Der Herbst bringt zwei Überraschungen: Die PDS fliegt nach der verlorenen Parlamentswahl aus dem Bundestag, und im Gefolge der bitteren Niederlage füllt sich das Magazin des Archivs Demokratischer Sozialismus (ADS) mit einem Schlage bis zur Halskrause.
Im Oktober liefern zwei große Transporter hunderte Umzugs-Kisten mit Akten an. Schnell füllt sich provisorisch das Foyer des Bürohauses Franz-Mehring-Platz 1 und der berühmte Blaue Salon, der damalige Konferenzsaal des Hauses, mit dem wertvollen Gut. In mühseliger akribischer Kleinarbeit müssen die Kartons den einzelnen abliefernden Abgeordnetenbüros zugeordnet werden. Erst dann kann der Inhalt in die Fächer der Fahrregal-Anlage eingeordnet werden – eine trotz herbstlicher Kühle anstrengende und wahrlich schweißtreibende Arbeit. Während die Informations- und Dokumentationsstelle der PDS-Fraktion und eine Reihe Abgeordnetenbüros sorgfältig Listen des Archivgutes erstellt haben, nach denen die Zuordnung vorgenommen werden kann, haben die MitarbeiterInnen anderer Abgeordneter die Kisten lediglich mit der Beschriftung «Archiv» versehen. Die Herkunft der Unterlagen galt es also mit kriminalistischem Gespür zurückzuverfolgen. Die Sichtung des Inhalts der Aktenordner ermöglichte eine – mitunter auch fragwürdige – Zuordnung zu den einzelnen Abgeordnetenbüros. Eine exakte Zuordnung gelang den Archiv-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern der Stiftung in mühevoller Recherche in manchen Fällen erst Monate später. Bei der Planung des Magazins des Archivs Demokratischer Sozialismus im Jahre 2001 war von einem jährlichen Zuwachs an Archivgut von 50 bis 75 Laufenden Metern ausgegangen worden. Unter dieser Voraussetzung hätte die Magazin-Kapazität für sechs bis neun Jahre ausgereicht. Nun hatte sich das Archivgut in ganz kurzer Zeit vervielfacht – und es war klar, dass die Verzeichnungsarbeiten im Rahmen des sogenannten Bundestags-Projektes Jahre in Anspruch nehmen würden.
Da nahte auch schon die dritte Überraschung: Bisher waren die Arbeiten der Verzeichnung des Archivgutes der PDS im Bundestag im Rahmen eines jährlich einzureichenden Projektes von der Bundestagsverwaltung aus einem Topf finanziert worden, der in den 1980er-Jahren für die Parteiarchive der politischen Stiftungen für die Aufbereitung und Erhaltung zeitgeschichtlich bedeutsamer Archivalien eingerichtet worden war. Dazu zählten die Akten der Bundestagsfraktionen und die Unterlagen von Bundestagsabgeordneten. Nun aber teilte die Bundestagsverwaltung mit dem Zuwendungsbescheid für das Jahr 2003 mit, dass künftig keine Förderung des Archivs Demokratischer Sozialismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung mehr erfolgen werde. Die Begründung lautete: Die PDS sei in der 15. Wahlperiode weder als Fraktion noch als Gruppe im Deutschen Bundestag vertreten.
Die Geschäftsführung der Rosa-Luxemburg-Stiftung folgte dieser Sichtweise zum Glück nicht und erhielt das Archiv in seinen Grundstrukturen. Nach dem Wiedereinzug der Linkspartei.PDS in Fraktionsstärke in den Bundestag im September 2005 konnte die Archivarbeit Mitte des darauf folgenden Jahres wieder regulär aufgenommen werden.
JOCHEN WEICHOLD IST LEITER DES BEREICHS ARCHIV UND BIBLIOTHEK DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG
Nachricht | Rosa-Luxemburg-Stiftung Kriminalisten im Archiv
Akten aus der PDS-Fraktion landen kistenweise im Archiv der Stiftung. Episode 10 von Jochen Weichold.