Am Freitag, den 11. März 2011 verursachte das größte je in Japan gemessene Erdbeben eine Kaskade von Katastrophen. Ein Tsunami gewaltigen Ausmaßes folgte dem Beben und fegte ganze Städte und Landstriche hinweg. Tausende starben, weitere ungezählte Menschen gelten als vermisst. Stunden nach dieser Naturgewalt explodierte die Reaktorhülle des ersten Atomkraftwerks, ein weiteres folgte. Experten gehen davon aus, dass in den Reaktoren unkontrollierte Kernschmelzen in Gang gesetzt wurden. Die Entwicklungen spitzen sich stündlich zu. Mittlerweile wird eingeräumt, dass ein Reaktorbehälter Schaden gelitten hat, von einer radioaktiven Wolke Richtung Tokio ist die Rede. Bis zum jetzigen Moment ist zwar noch offen, ob ein atomarer Supergau die Zerstörung von Mensch und Natur über Generationen nach sich ziehen wird. Dass die bereits jetzt erreichte Strahlung gefährliche Ausmaße angenommen hat und zu gesundheitlichen Schäden führt, wird indes nicht geleugnet.
Hierzulande schwelte der Konflikt um Atomkraft latent. Jetzt formiert sich bundesweit erneut Protest angesichts der dramatischen Ereignisse an der Nordostküste Japans. Er ist begleitet von Trauer- und Solidaritätsbekundungen. Bei der Atomkatastrophe in Japan, die, ausgelöst durch das Erdbeben, genau sechs Wochen vor dem 25. Jahrestag von Tschernobyl abläuft, handelt es sich nicht um eine Naturkatastrophe. Die Bedrohung durch Nuklearkatastrophen ist auch in Japan menschengemacht – wie überall, wo unter Akzeptanz von Restrisiken auf Atomkraft gesetzt wird.
Dennoch: Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in den ersten zwei Tagen nicht müde zu betonen, dass die deutschen Atomkraftwerke – "nach bestem Kenntnisstand" – sicher seien. Mittlerweile hat die Bundesregierung angesichts der Lage und der Vorwahlkampfzeit ein Moratorium auf die von ihr durchgesetzte Laufzeitverlängerung ausgesprochen. Drei Monate soll dies dauern. Kein Mensch weiß, was danach kommt. Atomkraft, so das im Rahmen der Debatte um die Laufzeitverlängerung immer wieder genannte Argument, sei "Brückentechnologie". Doch Brücke, wohin?
Nicht erst Japan macht deutlich, dass Atomkraft eine Hochrisikotechnologie ist. Abgesehen von der Naturzerstörung bei der Urangewinnung und den regelmäßigen Unfällen bei der Wiederaufbereitung wird vor allem bei den alljährlichen Protesten in Gorleben, ebenso wie angesichts des Debakels im Zusammenhang mit den Endlagerversuchen in Asse, eine ganz andere, gerne verdrängte und verharmloste Kehrseite des Problems deutlich: Jährlich fallen in Deutschland 400 Tonnen atomaren Mülls aus Atomkraftwerken an, obwohl es kein Endlager dafür gibt. Ein unverzüglicher Ausstieg aus der Atomenergienutzung ist das Gebot - nicht erst dieser Stunde.
Dass Atomkraft nicht als Brückentechnologie bezeichnet werden kann, liegt nicht nur an ihrer hohen Risikobehaftung und den nicht sicher entsorgbaren Abfällen, sondern auch an der schlechten Regelbarkeit der Stromgewinnung. Der fortschreitende Ausbau erneuerbarer Energien stellt immer höhere Anforderungen an flexible Regelbarkeit: Ziel ist, Lastspitzen und Lasteinbrüche aufgrund natürlicher Schwankungen ausgleichen zu können. Atomkraftwerke lassen sich nicht flexibel an- und aussschalten und sind damit für den Ausbau der erneuerbaren Energien dysfunktional. Nur was sich schnell und gut regeln lässt, kann auf Dauer eine Brücke in eine saubere Energieversorgung darstellen.
Wer sich jetzt nach parteipolitischen Alternativen umschaut, sollte sich daran erinnern: Der sogenannte Ausstiegskompromiss der rot-grünen Regierung wurde nicht nur sofort von den Energiemonopolisten gebrochen, als diese nach dem Regierungswechsel die Möglichkeit dazu hatten. Bereits als geltender Kompromiss bedeutete der sogenannte Ausstieg aufgrund der langen Ausstiegslaufzeiten sowas wie eine Bestandsgarantie für die Atomkraft in der Bundesrepublik. Eine solche hatte es seitens der Politik unter keiner Regierung zuvor gegeben. Diesen Vereinbarungen haben wir die Konstruktion zu verdanken, die uns bis heute begleitet: die Reststrommengen: "Damals wurde nämlich keine Restlaufzeit in Jahren vereinbart, sondern die Strommenge, die jedes AKW noch erzeugen darf. Ist diese aufgebraucht, endet die Laufzeit. Das Irrsinnige daran: Störanfällige Kraftwerke können, weil sie oft vom Netz sind, länger als bis 2020 Strom produzieren". (ak - analyse & kritik, Nr. 553 vom 17.9.2010, S. 1)
Die formale Bestandsgarantie der rot-grünen Koalition folgt den selben Vorgaben wie die Vereinbarungen zur Laufzeitverlängerung unter schwarz-gelb: Die Bedingungen der energiepolitischen Regierungsfähigkeit diktieren die Energiemonopolisten, für die es keine leistungsfähigeren Profitmaschinen gibt als Atomkraftwerke, deren tödliche Betriebsrisiken sie in die Gesellschaft auslagern. Oder um die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zu zitieren:
"Laufende Atomkraftwerke sind praktisch wie Gelddruckmaschinen, sie werfen im Normalbetrieb gewaltige Gewinne ab. Was davor und danach Kosten verursacht, wird sozialisiert. Forschung und Endlager zahlt der Staat, die Folgen eines Unfalls trägt die Gesellschaft, weil keine Versicherungsgesellschaft der Welt dieses Risiko übernehmen würde." (FAS 13. März 2011, S.59)
Anlässlich des Castor-Transports im vergangenen November schrieben Steffen Kühne, Referent für Nachhaltigkeit bei der RLS, und Lutz Brangsch, Referent für Politische Ökonomie bei der RLS: „Selbst Bedenken aus dem herrschenden Block scheiterten in der Atomfrage an dem Bündnis von Industrie und Teilen der Exekutive." Die einzige Lösung sei die Stärkung direktdemokratischer Verfahren bei Entscheidungen über den Einsatz von Technologien, die so tief in die Existenzfragen jedes einzelnen eingreifen. Dies gilt derzeit mehr denn je.
Nachricht | Sozialökologischer Umbau Die Brücke zum Supergau
Nicht erst die Tragödie in Japan zeigt: Über Atomkraft führt kein Weg ins Zeitalter erneuerbarer Energien. Von Sabine Nuss.