Nachricht | Türkei Ein langer Kampf um Selbstbestimmung

Die arabischen Alevit*innen in der Türkei

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Svenja Huck ,

Graffiti in Gedenken an Ali İsmail Korkmaz, Ahmet Atakan und Abdullah Çömert, die während der Gezi-Proteste getötet wurden und aus Antakya kamen. Foto: Svenja Huck

Im Jahr 2023 stehen in der Türkei die Feiern zum 100-Jährigen Jubiläum der Republikgründung an. Häufig hört man dabei die Formulierung, der Vertrag von Lausanne (1923), der nach dem Unabhängigkeitskrieg den Vertrag von Sèvres (1920) ersetzte, habe das Land in seinen heutigen Grenzen festgelegt. Nachdem das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands den Ersten Weltkrieg verloren hatte, sollte das Staatsgebiet zunächst laut dem Vertrag von Sèvres unter mehreren imperialistischen Ländern aufgeteilt werden, bzw. wären Teile Armeniens und Kurdistans geworden. Nur ein anatolischer Rumpf hätte das türkische Staatsgebiet gebildet. Dagegen kämpfte von 1919 bis 1923 die türkische Nationalbewegung unter der Führung von Mustafa Kemal Pascha, später bekannt als Atatürk. Doch eine Region, die heute zum Staatsgebiet gehört, wurde erst 1939 der Türkei angeschlossen.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert sie die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Die Region Hatay im Süden des Landes verbindet eine längere Grenze mit Syrien als mit dem Rest der Türkei. Nach der Gründung der Republik Türkei 1923 gehörte Hatay zunächst weiterhin dem französischen Mandat Syrien an. Der zwischen 1938 und 1939 kurzzeitig existierende Staat Hatay deutete bereits auf die Angliederung der Region an die Türkei hin, welche dann am 29. Juni 1939 vollzogen wurde. Was folgte, war eine umfassende Politik der Türkifizierung während des kemalistischen Einparteienregimes. Zu diesem Zeitpunkt waren nur rund 40 Prozent der Bevölkerung Türk*innen, den Großteil stellten mehrheitlich alevitische, aber auch sunnitische und christliche Araber*innen, sowie elf Prozent Armenier*innen. Viele von ihnen wanderten noch vor dem Anschluss an die Türkei nach Syrien aus, zurück blieb vor allem die Bauernschaft.

Baumwollfelder am Straßenrand auf dem Weg nach Reyhanlı an der syrischen Grenze. Saisonarbeiter*innen sind oft niedrig bezahlte Migrant*innen. Foto: Svenja Huck

Zur ideologischen Festigung des Prinzips «Ein Vaterland, eine Fahne, eine Sprache und ein Volk», auf dem der neue türkische Staat aufgebaut wurde, mussten für die nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen Theorien gefunden werden, die sie zu Angehörigen dieses einen, türkischen Volkes machten. Eine der wichtigsten Institutionen, mit denen die Assimilationspolitik in der Region ideologisch untermauert und anschließend umgesetzt werden sollte, waren die Hars-Komitees (Hars: Osmanisch für Kultivierung, Aussaat, Anbau). Diese Komitees waren der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei) und den Volkshäusern (Halkevleri) untergeordnet. Ausgehend von der Türkischen Geschichtstheorie (Türk Tarih Tezi), die von der Institution für Türkische Geschichte (Türk Tarih Kurumu – TTK)[1] verbreitet wurde, beschrieben die Hars-Komitees zunächst in ihren Publikationen und im Schriftwechsel mit dem Innenministerium die Gemeinsamkeiten der arabischen Alevit*innen mit den Türk*innen. In seiner Schrift «Nusayriler ve Nusayrilik hakkında» (Über Nusairier und das Nusairiertum)[2] von 1938 meinte der Turkologie-Professor Hasan Reşit Tankut anhand des Schädelumfangs arabischer Alevit*innen begründen zu können, dass diese sogenannte «Pseudo-Araber*innen», also arabisierte Türk*innen seien.[3] So sei ihre gemeinsame Abstammung auf die Hethiter*innen zurückzuführen, womit die Kemalisten die Namensgebung der Region begründeten. Der historische Name Antakya wird heute Stück für Stück aus der Öffentlichkeit ausradiert, ihn dennoch zu verwenden, ist ein Zeichen politischen Widerstands gegen die Assimilation.

Die neue Grenzmauer zu Syrien. Baubeginn war 2015. Foto: Svenja Huck

Die Aufgabe der Hars-Komitees war es, die Assimilation voranzutreiben. Die Tatsache, dass im Arabisch der Alevit*innen ebenfalls türkische Wörter auftauchten, sei ein Indiz für deren türkische Abstammung. Im Vordergrund stand von daher die Verbreitung der türkischen Sprache. Den Kindern sollte das Türkische in der Schule «eingeimpft» werden, damit sie es anschließend zu Hause in die Familien tragen. Besonders viel Wert wurde daher auch auf die Bildung von Mädchen gelegt. Neben der großzügigen Finanzierung von Bildungseinrichtungen wurden außerdem Sonderfonds zur Bezuschussung von Eheschließungen zwischen arabisch-alevitischen und türkischen Personen eingerichtet. So schnell wie möglich sollte Arabisch aus dem Alltag verschwinden und durch die «wirkliche» Muttersprache Türkisch ersetzt werden. Bis heute berichten arabischsprachige Alevit*innen in Hatay von der sprachlichen Diskriminierung, die sie als Kinder in der Schule erfahren haben, oder von den Hürden, mit denen ältere Personen in öffentlichen Einrichtungen konfrontiert sind.

Das Alevitentum als Religion, aber auch als Kultur hat eine lange Geschichte der Unterdrückung vonseiten osmanischer Herrscher hinter sich. Besonders brutal ging Sultan Yavuz Selim (1470–1520) gegen die sogenannten Kızılbaş (dt. Rotkopf) vor, wie die Alevit*innen mit abwertender Bedeutung bezeichnet wurden. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan dazu entschied, die dritte Bosporusbrücke nach ebenjenem Sultan zu benennen. Ebenso wenig zufällig ist die Tatsache, dass die Opfer der tödlichen Polizeigewalt während der Gezi-Proteste 2013 Aleviten waren. Nicht nur die historische Unterdrückung der Alevit*innen bringt sie in Opposition zum autoritär-islamistischen Regime der AKP, sondern vor allem deren aktuelle Politik in der Region.

Verkaufsstände auf dem Wochenmarkt im Stadtviertel Defne. Foto: Svenja Huck

Bevor das Assad-Regime die Proteste in Syrien zum Bürgerkrieg eskalieren ließ, war Hatay das Zentrum für den Handel zwischen der Türkei und den arabischen Ländern. Mit der Intensivierung des Konflikts, der Aufkündigung diplomatischer Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus und der Unterstützung islamistischer Gruppen in Syrien durch die türkische Regierung brach der Handel massiv ein, was drastische Folgen für die Bevölkerung Hatays hatte.[4] Jedoch ist die Region vor allem militärisch von besonderer Bedeutung. So wurden die Fernverkehrsstraßen nach Idlib und Afrin für die türkische Armee ausgebaut – während die Lokalbevölkerung über eine miserable Infrastruktur klagt. Die politische Positionierung der AKP-Regierung stellt für die arabisch-alevitische Bevölkerung Hatays ein dringendes Sicherheitsproblem dar, nicht nur aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung. Misstrauisch wird die hohe Anzahl von Geflüchteten betrachtet, die nach offiziellen Zahlen rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Teile der Gesellschaft sehen das Assad-Regime als Schutzmacht der Alevit*innen in der Region, progressive Kräfte setzen ihre Hoffnung auf kurdische Verbündete, die den «Islamischen Staat» im Norden Syriens bekämpfen. In den mehrheitlich arabisch-alevitischen Bezirken Defne, Samandağ und Arsuz erhielt die HDP (Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker) eine überdurchschnittlich starke Unterstützung bei den Wahlen. Die multiethnische Bevölkerung Hatays und die Konflikte, die durch die Assimilationspolitik des türkischen Staates und die Folgen kolonialer Grenzziehung in der Region zutage treten, zeigen einmal mehr, dass die Lösung nicht in der Verstärkung von Grenzen und dem Führen von Kriegen, sondern in der vollen Ankerkennung nationaler, kultureller und religiöser Rechte und der Solidarität zwischen den Unterdrückten liegt.


[1] Die Institution für Türkische Geschichte (Türk Tarih Kurumu – TTK) wurde 1931 auf Anweisung Mustafa Kemals gegründet und besteht bis heute.

[2] Nusairier*innen ist eine ältere Bezeichnung für die arabischen Alevit*innen bzw. Alawit*innen, die heutzutage abwertend von islamistischer Seite verwendet wird, um die Rechtgläubigkeit der Alevit*innen infrage zu stellen.

[3] Hakan Mertcan, Türk modernleşmesinde Arap Aleviler: tarih kimlik siyaset (Adana: Karahan Kitabevi, 2013), S. 191.

[4] Nach Angaben der Türkischen Statistikbehörde TÜIK gingen die Exporte von 1.610 Millionen US-Dollar im Jahr 2011 auf 503 Millionen US-Dollar im Folgejahr zurück.