Nachricht | Geschichte War der Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben 1932 eine Querfront?

Ein Interview

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BVG-Streik 1932: Streikposten der Straßenbahner vor dem Zentral-Straßenbahnhof in der Müllerstrasse in Berlin. CC BY-SA 3.0, Bundesarchiv, Bild 102-13991

Vor 90 Jahren streikten die Angestellten der Berliner Verkehrsbetriebe. Neben Kommunisten und Sozialdemokraten waren auch Nazis beteiligt. Ein Interview mit dem Historiker Ralf Hoffroge.

Wie war das gesellschaftliche Szenario im Herbst des Jahres 1932, und worum ging es bei dem Streik?

Der Streik stand im Kontext der Wirtschaftskrise, die ab 1930 in Deutschland ankam. Die Regierung reagierte mit einer Austeritätspolitik, die die Krise letztlich verschärfte. Eine der Folgen dieser Politik war, dass die Leute sich das Bus- und Bahnfahren nicht mehr leisten konnten und die Berliner Verkehrsbetriebe massive Einnahmeverluste hatten. Die Direktoren dieses damals schon kommunalen Betriebes hatten die Idee, dem Problem mit Lohnabbau zu begegnen. Das wurde fünfmal gemacht, aber bei der sechsten Lohnsenkung kam es zum Streik – die Beschäftigten wollten die Kosten der Krise nicht alleine tragen.

Und war der Arbeitskampf erfolgreich?

Nein, es war eine bittere Niederlage, die Beschäftigten der BVG mussten die Lohnsenkung hinnehmen. Außerdem gab es danach auch noch viele Entlassungen, weil die preußische Regierung den Streik für illegal erklärte. Konkret scheiterte das Ganze an den massiven staatlichen Repressionen, schon vor dem Streik war eine Notverordnung erlassen worden, die Lohnsenkungen erlaubte. Die Weimarer Republik war ja 1930 schon keine Demokratie mehr, der Kanzler ernannte die Reichspräsidenten, die mit Notverordnungen am Parlament vorbeiregierten, auch in Tarifverhandlungen, Löhne und Ähnliches hinein. Damit hatten die Streikenden den ganzen Staatsapparat gegen sich.

Die Reichsregierung wurde zu dem Zeitpunkt nicht mehr von der SPD gestellt, sondern von deutschnationalen Parteien, oder?

Kanzler Franz von Papen regierte Preußen und das Deutsche Reich in Personalunion. Die SPD hatte sich im Juli 1932 mit dem sogenannten Preußenschlag, dem Putsch durch eine ganz kleine Truppe, wegjagen lassen. Preußen bildete 60 Prozent des Deutschen Reiches – da setzen einfach die Militärs den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten ab und es passiert gar nichts! Spätestens dann hätte der Generalstreik gegen die Diktatur in Deutschland erfolgen müssen, denn jetzt hatten die politischen Gegner ja gerochen, dass die Arbeiterbewegung schwach ist, dass die sich selbst ihre reformistischen Positionen wegnehmen lässt.
In Berlin jedenfalls stellte die SPD auch nach dem «Preußenschlag» die Stadtregierung und so streikte die Basis der Sozialdemokratie bei der BVG auch gegen ihre eigene Partei, die saß nämlich mit im Direktorium.

Dr. Ralf Hoffroggeist Historiker und forscht zu den Schwerpunkten Wirtschaftsdemokratie und Geschichte der Gewerkschaften und Arbeiterbewegung. Zurzeit ist er an der Ruhr-Universität Bochum und am Leibniz- Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam tätig; 2017 erschien sein jüngstes Buch«Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich».

Die Fragen stellte Tanja Röckemann (Redaktion nd).

Wenn die Mehrheit der Streikenden zur sozialdemokratischen Basis gehörte, wieso spricht man dann von einer Zusammenarbeit von KPD und Nazis?

Zunächst ist fraglich, ob man das mit dem Wort Zusammenarbeit belegen kann, der Streik hätte so oder so stattgefunden. Die Deutungshoheit hatte die Splittergewerkschaft der KPD, die sogenannte Revolutionäre Gewerkschaftsorganisation, kurz RGO, und die organisierte Versammlungen, aus denen ein Streikkomitee entstand, das aber illegal arbeiten musste. In diesem Streikkomitee wurden Nazis zugelassen, so sie denn gewählt wurden. Die haben dementsprechend auch Streikposten gestanden. Ein Parteibündnis, das die RGO mit der Nationalsozialistischen Pseudogewerkschaft NSBO gebildet hätte, gab es nie. Aber die Kommunisten haben diese Leute im Streikkomitee geduldet, und das war falsch.

Der KPD-Parteivorsitzende Ernst Thälmann hatte allerdings im selben Jahr 1932 die Devise ausgegeben, die Zusammenarbeit mit Nazis sei «notwendig und erwünscht».

Das stimmt. Die Taktik dahinter war, dem Faschismus seine Basis abspenstig zu machen und die «Nazi-Proleten» zu ihren eigentlichen Interessen zurückzuführen. Das hat die KPD zweimal versucht, 1923 und 1932, und beide Male ist das grandios schiefgegangen. Allerdings überhöhten die sozialdemokratischen Quellen schon damals die Beteiligung der Nazis an dem Streik, weil das dazu diente, die politischen Feinde zu diskreditieren. Nach dem Motto: Das ist ein Streik von Nazis und Kommunisten, kein demokratisches Unterfangen. Dabei war die Mehrheit der Streikenden insgesamt parteilos und die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Streikenden gehörte einer sozialdemokratischen Gewerkschaft an. Wer auf die RGO und die NSBO fokussiert, verpasst eine wesentliche Konfliktlinie, nämlich den Kampf innerhalb der Sozialdemokratie.

Die KPD hat sich ja ihrerseits an der Sozialdemokratie abgearbeitet. Die Parteiführung übernahm in den späten 1920er Jahren die sogenannte Sozialfaschismusthese aus der Sowjetunion. Was besagt diese These und wie kam sie im BVG-Streik zum Tragen?

Die Sozialfaschismusthese oder auch Klasse-gegen-Klasse-Politik besagt, dass nicht der Faschismus, sondern die Sozialdemokratie der Hauptfeind der revolutionären Arbeiterklasse sei, weil sie zwar links tut, aber die Arbeiterklasse von der Revolution abhält. Das klingt heute vielleicht abwegig, aber die Sozialdemokratie war damals, nach der Novemberrevolution, in Führungs- und Machtposition gelangt und hatte zum Beispiel die Demonstration am 1. Mai 1929 in Berlin zusammenschießen lassen. Da war die KPD auf der Straße und der Polizeipräsident war Sozialdemokrat.

Und das sind nur zwei Beispiele.

Ja, es gibt noch unzählige andere Fälle, weil es die Taktik der Sozialdemokratie war, eine Reform von oben zu machen, Staatspositionen zu besetzen und eine Art republikanischen Kompromiss hinzubekommen. Aber für einen solchen Kompromiss fehlten der SPD die Bündnispartner, weil die bürgerlichen Parteien die Demokratie nicht verteidigten und sich 1933 gleich selbst auflösten. Diese Taktik scheiterte also und führte dazu, dass sich die Arbeiterbewegungen gegeneinander radikalisierten.

Die SPD hat die Zusammenarbeit mit der KPD in entscheidenden Punkten schlicht verweigert. Aber die Kritik an der Sozialfaschismusthese impliziert, dass es ohne sie einen gemeinsamen Kampf von Sozialdemokraten und Kommunisten definitiv gegeben hätte.

Das stimmt, die SPD hat gemeinsamen Kampf verweigert und immer auf Fehler der KPD gewartet, um dies zu rechtfertigen. Und der BVG-Streik war eben ein solcher Fehler. Allerdings wäre der Streik wahrscheinlich so oder so nicht gewonnen worden, weil er wie gesagt schon nicht mehr unter demokratischen Bedingungen stattfand. Die Sozialfaschismusthese verwischt aber den Unterschied zwischen Feind und Konkurrenz: Die SPD war für die KPD Konkurrenz, aber sie hat nicht Arbeiter auf der Straße totgeschlagen.

Aber sie totschlagen lassen!

Durchaus. Die rechte Sozialdemokratie hat sich, wenn sie Arbeiterunruhen niedergeschlagen hat, des bürgerlichen Staates bedient, man war gewillt, mit Gewalt gegen etwas vorzugehen, das als Aufruhr empfunden wurde. Aber die Nazis haben das mit Dachlatten auf der Straße gemacht, und zwar, weil die Ausrottung des Marxismus und die Vernichtung der Juden ihr programmatisches Ziel waren. Der Sozialdemokratie Faschismus oder eine Nähe dazu zu unterstellen, ist bei allen Grausamkeiten, die passiert sind, sachlich falsch.

Trotzdem sollte man diese Grausamkeiten nicht unter den Tisch fallen lassen.

Nein, sollte man nicht. Aber unter dem Eindruck dieser Eskalation unterschätzte die KPD-Führung, was eine faschistische Machtübernahme tatsächlich bedeuten würde – während die Basis der KPD sehr gut verstand, wer eigentlich Gewalt ausübt in den Arbeitervierteln und wodurch die eigenen Leute bedroht werden.

Mal zurück zu den Stichworten Rechtsstaat und Demokratie: In Deutschland existiert derzeit beides, aber es werden längst nicht alle Arbeitskämpfe gewonnen

Das stimmt, aber es ist ein Unterschied, ob Polizeigewalt direkt gegen Streikende eingesetzt wird oder nicht. Und das ist in der Bundesrepublik tendenziell selten bis gar nicht vorgekommen.

Natürlich macht es einen Unterschied, ob die persönliche Unversehrtheit bedroht ist. Aber man muss nicht immer das noch Schlimmere heranziehen, um ein Problem zu benennen, und die Arbeitskämpfe sind hierzulande schon extrem eingehegt.

Natürlich ist das Streikrecht in Deutschland sehr eingeengt, mit seiner Friedenspflicht, der Unmöglichkeit von Solidaritätsstreiks mit anderen Branchen, wie sie etwa in Großbritannien lange üblich waren, oder auch der Schwierigkeit, dass politische Streiks in irgendeiner Form sofort Schadensersatzansprüche auslösen. Aber das ist eben alles auch deshalb so, weil sich die Gewerkschaften mit den Vorteilen eines sozialpartnerschaftlichen Rahmens arrangiert haben.

Dabei ist doch schon die Prämisse falsch, dass Kapital und Arbeit ihre faktisch widersprüchlichen Interessen einfach auf Augenhöhe in einem kapitalistisch organisierten Nationalstaat verhandeln könnten. Das kann niemals wirklich im Sinne der Arbeiterschaft ausgehen.

Langfristig bleiben die Produktionsmittel so in der Hand des Kapitals, es ändert sich nichts an der Grundkonstellation. Man muss aber auch sehen, welche materiellen Angebote den Arbeitenden gemacht wurden, damit diese Sozialpartnerschaft funktioniert – und an welchen Punkten das eben brüchig war und konfrontative Politik oder sozialistische Forderungen plausibel wurden.

Warum schließen sich die Leute nicht gerade dann militanter zusammen, wenn es ihnen schlechter geht?

Na ja, eine Krise kann individualisieren und spalten. 1932 hatte man zum Beispiel bei der BVG gedacht, die sechste Lohnkürzung würde hingenommen, weil es das Versprechen gab, dass die Stammbelegschaft nicht entlassen wird. Diese Spaltung zwischen Stammbelegschaft und jüngst Angeheuerten gibt es heute in jedem Betrieb, auch die heutige BVG hat zig verschiedene Lohngruppen und Arbeitsverträge.

Wäre es nicht sinnvoller, als Bewegung die Eigentumsfrage zu stellen und damit auch Leute einzubeziehen, die nicht lohnabhängig beschäftigt sind?

Am Ende braucht es beides: ein radikalisiertes Angebot und eine strategische Bündnisfähigkeit. Und die KPD war 1932 zu beidem nicht in der Lage, erstens aufgrund von Selbstradikalisierung, zweitens wegen falscher Bürgerkriegsrhetorik, die Politik letztlich mit militärischen Kämpfen verwechselte und drittens aufgrund der Stalinisierung der Partei, die nur noch Vorgaben der KPdSU folgte.

Um abschließend noch mal den Bogen zu schlagen: Diese propagandistische Deutung des BVG-Streiks als Beispiel für eine vermeintliche Querfrontstrategie, existiert die immer noch?

Ja, dieser Streik von 1932 soll die sogenannte Totalitarismustheorie belegen, derzufolge Nazis und Kommunisten als Extreme von rechts und links, also eine Art Hufeisen, die Weimarer Demokratie zerstört hätten. Dabei wurden viele KPD-Mitglieder der Streikleitung in KZ ermordet, und auch aus den erbitterten Straßenkämpfen zwischen Nazis und Kommunisten lässt sich kein Bündnis ablesen. Die Nazis wurden 1932 im Streik toleriert, weil man sie unterschätzt hat – den Fehler sollten Linke nie wieder machen.

Erstveröffentlichung nd. Die Woche 4./5. November 2022.