Nachricht | Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010

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In den Geschichtswissenschaften geraten nun die 70er und vereinzelt auch schon die 1980er Jahre ins Blickfeld des Interesses. Im September ist nun der aus einer Tagung in Kopenhagen Anfang 2008 entstandene Band zum „alternativen Milieu“ erschienen. Die Herausgeber schreiben: „Im Laufe der 1970er Jahre etablierte sich in der Bundesrepublik wie in vielen westlichen Ländern ein alternatives Milieu. Diese Gemeinschaft Gleichgesinnter strebte nach Idealen wie Selbstverwirklichung, Solidarität, Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit, die sie den modernen Entfremdungserfahrungen entgegensetzte. Zugleich verfolgte sie das Ziel, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. Die linken Alternativen gründeten eigene »Projekte«, in denen auf der Grundlage von kollektivem Eigentum, Selbstbestimmung und Überschaubarkeit neue basisdemokratische Formen des Arbeitens und Lebens erprobt wurden. Zwischen Arbeit, Freizeit, politischem Engagement und Privatleben wurde in den Wohngemeinschaften, Cafés, Buchhandlungen oder Frauenzentren ebenso wenig unterschieden wie zwischen Hand- und Kopfarbeit.“

Der Band enthält nach einer Einleitung, u.a. zum für den Herausgeber Reichardt zentralen Begiff der „Authentizität“, und zwei theoretische Beiträgen, fast 20 Artikel zu allen möglichen Aspekten „alternativen Lebens“. Hier reicht das Spektrum von Heroinszenen über Konsumkritik, Antisemitismus in der Linken und Trampen bis zu Geschlechterverhältnissen. Einige Beiträge, wie z.B. der zur Untergrundpresse sind nicht gerade von grosser Sachkenntnis geprägt, und andere, wie einer zu Autonomen und Hausbesetzungen vermeiden es allzu offensichtlich, Literatur aus der ja mittlerweile umfangreichen linksradikalen Literatur zu Theorie und Geschichte zu zitieren. Für etliche Zeitzeug_innen dieser Bewegungen, und das sind ja potentiell alle, die heute älter als 40 Jahre sind, dürfte sich das Gefühl einschleichen, hier werde ihnen ihre Geschichte entwendet und durch den akademischen Fleischwolf gedreht. Heraus kommt dann ein Buch, das zeitgemäß die „transformatorische Rolle des alternativen Milieus zwischen den späten 1960er und den mittleren 1980er Jahren“ betont, und alle Aspekte von Rebellion, von Dissidenz und vielleicht auch Revolution entschärft, und zur Entsorgung in Bibliotheken und Fachtagungen zwischen Buchdeckel presst. Wer sich mit dem Thema wissenschaftlich beschäftigt, wird an dem Buch, das so angelegt ist, dass es wissenschaftstrategisch als Standardwerk gelten will, nicht vorbeikommen. Am spannendesten ist der Beitrag von Michael Vester, der aufgrund seiner umfangreichen Forschungen zum Sozialmilieu darüber berichtet, dass neben den klassischen alternativen Milieus größere Veränderungen in einem nennenswerten Teil der neuen Arbeiter- und Angestelltenmilieus vonstatten gingen, die sich „alternativen“ Werten in Arbeitswelt und Familie öffneten. Ob allerdings, so die Meinung mancher Autor_innen, in „alternativen Milieu selbst ein dezidiert transnationales Selbstverständnis vorherrschte“ bleibt auch nach Lektüre ihrer Beiträge noch besser zu beweisen. Ein Personenregister schließt den voluminösen Band ab.

Sven Reichardt und Detlef Siegfried (Hrsg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, 509 Seiten mit 22 Abbildungen, 39,90 EUR

Aktualisierung: Markus Mohr hat den Band hier in der Tageszeitung junge welt vom 29.1. 2011 besprochen.

Silke Mende hat den Band für sehepunkte 11 (2011), 12 besprochen.