Nachricht | Was war „1968“? Zwei Sammelbände erinnern an das Antiautoritäre im Protest der Nachkriegsgeneration

Von Helmut Dahmer, Wien*

Nach vier oder fünf Jahrzehnten schwindet die Zahl der Zeitgenossen, die sich an gemeinsam erlebte „Ereignisse“ erinnern. Die Bedeutung persönlicher Erinnerungen in Form von mündlichen Erzählungen oder schriftlichen Aufzeichnungen wird durch die „objektive“ Geschichtsschreibung relativiert, die ein bestimmtes Bild der Vergangenheit zu fixieren sucht.
Doch die Kontroversen und Kämpfe der Generationsgenossen leben in den divergenten oder konträren Deutungen der Vergangenheit fort, wie sie die späteren Historiker entwerfen, und je mehr die Zeitzeugen von der Bedeutung ihrer Ära überzeugt waren und auch nachfolgende Generationen sich dieser Einschätzung anschlossen, desto länger und heftiger wird um die „richtige“ Deutung der fortwirkenden Vergangenheit gestritten.
2008 kamen in Leeds und in Linz Historiker zusammen, um herauszufinden, worin das Gemeinsame der vielen verschiedenartigen nationalen Jugend-Protestbewegungen, Arbeiterstreiks und antikolonialen Aufstände des Jahres 1968 bestanden habe. Die Beiträge beider Konferenzen liegen inzwischen in Buchform vor [Ingo Cornils, Sarah Waters (Hg.): Memories of 1968. International Perspectives. Bern 2010; Angelika Ebbinghaus, Max Henninger, Marcel van der Linden (Hg): 1968. Ein Blick auf die  Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive, Leipzig 2009]. Sie unterscheiden sich unter anderem dadurch, dass nur die Leeds-Gruppe Frankreich und Mexiko und nur die Linzer Gruppe auch Kuba, Jugoslawien, die ČSSR, Ungarn und Pakistan in ihren Rückblick einbezogen hat. Wir wollen heute Abend über die Ergebnisse der Linzer Tagung sprechen, und ich möchte einleitend – in Anlehnung an die Beiträge beider Konferenzen – versuchen, den gemeinsamen Nenner der verschiedenartigen Protestbewegungen von 1968 zu markieren. Die Schrecken des zweiten Weltkriegs und die Gräueltaten der beiden menschenverschlingenden Regime Hitlers und Stalins führten 1945 – im Unterschied zu der Situation am Ende des ersten Weltkriegs – nicht zu einem Versuch, die kriegsträchtige Gesellschaftsordnung zu überwinden. Die totalitären Regime und der Krieg hatten den politisch aktiven Teil der Bevölkerung dezimiert und deren Spontaneität dauerhaft gelähmt. Die Folge war, dass Mehrheiten in den meisten Ländern versuchten, die zurückliegenden Jahre der Barbarei rasch zu vergessen und Politik und Kultur so fortzuführen, als sei nichts geschehen. Erst die Nachkriegsgeneration, die den Krieg nur mehr vom Hörensagen kannte und unter Bedingungen von Frieden und Prosperität aufgewachsen war, war auch imstande, die ausgebliebene Reaktion auf das Desaster des zweiten Weltkriegs nachzuholen. Sie machte international den Protest gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die sich durch stets wiederholte Schlächtereien erhalten, zu ihrer Sache. Infolge der einsetzenden dritten industriellen Revolution und der Systemkonkurrenz zwischen West und Ost nahmen weiterführende Schulen und Universitäten Hunderttausende
von jungen Leuten auf, die während ihres „psychosozialen Moratoriums“ – der Kontrolle ihrer Familien entronnen und dem autoritären Regime des Arbeitslebens noch nicht unterworfen – begannen, sich um „allgemeine Angelegenheiten“ zu kümmern, zunächst um die Struktur der  Ausbildungsinstitutionen Universität, Schule und Betrieb, sodann um die Innen- und Außenpolitik ihrer jeweiligen Staaten. Seit den frühen sechziger Jahren machte die aktive Minderheit dieser ersten Nachkriegsgeneration in den Verlierer- wie in den Siegerstaaten (also in Japan, Deutschland, Italien sowie in den USA, in Frankreich und in Mexiko) Front gegen die Nachkriegsordnung des Kalten Krieges, in der in steigendem Maße Produktions- in Destruktionsmittel umgewandelt und in beiden „Lagern“ jede innere Opposition erstickt wurde, während Stellvertreterkriege die Verelendung weiter Teile der sogenannten „dritten Welt“ beschleunigten.
Das Engagement gegen den amerikanischen Interventionskrieg in Vietnam wurde seit 1964 zum gemeinsamen Nenner der weltweiten Protestbewegungen.
Und spätestens seit der trikontinentalen Konferenz in Havanna (1966) glaubten die Aktivisten und Mitläufer der neuen Jugendbewegung, sie seien Teil einer virtuellen Internationale, die sich im Prozess der Überwindung „autoritärer“ Strukturen in den kapitalistischen Metropolen, in den staatssozialistischen Regimen und in den Ländern der „dritten Welt“ herausbilden werde. Der Jugendprotest richtete sich (nicht nur in Westdeutschland) gegen veraltete Ausbildungsinstitutionen und Erziehungspraktiken, sondern gegen die Mentalität und Lebensform der älteren Generation, die sich der Barbarei nicht widersetzt hatte und deren konformistisches Schweigen neuen Katastrophen den Weg bereitete. Abgesehen von bedeutsamen Ausnahmen (dem französischen Mai 68, den spezifischen Verhältnissen in Italien einerseits, in Prag andererseits, oder auch dem zeitweilig gewerkschaftlich unterstützten Kampf gegen die Notstandsgesetze in Westdeutschland) blieb die Bewegung in den meisten Ländern gesellschaftlich isoliert. Von Anfang an wurden ihre Anhänger (in West und Ost) als „Fünfte Kolonne“ verdächtigt, und bis heute sehen deren Kritiker in den Demonstranten von 1968 lauter Revenants, machen sie entweder für alle Übel der Gegenwart verantwortlich oder verharmlosen sie als Schrittmacher von Arbeits- und Lebensformen des modernisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts.
Doch die vielen Zehntausende von 15 bis 25jährigen, die damals in Universitäten und Studentenhäusern über Lebens-, Universitäts- und Gesellschaftsänderung diskutierten und für ein anderes Leben und eine neuartige Politik auf die Straße gingen, waren weder verkleidete Hitlerjungen oder Komsomolzen, noch Terroristen und Pädophile. Sie verstanden sich als „Antiautoritäre“, und ich denke, diese Selbstcharakteristik ist ernster zu nehmen, als das in den Kontroversen über das Wesen der 68er Bewegung
zumeist der Fall ist. Die Protagonisten der Protestbewegung orientierten sich vor allem an den Schriften von Wilhelm Reich und Alexander S. Neill über antiautoritäre Erziehung sowie an den „Studien über den autoritären Charakter“ des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
Doch indem sie die neue Bewegung als „antiautoritäre“ bezeichneten, beschworen sie auch die Erinnerung an die hundert Jahre zuvor in Saint-Imier, dem Hauptquartier der Jura-Föderation, gegründete Bakuninsche „Antiautoritäre Internationale“ herauf. Tatsächlich schien mit der 68er Jugendbewegung in den europäischen und nordamerikanischen Universitätsstädten der libertäre (oder Selbstverwaltungs-) Sozialismus wieder aufzuleben, der vielleicht, wenn nicht in fünfzig, dann in hundert Jahren, den Kapitalismus ablösen wird. Auch diesmal handelte es sich (wie im Paris von 1871, in St. Petersburg 1905 oder im Barcelona der Jahre 1936/37) nur um einen kurzen Sommer der Anarchie. Denn als 1969 die Ausläufer der Protestbewegung mit der Bildung von Miniaturparteien stalinistisch-maoistischen Typs und von Stadtguerilla-Kampfgruppen begannen und zum
individuellen Terror übergingen, um ihre Ohnmacht zu kompensieren, fielen sie auf eben jene Formen von Politik zurück, über die die Studenten und Schüler der sechziger Jahre hatten hinauskommen wollen.

Quelle: Rundbrief vom Dezember 2010 der ITH.

* Helmut Dahmer, em. Professor für Soziologie, lebt als freier Publizist in Wien.
Den hier veröffentlichten Vortrag hielt Helmut Dahmer anlässlich der Präsentation des ITH-Bandes „1968 - Ein Blick auf die Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive“ (= ITH-Tagungsberichte, Bd. 43) am 30.6.2010 in der AK Bibliothek Wien für Sozialwissenschaften (ausgerichtet von den ITH-Vorstandsmitgliedern Sabine Lichtenberger und Klaus-Dieter Mulley).
Was waren die Folgen, die langfristigen Nachwirkungen und die Hypotheken des weltweiten Aufbegehrens in den 1960er Jahren? Was von „1968“ hat sich weltweit durchgesetzt und was ist Vergangenheit? Welche Einstellungen, Lebensweisen und politischen Strömungen haben sich durchgesetzt und gehören zum heutigen mainstream? Welche neuen Eliten haben sich etablieren können? Welche Strömungen und Gruppen wurden marginalisiert?
Darüber diskutierten unter der Moderation des Journalisten und Publizisten Robert Misik:
Helmut Dahmer (Soziologe, Wien)
Peter Kreisky (AK Wien)
Fritz Keller (Publizist, Wien