbank erweitert, nach denen sie zum «Wohlergehen der Bevölkerung beitragen», und dabei finanzielle, Arbeits- und Umweltaspekte berücksichtigen soll (Art. 358).

All diese hier aufgeführten Veränderungen verweisen auf eine Stärkung der Rolle des Staates als demokratischer Akteur in der Wirtschaft.

Die Politische Bedeutung eines Siegs im Referendum

Natürlich sind die beschriebenen Verbesserungen nicht mehr als der Entwurf für die neue Verfassung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Verfassungstext ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Sätzen, sondern das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses inmitten der tiefsten Krise unserer Generation. Deswegen legt er die Grundlage für die politischen Kämpfe der kommenden Jahrzehnte. Der verfassungsgebende Prozess ist konstituierend, weil er zu einer neuen Verfassung führt, aber eben auch weil sich mit ihm eine neue politische Kraft bildet, die für die Umsetzung dieser Verfassung kämpfen wird.

Anders gesagt: Sollte das Plebiszit am 4. September angenommen werden, dann wird die neue Verfassung quasi zum Minimalprogramm aller reformorientierten Kräfte in Chile. Dies bringt die Linke in eine völlig neue Position, in der sich ihre Agenda von der Abschaffung des Neoliberalismus hin zur Umsetzung eines demokratischen Programms und der Verwirklichung sozialer Rechte verwandelt. Die Abstimmung über die Verfassung wird zum Meilenstein der langen Geschichte des Klassenkampfs in Chile: Es wäre der Moment, in dem die Gegenoffensive der Arbeiter*innenklasse beginnt. Damit könnte sie letztlich im Stande sein, sich aus der Defensive zu befreien, in der sie seit der doppelten Niederlage mit dem Putsch 1973 und dem neoliberalen Wandel 1988 gefangen ist.

Es wäre nicht der Sieg der Gegenoffensive und auch nicht ihre wichtigste Schlacht, sondern einzig eine Chance, vom reinen Widerstand auf den Straßen und der Anpassung an die eigene Prekarität in eine neue Etappe einzutreten, in der sich der politische Kampf auf eine Verfassung stützen kann, die zumindest in Teilen von den Basisbewegungen geschrieben, verteidigt und angenommen wurde.

Dabei darf man nicht vergessen: Wir bewegen uns keinesfalls in einem idealen Kontext, sondern in einer der schlimmsten Krisen des Kapitalismus weltweit und wir können nicht ausschließen, dass diese in einen neuen Autoritarismus mündet, der von konservativen, nationalistischen und rechten Kräften angeführt wird. Daraus ergibt sich eine konkrete Herausforderung für die sozialen und politischen Bewegungen, die sich am Verfassungsprozess beteiligt haben: Es geht jetzt darum, eine Alternative aufzubauen, in der die verschiedenen sozialen Sektoren zusammenkommen, um den Prozess der strukturellen Veränderung, den der soziale Aufstand angestoßen hat, weiterzuführen und zu vertiefen.

Die Linke und das ewige Problem der politischen Alternative

Mit Blick auf den Verfassungsprozess lässt sich feststellen, dass wir dabei sind, die Fragmentierung der sozialen Bewegungen zwischen den Jahren 1990 und 2019 zu überwinden.

Ohne Zweifel ist die neue Verfassung die breiteste gemeinsame Basis der verschiedenen sozialen Bewegungen seit der «Unidad Popular». Die Vielfalt der Forderungen, die gemeinsam in einem politischen Momentum (es geht dabei nicht nur um den Verfassungstext, sondern auch den verfassungsgebenden Prozess) festgehalten wurden, stehen für die Einheit der politischen Aktionen der Arbeiter*innenklasse. Diese Einheit war zuvor weder unter der antineoliberalen Politik der Kommunistischen Partei oder der Frente Amplio, noch unter den vielen Splittergruppen, die unsere radikale Linke bilden, möglich. Doch die jüngsten Erfahrungen des politischen Kampfes eröffnen einen neuen Horizont. Der Aufstand hat nicht nur die Erfüllung einzelner Forderungen proklamiert, sondern es ging um eine tiefgreifende Veränderung mit globaler Perspektive. Hinter diesem Aufstand haben sich Millionen von Menschen aus dem ganzen Land versammelt, die sich in den lokalen Versammlungen engagiert, Kandidat*innen für die verfassungsgebende Versammlung aufstellt oder aktiv die Debatten um die neue Verfassung verfolgt haben.

Daraus resultiert eine kollektive Erfahrung, die die Grenzen der sozialen Kämpfe überschreitet, die wir aus dem letzten Jahrhundert kennen. Diese Erfahrung, die nichts anderes als eine Beteiligung am Kampf um die Macht ist, spiegelt sich heute in der Chance, das Verfassungsreferendum zu gewinnen und damit ein neues politisches Zeitalter in Chile einzuläuten. Dieses Zeitalter hätte als Ausganspunkt die Erfahrung eines gesellschaftlichen Kollektivs, das aufsteht, träumt, kämpft und einen Kampf um die Verfassung gewinnt.

Doch diesem möglichen Triumph muss dann auch eine Führungsrolle bei der Umsetzung des Verfassungstextes folgen, so dass sichergestellt ist, dass der Verfassungstext im Sinne des Volkes mit Leben gefüllt wird – und nicht nach den Wünschen der Reformparteien, die ungeduldig darauf warten, wieder die Führung zu übernehmen.

Hier liegt eine der größten Schwierigkeiten in diesem Moment. Inwiefern die neue Verfassung auch umgesetzt wird, wird im Kampf der verschiedenen politischen Lager, die in recht unterschiedlichem Maße mit dem Verfassungstext einverstanden sind, entschieden. Die Rechte – die ultrarechte Republikanische Partei und das Bündnis «Chile Vamos» – positionieren sich klar gegen die Verfassung. Der Mitte-Links-Sektor, bestehend aus der «Concertación» und den liberalen Strömungen der Frente Amplio glauben, dass die Verfassung zwar angenommen, aber dann auch direkt geändert und angepasst werden sollte.

Die Linke, angeführt vom Großteil der Koalition «Apruebo Dignidad», so wie von den sozialen Bewegungen, den Indigenen Gemeinschaften so wie den verschiedenen radikalen Organisationen identifiziert sich am stärksten mit der Verfassung. Die Linke will sich auch am stärksten für deren Umsetzung und Vertiefung einsetzen. Nun ist ein Teil der Linken an der Regierung und ist allerdings zur Verteidigung der Verfassung darauf angewiesen, mit den anderen Regierungsparteien zu verhandeln.

Das eröffnet wiederum die Möglichkeit einer weiteren politischen Alternative abseits der Regierung, die sich zur Aufgabe machen könnte, den jahrzehntelangen Prozess der Umsetzung der Verfassung zu verteidigen und sogar anzuführen. Das Problem ist, dass diese Alternative noch nicht existiert.

Wege aus der aktuellen Krise

Der Verfassungsprozess zeigt, wie wichtig ein Plan für den politischen Kampf ist. Ein Plan, der nicht nur taktischer Natur ist und bestimmte Forderungen enthält, sondern der vor allem eine Vision für die notwendigen Schritte und Instrumente beinhaltet. Dieser schafft den Ausweg aus einem Zyklus der Niederlagen hin zu einer Phase der Gegenoffensive und weist damit einen Weg aus der aktuellen Krise. Doch die Basisbewegungen für eine neue Verfassung befinden sich in einer organisatorischen Schwäche, weil sie in viele kleine Gruppen zersplittert sind, die nicht genug Macht haben, um langanhaltende Erfolge zu erzielen.

Dieses Problem löst sich nicht einfach mit der Einigung auf einige gemeinsame kurzfristige Ziele, die am besten geeignetste Organisationsform oder durch den Willen zur Einheit nur um der Einheit willen. Die berühmte Liedzeile aus dem Widerstand gegen die Diktatur «El pueblo únido jamás será vencido» (dt. «Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden»), stimmt zwar – aber was macht das «Pueblo unido», das «vereinte Volk» aus?

Es gab in der jüngeren politischen Vergangenheit noch nie so gute Chancen für die Einheit wie heute: Vom Aufstand bis zur Kampagne für die Verfassung, vom Kampf für Menschenrechte bis zum gemeinschaftsbasierten Widerstand in der Pandemie – all das waren Erfahrungen, die die verschiedenen Teile der plurinationalen Arbeiter*innenklasse in Chile für eine kurze aber intensive Zeit gemeinsam erlebt haben.

Die Einführung eines geteilten Vokabulars und taktischen Repertoires während des sozialen Aufstands und des Verfassungsprozesses bilden die Grundlage für einen Dialog zwischen den sozialen Bewegungen, Aktivist*innen, Kollektiven und Versammlungen, aktivistischen Organisationen und anderen Gruppen, die die Notwendigkeit eines politischen Bündnisses für den neuen politischen Zyklus ab dem 5. September erkannt haben.

Heute öffnet sich in nie dagewesener Weise eine Tür zum Aufbau einer politischen Alternative, die nicht vor Widersprüchen und Schwierigkeiten zurückweicht und die von unten auf das revolutionäre Potenzial des feministischen Generalstreiks, des Aufstands von 2019 und des Verfassungsprozesses aufbaut.

 
Die ungekürzte spanischsprachige Version dieses Kommentars erschien in der Reihe Convención Constitucional 2022, einer Zusammenarbeit zwischen Jacobin América Latina und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Buenos Aires.