Rund um den Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1989, gerät das Leben der Ostdeutschen immer wieder in den Blick. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft ist jeder Jahrestag der Wiedervereinigung ein Anlass, sich mit der Geschichte der DDR und der ihrer Bewohner*innen auseinanderzusetzen. Zeitungsartikel, Fernsehsendungen, wissenschaftliche Veröffentlichungen usw.: heutzutage gibt es eine Fülle von Literatur und Medienprodukten, die sich mit diesen Themen befasst. Doch trotz der vielfältiger wissenschaftlicher Forschungen, insbesondere aus dem Bereich der Sozialgeschichte, stützt sich die «offizielle» Erinnerungspolitik zur DDR noch immer zumeist auf die Dispositive von Diktatur und Repression. Solche Haltungen verstärken Ost/West-Stereotype und verhindern die Möglichkeit, ein kollektives Bewusstsein zu entwickeln. Oder wie Eva Tetz, eine Zeitzeugin aus der Porträtreihe, es ausdrückt: «die Mauer steht heute noch in den Köpfen».
Frauen werden oft als die größten Verlierer*innen der Wiedervereinigung angesehen. Ungefähr 90 Prozent der Frauen waren in der DDR erwerbstätig, dagegen nur 50 Prozent im Westen.[1] Beschäftigung war die Norm und garantierte ihnen finanzielle Unabhängigkeit. Diese Tatsache wurde aber nach der Wende, durch die Veränderung politischer Verhältnisse in Frage gestellt: die Zahl der Beschäftigten in Ostdeutschland sank von rund 9,8 Millionen im Herbst 1989 auf 6,7 Millionen Ende 1991. Frauen waren von Beschäftigungsabbau zwar zunächst in ähnlicher Weise betroffen wie Männer, hatten jedoch deutlich geringere Chancen, wieder eine neue Arbeit zu finden. Resilienz und Anpassungsfähigkeit sollten daher nicht unterschätzt werden, ebenso wenig das Gefühl, manchmal ein «Mensch zweiter Klasse» zu sein. Das Bild der «starken und emanzipierten» Ostfrau spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die immer wiederkehrende Frage «Waren die Frauen in der DDR wirklich emanzipiert?» soll hier nicht beantwortet werden.[2] Wichtig ist jedoch der Erinnerungsprozess, also wie sich Frauen an ihr Leben in der DDR erinnern und was sie heute davon in die Gesellschaft der Bundesrepublik einbringen. Manche Frauen möchten mit der DDR nichts mehr zu tun haben, während andere in ihren Erinnerungen schwelgen. So ist jede Geschichte einzigartig und ermöglicht uns, eine Facette der ostdeutschen Erfahrung zu entdecken.
Die vorliegende Porträtreihe entstand im Rahmen eines Praktikums, das Naéva Béreau-Baumann im ersten Halbjahr 2022 im Historischen Zentrum der Rosa-Luxemburg-Stiftung absolvierte. Seit 2018 studierte sie Geschichte an der Universität Clermont-Auvergne in Frankreich. Ihre Masterarbeit hat sie über das politische Gedächtnis der Ostfrauen geschrieben. In diesem Zusammenhang interviewte sie fünfzehn Frauen aus verschiedenen Generationen, Orten und gesellschaftlichen Schichten, mit dem Ziel, die Vielfältigkeit der DDR-Lebenswege aufzuzeigen. Die Frauen mussten mindestens zwanzig Jahre in der DDR gelebt haben, um ausreichend auch auf der Grundlage von eigenen Erfahrungen berichten zu können. Die Porträts wurden gemeinsam mit den Frauen reflektiert, um sie auch in den Bearbeitungsprozess einzubeziehen. Dieser Schritt war jedoch nicht der einfachste: Für einige war es schwierig, ihr Leben abbilden zu lassen, besonders in kurzen und modernen Formaten, wie Instagram sie bietet. Die Verwendung von Fotografie und Archivbilder setzen eine Bereitschaft und das Vertrauen der Zeitzeuginnen voraus, eine intime, besser: persönliche Dimension ihres Lebens aufzuzeigen. Von den fünfzehn Frauenporträts wurden aus Gründen der Repräsentativität schließlich sieben hier in die Portraitreihe aufgenommen.
Jedes Porträt besteht aus einer Kurzbiographie in drei Teilen. Zunächst wird der Alltag in der DDR dargestellt und werden die Lebenswege der Frauen in groben Zügen beschrieben (Kindheit, Studium, Arbeit, Familie), illustriert so weit wie möglich mit Zitaten aus den vorangegangenen Interviews. Der zweite Teil geht auf die Spur, unter welchen Bedingungen die Frauen im Land lebten und wie sie sich gegenüber dem System der DDR verhielten. Schließlich wird die Frage nach der deutschen Einheit gestellt: Wie wurde die «Wende» erlebt und wie betrachten die Frauen heute ihr vergangenes Leben in der DDR. Den Abschluss der Porträts bildet eine Antwort auf die Frage «Was bleibt?». Diese wird auf persönliche Weise beantwortet, sodass jedes Porträt seine Individualität behält. Trotz aller Unterschiede, sind die Porträts aus der gleichen Absicht entstanden: das Verlangen, seine eigene Geschichte zu erzählen. Im Mittelpunkt dieser Reihe steht also der zwischenmenschliche Austausch, der diese Arbeit selbst erst ermöglicht hat.
Die Reihe erhebt nicht den Anspruch umfassend zu sein. Die Porträts aber geben die Gelegenheit, sich der Geschichte der DDR auf eine Weise zu nähern, die dem Individuum und seiner Lebensrealität näherkommt. Sie stellen einen kleinen Ausschnitt aus den Biografien von Frauen aus der DDR dar, wobei der Schwerpunkt auf dem Übergang von einer Gesellschaft in die andere liegt. Die Frage stellt sich: was bleibt für diese Frauen heute von der DDR übrig?
Die komplette Reihe kann in einer Story auf dem Instagram-Kanal der Rosa-Luxemburg-Stiftung angeschaut werden (Konto erforderlich).
Für weiterführender Literatur siehe:
- Peggy Piesche (Hg.), Nicola Lauré al-Samarai (Hauptautorin): Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost; Verlag Yılmaz-Günay, Berlin 2020.
- Händler, Ellen und MITSCHING-VIERTEL, Uta: Problemzone Ostmann? Lebenserfahrungen in zwei Systemen, Ibidem Verlag, Stuttgart 2021.
- Helwig, Gisela und Nickel, Hildegard-Maria (Hrsg.): Frauen in Deutschland, 1945-1992, Akademie Verlag, Berlin 1993.
- Hürtgen, Renate: FrauenWende - WendeFrauen. Frauen in den ersten betrieblichen Interessenvertretungen der neuen Bundesländer, Westfälisches Dampfboot, Münster 1997.
- Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR, Christoph Links Verlag, Berlin 2016.
- Schäfer, Eva (Hrsg.): Vollendete Wende? Geschlechterarrangements in Prozessen des sozialen Wandels, Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2002.
- Wander, Maxie: Guten Morgen, du Schöne, Mit Vorwort von Christa Wolf, Suhrkamp, Berlin 2007.