Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Brasilien / Paraguay Mit Fakes und Hass auf Stimmenfang

Zitterpartie bei der Präsidentschaftswahl in Brasilien am 30. Oktober

Information

Autorin

Azadê Peşmen,

Protestschild bei einer Demonstration gegen die Präsidentschaftskandidatur Bolsonaros in in São Paulo am 20. Oktober 2018
«Er lügt in WhatsApp»Protestschild bei einer Demonstration gegen die Präsidentschaftskandidatur Bolsonaros in in São Paulo am 20. Oktober 2018, Foto: picture alliance / REUTERS | NACHO DOCE

Wenige Tage vor der Stichwahl zwischen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und dessen Herausforderer Lula da Silva um das Präsidentenamt schmilzt der Vorsprung des Mitte-Linkspolitikers Lula auf fünf Prozentpunkte. Laut den letzten Umfragen kommt der rechtsextreme Bolsonaro auf 43, Lula auf 48 Prozent. Tatsächlich liegt die Stimmenverteilung wahrscheinlich noch näher beieinander. Denn Bolsonaro-Anhänger*innen verschweigen in Umfragen häufig, dass sie Bolsonaro wählen – aus Scham oder auch, um die Ergebnisse zu verfälschen. Vor diesem Hintergrund kämpfen die beiden sich feindlich gegenüberstehenden Lager mit immer härteren Bandagen. Dabei stehen Desinformation und die Bedrohung von Journalist*innen – und damit auch einer freien und diversen Berichterstattung – sinnbildlich für die Demokratiekrise, in der sich das größte Land Lateinamerikas befindet.

Je knapper die Wahlen sind, desto mehr Falschnachrichten gibt es

Bei der massiven Verbreitung von Fake News handelt es sich nicht um ein neues Phänomen. Der Wahlsieg des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro im Jahr 2018 wird von vielen Analyst*innen auf die manipulative Nutzung von sozialen Netzwerken und die Verbreitung von Falschnachrichten, vor allem über WhatsApp, zurückgeführt. Laut einer Studie haben während des damaligen Wahlkampfs fast 80 Prozent der Bevölkerung WhatsApp als Informationsquelle genutzt. Auch Jair Bolsonaro selbst hatte damals Falschnachrichten verbreitet, unter anderem, dass sein damaliger Kontrahent von der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, «Kit-Gays» in Schulen verteilen würde, eine Art Anleitung zum «homosexuell werden». Dass Fake News auch im gegenwärtigen Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen, liegt für den Wissenschaftler David Nemer auf der Hand: «Je knapper die Wahlen sind, desto mehr Falschnachrichten gibt es».

Kampfansage gegen Fake-News

Während 2018 der Einfluss von Desinformation auf den Wahlkampf für viele noch eine Überraschung darstellte, steuert der Oberste Wahlgerichtshof (TSE) dieses Mal dagegen. Alexandre de Morais, Vorsitzender des TSE, erklärte in seiner Antrittsrede den «digitalen Milizen» den Kampf an. Tatsächlich hat der TSE während des Wahlkampfs häufig Plattformen dazu angehalten, Falschnachrichten oder Videos mit Fehlinformationen zu löschen. Allerdings kommt die Instanz nur schwer gegen die Fülle der Fake News an. Hinzu kommt: Ist eine Falschnachricht einmal online, ist es oft schwierig, die Verbreitung noch aufzuhalten. Vor diesem Hintergrund hat der TSE die Löschfristen sogar noch verkürzt: Zwei Tage vor der Stichwahl am 30. Oktober haben soziale Netzwerke nur noch eine Stunde Zeit um die jeweiligen Inhalte von ihrer Plattform zu nehmen.

Azadê Peşmen ist freie Journalist*in, Gründer*in der Produktionsfirma Qzeng Productions und hat bereits in der Vergangenheit aus Brasilien, der Türkei und dem Irak unter anderem für den Deutschlandfunk berichtet. Derzeit ist Azadê als IJP-Stipendiat*in in São Paulo, außerdem hostet sie Storytelling-Podcasts wie «Deso – der Rapper, der zum IS ging» und den täglichen Nachrichtenpodcast von ZEIT Online «Was jetzt?».

Zumindest eines hat sich in den letzten Jahren geändert: So gut wie jedes Medium hat mittlerweile eine eigene Fact-Checking-Redaktion oder Kolleg*innen, die Inhalte regelmäßig auf ihre Richtigkeit prüfen und die Ergebnisse mitsamt aller Quellen offenlegen. Zudem haben alle großen Plattformen (mit Ausnahme von Twitter) versprochen, in diesem Jahr gegen Falschnachrichten vorzugehen. So hat sich beispielsweise YouTube mit der Kampagne #AntesDoSeuPlay («bevor du auf play klickst») dazu verpflichtet, Videos zu empfehlen, die informative Inhalte von vertrauenswürdigen Quellen beinhalten. Allerdings ist das Gegenteil der Fall. Eine Studie von NetLab, einer Forschungsgruppe der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ) zeigt, dass der Algorithmus von YouTube häufiger Videos anzeigt, die die Kampagne von Jair Bolsonaro unterstützen. Demnach erscheinen den Prototyp-Nutzer*innen am häufigsten Videos von der Sendergruppe «Jovem Pan», einem brasilianischen Fernsehsender, der auch einige Radio- und Streamingprogramme umfasst. Jovem Pan kommt inhaltlich den Fox News nahe und ist bekannt dafür, besonders viele Fake News in die Welt zu setzen.

Schreckgespenst Kommunismus

Die Falschnachrichten, die in diesem Wahlkampf von Jair Bolsonaro, seiner Familie und seinen Anhänger*innen verbreitet werden, zielen in erster Linie darauf ab, Lula mit dem Kommunismus in Verbindung zu bringen. Oswaldo de Menez, ein Anhänger Bolsonaros, erklärt am Rande einer Kundgebung: «Den Menschen hier ist bewusst, dass diese Wahl einer der wichtigsten auf der Welt ist, wegen der Kommunisten in China, Kuba, Nicaragua, die wollen das in Südamerika auch machen und hier die URSAL, die Union der sozialistischen Republiken Südamerikas, etablieren, alles rot, damit der Kommunismus hier dominiert.» Der Begriff «URSAL» ging 2018 während der letzten Präsidentschaftswahlen viral und dient der brasilianischen Rechten als Abschreckungsszenario. Ihr zufolge verfolge die so genannte Union der sozialistischen Republiken Südamerikas das Ziel, die nationale Souveränität all ihrer Mitgliedsländer zu untergraben. Als vermeintlichen Beleg für diese Annahme berufen sie sich auf öffentliche Auftritte Lulas mit dem progressiven chilenischen Präsidenten Boric. Dagegen argumentativ anzukommen ist sehr schwierig, nicht zuletzt, weil Bolsonaro-Anhänger*innen in der Regel der Meinung sind, dass alle Medienhäuser, die Tageszeitung Folha de São Paulo, Radio- und TV-Sender, die dem Verlag Globo angehören und CNN Brasil allesamt «kommunistische Medien» sind, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Bolsonaro schlecht zu machen. Dass manche dieser Medien, abgesehen davon, dass sie alles andere als kommunistisch sind, in der Vergangenheit klar gegen Lula und die PT Partei ergriffen hatten, spielt für sie keine Rolle. Auch der Oberste Wahlgerichtshof (TSE) ist den Bolsonaristas ein Dorn im Auge. Auf Kundgebungen fordern sie dessen Abschaffung, da die Institution nur Entscheidungen treffen würde, die den Präsidentschaftskandidaten Lula bevorteile.

Wie du mir …

Das gegnerische Lager reagiert mit einem zunehmend aggressiveren Ton. Anstatt weiterhin auf politische Inhalte zu fokussieren, ist Lulas Wahlkampfteam zunehmend bemüht darum, möglichst viele diskreditierende Details über Bolsonaro ans Licht zu bringen. Und während nach wie vor das Gros der Falschnachrichten aus dem rechtsextremen Lager rund um Bolsonaro stammt, bedient sich auf den letzten Metern des Wahlkampfs nun auch die Arbeiterpartei PT teilweise der Methoden, die man sonst mit Bolsonaro und seiner Partei in Verbindung bringt. So nutzte die PT in ihrem Wahlkampf einen Videoausschnitt, der impliziert, dass Jair Bolsonaro den Kannibalismus befürwortet und menschliches Fleisch isst – das der Indigenen. Die Sequenz stammt aus einem Interview, das bereits im Jahr 2016 von der New York Times geführt wurde. Für die Wahlkampagne Lulas wurde der Ausschnitt aus dem Kontext gerissen und in sozialen Netzwerken verbreitet. Der TSE stufte das als «Ehrverletzung» ein und ordnete an, das Video nicht mehr zu verwenden und auf den jeweiligen Kanälen zu löschen.

Journalist*innen im Fadenkreuz

Im Unterschied zu Deutschland, wo es auch Journalist*innen gibt, die Morddrohungen erhalten, sind in es in Brasilien nicht nur anonyme Internettrolls, sondern unter anderem der Präsident Bolsonaro, sein Anwalt und seine Söhne, die Journalist*innen angreifen. Bolsonaro ist bekannt dafür gegen Medien im Allgemeinen und gegen Journalist*innen im besonderen Stimmung zu machen. Während des Wahlkampfs hat sich diese Bedrohungslage noch verschärft. Im Fokus stehen vor allem Frauen und trans Personen, die insbesondere dann Angriffen ausgesetzt sind, wenn sie über den aktuellen Wahlkampf berichten. Der brasilianische Verband für investigativen Journalismus (ABRAJI) erhebt regelmäßig Daten über Angriffe auf Journalist*innen: «Wir nehmen wahr, dass die Zahl der Angriffe, die sich gegen Frauen, vor allem Schwarze Frauen richten, immer stärker zunimmt. Dabei handelt es sich nicht nur um einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Sprung» erklärt Katia Brembatti, Vorsitzende von ABRAJI. Allein im Monat September, also in der Hochphase des Präsidentschaftswahlkampfs in Brasilien, zählte die Organisation 28 Angriffe auf Journalist*innen – ein neuer Rekord.

Eingeschränkte Berichterstattung

Die sich aktuell noch verschlimmernde Bedrohungslage gegen Journalist*innen wirkt sich direkt auf die Berichterstattung aus, wie das Beispiel von Juliana Dal Piva zeigt. Die Investigativ-Journalistin hat in diesem Jahr erstmals nicht von dem Wahlkampf auf der Straße berichten können, aus Sicherheitsgründen. Die Familie Bolsonaro hat die Journalistin bereits seit längerer Zeit auf dem Radar. Der Anwalt des brasilianischen Präsidenten, Frederik Wassef, hatte ihr schon in der Vergangenheit Drohungen und Beleidigungen geschickt: «Er hat sich in seinen Nachrichten auf meine Sexualität bezogen, mich ‹Vaterlandsverräterin› genannt und mir vorgeworfen, dass ich mich sehr sicher fühle, in dem Gebäude, in dem ich arbeite, doch, wenn ich auf die Straße gehen würde, sei ich nur eine weitere Person, der man ins Gesicht schießen könne», so Dal Piva. Weiter zugespitzt hat sich die Lage für die Journalistin, als sie kürzlich ihr Buch «O Negócio do Jair» («Das Geschäft von Jair»), das Korruptionsfälle des Präsidenten behandelt, veröffentlichte. Außerdem erschien eine Reportage von ihr, die offenlegt, dass der Jair Bolsonaro und seine Familie 51 Immobilien gekauft – und alle in bar bezahlt haben soll. Der Sohn des Präsidenten, Flávio Bolsonaro, derzeit Senator für den Bundesstaat Rio de Janeiro, versuchte die Veröffentlichung der Reportage zu verhindern, mit dem Ergebnis, dass das brasilianische Nachrichtenportal UOL den Text vorübergehend offline nehmen musste.

Juliana Dal Piva macht sich in erster Linie Sorgen, dass bei einer Wiederwahl Bolsonaros die freie Presse in Gefahr ist, aber sie fürchtet vor allem um die Demokratie des Landes. Denn ähnlich wie in Ungarn bereits geschehen, hat auch Bolsonaro angekündigt, den Obersten Bundesgerichtshof (STF) umzubauen. Doch selbst, wenn Lula gewinnen sollte und sein Amt antreten kann, kann nicht einfach aufgeatmet werden. Denn auf den Straßen und in den Institutionen, auf gesellschaftlicher und politischer Ebene wird der «Bolsonarismus» weiterleben und -wirken. Die Gesellschaft ist zutiefst polarisiert und demokratische Institutionen, darunter der Oberste Wahlgerichtshof oder die Medien, wurden während Bolsonaros Amtszeit in seinen Grundfesten angegriffen und/oder delegitimiert. Damit wird sich die neue Regierung auseinandersetzen müssen. Die Ermöglichung einer unabhängigen und vielfältigen Berichterstattung wird wichtiger Bestandteil dieses langen Weges sein.