Die Geschichte ist scheinbar einfach zu erzählen: sie beginnt mit dem ersten serbischen Privatisierungsgesetz von 1989. Um der damals drohenden Inflation zu begegnen, wurde es maßgeblich mitbestimmt und erlassen vom letzten Premierminister des jugoslawischen Staates. Das Gesetz sah vor, dass die Betriebs-Räte, höchste Entscheidungsgremien der Betriebe „in gesellschaftlichem Eigentum“, wie die Formel für die Besitzverhältnisse im jugoslawischen Selbstverwaltungssystem hieß, als letzte Instanz über die Privatisierung bestimmen.
Slobodan Milošević nutzte die ökonomische Krise der 90er Jahre und annullierte das Gesetz kurzerhand. Mit Unterstützung der sich damals in der Opposition befindlichen, jetzt regierenden Demokratischen Partei wurde 1995 ein neues Gesetz erlassen, welches die Möglichkeit der Arbeiter_innen, Aktien ihres eigenen Unternehmens zu erwerben stark einschränkte.
Ein zweites Privatisierungsgesetz von 1997 schrieb diese Entwicklung fest. Dreißig Prozent der Aktien eines Unternehmens gehen an den Staat, die restlichen siebzig teilen sich in 35 Prozent für externe und 35 Prozent für interne Investoren.
2001, nach dem Sturz Miloševićs wurde das Privatisierungsgesetz erneut nivelliert. Jetzt konnten 70 Prozent an private Investoren gehen und lediglich der Rest wurde der Belegschaft zum Kauf angeboten. Die Realität hinter den Zahlen: die Belegschaft rutscht ans Ende der potenziell Kaufinteressierten und das ehemalige Recht auf Mitbestimmung der Arbeiter_innen ging mit dieser Rechnung gänzlich verloren. Für die meisten Betriebe und ihre Angestellten hieß das Ausverkauf, Bankrott, Arbeitslosigkeit. Für den Staat – Privatisierung abgeschlossen – Geschichte zu Ende.
Aber es gibt Menschen, die dafür kämpfen, dass die Geschichte weiter geht und anders erzählt werden kann. Davon handelt das nun vorliegende Buch „Deindustrialisierung und Arbeiterwiderstand – Kämpfe und Initiativen zum Erhalt von Arbeitsplätzen während der Transition“, herausgegeben von der serbischen NGO Pokret za Slobodu (Bewegung für die Freiheit).
Das Buch zeichnet die Protestbewegungen seit den 2000er Jahren der einzelnen Betriebsbelegschaften und deren Unterstützer nach. Es werden sieben Beispiele untersucht, in denen die Belegschaften in unterschiedlicher Art und Weise die komplette Privatisierung zu verhindern und ihren jeweiligen Betrieb sowie die Arbeitsplätze zu erhalten versuchten. Eine Zäsur innerhalb des Protestes vollzog sich laut Ivan Zlatić von Pokret za slobodu im Jahr 2009. Zlatić – der auch Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde der serbischen Regierung ist – stellt einen Wechsel von der zunächst allgemeinen Akzeptanz des Gesetzes hin zu der Erkenntnis fest, dass das Interesse der Belegschaften wieder mehr in den Vordergrund rücken und die neoliberale Kapitalisierung gestoppt werden muss. Als erfolgreichstes Modell gelungenen Widerstandes gilt dabei Jugoremedija – ein Arzneimittelhersteller in Zrenjanin (Nordserbien). Der Belegschaft gelang es nach einem langen Arbeitskampf, den Betrieb mit einer Form von Belegschaftsaktien in den Händen der Beschäftigten zu behalten.
Das Buch ist keine wissenschaftliche Darstellung und auch kein zusammenhängender Bericht, sondern setzt sich vielmehr aus einzelnen Bausteinen zusammen, die versuchen ein relativ komplettes Bild zu zeichnen. Die Texte sind einerseits Mitschriften von Interviews mit den Protagonisten der Proteste (so unter anderem mit Zdravko Deurić, der von der Belegschaft Jugoremedia’s gewählte Direktor und Vorsitzende des Verwaltungsrates von über 4000 Kleinaktionären), sowie Einschätzungen von Beobachtern (u.a. von Nebojša Popov, bekannter Soziologe und Herausgeber der Zeitschrift „Republika“). Es gibt Beschreibungen der Proteste der einzelnen Firmen, Mitteilungen der Belegschaften aus den einzelnen Phasen des Protestes, einen offenen Brief an die Regierung, der auch von Noam Chomsky unterschrieben wurde, und weitere Dokumente, die ein anschauliches Bild vermitteln, wie sich der Widerstand formiert hat. Das birgt einerseits einige Redundanzen in sich, wirkt aber andererseits authentisch. Ein tabellarischer Überblick der Ereignisse und deren Ergebnisse würden der wenig bis gar nicht mit der Materie vertrauten Leserschaft das Verständnis erleichtern und einige Fotos könnten die Brisanz des Themas unterstützen. So ist man etwas erschlagen von den 372 Seiten eng gefassten Textes.
Für alle, die nicht der jugoslawischen Sprache mächtig sind, ist die englische Summary eine gute Zusammenfassung. Die spannende Frage, wie die Zukunft dieser neuen Bewegung aussieht, bleibt unbeantwortet. Aber die Herausgeber_innen formulieren die eigentliche Kernbotschaft des Buches bereits im Vorwort: Widerstand ist wichtig und notwendig – nicht immer und überall, sondern hier und jetzt.
Das Buch kann im Netz unter http://pokret.net/deindustrijalizacija.pdf heruntergeladen werden.
Rezension: Dorit Riethmüller, RLS Berlin
Foto: Pokret za slobodu